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Ins Blaue hinein
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Ebook294 pages4 hours

Ins Blaue hinein

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About this ebook

Inhaltsangabe:

Intro
Radwandern, mein Lebenstraum.

Kapitel 1
Die Verwirklichung der ersten Reise, von zu Hause aus (Niederkrüchten-Elmpt an der niederländischen Grenze) bis an die Ostsee, bei der sich mein Mann am zweiten Tag hochkant mit dem Rad überschlug, wir einen Förster kennenlernen mussten, Gewitter im Nacken hatten, überraschend pittoreske Orte entdeckten, und während der elftägigen Tour nicht immer genau wussten, wo wir gerade waren.

Kapitel 2
Was bis zur nächsten großen Reise geschah.

Kapitel 3
Eine dreiwöchige Radreise durch den Süden Sardiniens, in dem ich von vielen überraschenden Ereignissen und Begegnungen mit Sarden, von der Frühlingsblütenfülle und zauberhaften Landschaften, den Überresten des Altertums und dem Besuch bei sardischen Freunden erzähle.

Kapitel 4
Die dritte Reise geht nach Norwegen, der rauen Schönheit mit ihren Wetterkapriolen, den Stabkirchen, sympathischen Menschen und den Geistwesen, die scheinbar doch nicht immer das Licht scheuen und zu Streichen aufgelegt sind.
Dort radelten wir von Süden her das Numedal bis zur Hardangervidda hinauf und durch das Hallingdal über die Märchenstraße wieder zurück.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateJun 18, 2017
ISBN9783943360707
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    Book preview

    Ins Blaue hinein - Gerlinde Helgers

    Dieter!

    Vorwort

    uch wenn irgendwann in unserem Leben die meiste Zeit einfach zum Alltag geworden ist und wir uns immer wieder neu damit arrangieren, bleiben uns doch unsere Lebensträume und Wünsche erhalten.

    Manchmal tauchen sie unvermittelt auf, während wir in der Kaffeepause aus dem Fenster schauen, manchmal auch in einem Traum, von dem am Morgen nur ein diffuser Schemen übrig bleibt, oder sie flammen überraschend als Körpergefühl auf, ausgelöst durch einen Duft, eine Melodie, einen Namen, eine Begegnung.

    Auch ich hatte eine Begegnung, die sich aber über viele Jahre hinweg meiner Erinnerung entzog; es war nicht die Zeit mich zu erinnern.

    Und ich hatte einen Kindheitstraum; auch dieser musste über Jahrzehnte einfach warten.

    Erst als meine Kinder begannen ihre eigenen Wege zu gehen, durfte die Erinnerung an eine Radreise in mir aufsteigen. Und nach vielen Radreise-Erlebnissen erfülle ich mir jetzt mit diesem Buch meinen Kindheitstraum.

    Doch bevor ich zu erzählen beginne, einen Blick zurück auf das Jahr 1983.

    Im August 1983 machte ich mit meinem Mann und unseren drei Kindern an der Ostsee Urlaub. Unsere fünf Räder waren auf dem Autodach mitgereist. Zu Hause schon ein wichtiges Fortbewegungsmittel waren sie während der Ferien unentbehrlich, um auf schmalen Wegen die Landschaft entlang der Küste zu erkunden.

    Die Vermieterin unserer Ferienwohnung erwartete ihren Mann und den halbwüchsigen Sohn von einem Radurlaub zurück. Die beiden waren von Basel aus den Rhein entlang und dann quer durch das Land bis nach Dänisch-Nienhof an der Ostsee unterwegs und kamen eines Abends fröhlich rufend zu Hause an. Sie hatten viel zu erzählen und wir verbrachten einige Abendstunden miteinander auf der Terrasse.

    Ich erinnere mich heute nicht mehr daran, wie viele Tage die beiden unterwegs gewesen waren, ob sie die Strampelei manchmal satthatten, ob es Radpannen gab oder Probleme mit den Übernachtungen.

    Ich erinnere mich auch nicht an die genaue Kilometerzahl, aber ich weiß, dass ich diese Radreise beachtlich fand. Das war weit ab von unseren Familien-Radtouren während des Urlaubs oder in unserem heimischen Naturpark, die uns immer viel Freude gemacht hatten (Regen und Sandpisten ausgenommen).

    Woran ich mich aber genau erinnere, ist die Ausstrahlung, die Energie, das Leuchten in den Augen und die überschäumende Freude diese Tour gemacht zu haben.

    Das Samenkorn meines Lebenstraumes von zu Hause aus an die Ostsee zu radeln wurde damals gelegt, und im Frühjahr 1996 begann es zu keimen, zu wachsen und erblühte in der Planungsphase zu einer großartigen und einmaligen Reise.

    Auf dem Rad meiner Mutter lernte ich fahren. Es war für mich mit neun Jahren viel zu groß, Aufsteigen und Balancieren brauchten einige Versuche, aber alsbald sauste ich schnell wie der Wind durch unser Wohngebiet. Und bis heute ist Fahrradfahren für mich mit dem Gefühl der Freiheit verbunden.

    Mein erstes eigenes Rad war ein rustikales altmodisches Damenrad, gebraucht und in Ockergelb angepinselt, meiner damaligen Lieblingsfarbe. Das nächste war ein (leider) pflegeintensives Dreigangrad, mit dem ich mir während meiner Ausbildungszeit das Geld für den Bus sparte. Diesem folgte einige Jahre später ein stabiles Hollandrad, auf dem dann ein Kindersitz klemmte. Und als meine Kinder dann selbst radelten, fuhr ich auf einem sportlichen Fünfgangrad. Es war auch auf der ersten Radreise von Elmpt bis zur Ostsee dabei.

    Mit zunehmender Begeisterung wurde es Zeit für ein reisetaugliches Rad mit drei mal sieben Gängen, Halterungen für regendichte Packtaschen und atmungsaktiver Radbekleidung.

    Und seit dem Sommer 2005 fahre ich mein ultimatives Lieblingsrad in perfekter Größe und mit perfekter Schaltung. Es wurde nach Dieters intensiver Recherche und mit bester Beratung zusammengebaut, und es passt ganz genau zu mir. Seit zwei Jahren ist es nun zusätzlich mit einer Elektrounterstützung ausgerüstet.

    Viele meiner Erlebnisse und Reisen sind mit dem Fahrradfahren verbunden. In diesem Buch will ich von drei Radreisen erzählen, die ich mit Dieter zusammen gemacht habe, der auch leidenschaftlich gerne radelt.

    Unser erstes Date hatten wir übrigens per Rad im Sommer vor mehr als vierzig Jahren. Ich mit meinem ockerfarbenen altmodischen Damenrad, er mit einem alten Herrenrad. Wir fuhren von Willich-Schiefbahn zum Kaarster Baggersee, wo schwimmen ausdrücklich verboten war und bei Badewetter die Autos den Straßenrand über Hunderte von Metern säumten...

    Kapitel 1

    ... auch ein Anfang ...

    ass ihr das so einfach macht, losfahren, kein Zimmer vorbuchen und mit dem ganzen Gepäck auf dem Rad, irgendwo das Zelt hinstellen und keine Dusche... nee, das kann ich mir nicht vorstellen, das wär nichts für mich."

    Ich schmunzele, zucke die Schultern und antworte auf solche Bedenken: „Tja, einfach mal machen, ausprobieren, anschließend weißt du mehr."

    Dann erklärte ich, dass wir natürlich nicht mit Radtouren von mehreren Hundert Kilometern angefangen haben, und dass sich das Gespür erst entwickeln musste, wo wir unser Zelt einfach mal so hinstellen können.

    Und, dass meine ersten Nächte irgendwo im Freien dann recht schlaflos waren.

    Zur Ruhe legen konnte ich mich, aber sobald ich Dieters gleichmäßiges Atmen vernahm, klickte mein evolutionäres Gedächtnis in den Modus ›Highest Level‹ und posaunte durch mein Hirn:

    „Einer muss Wache halten! Wache halten! Gerlinde, Wache halten!" Augenblicklich war jegliche Müdigkeit entschwunden und ich horchte in die nächtliche Welt hinaus. Erst mit dem Vogelgezwitscher im Morgengrauen fiel ich für zwei, drei Stunden in den Tiefschlaf.

    Nach und nach lernte ich die Geräusche zuzuordnen: das Rascheln und Fiepen der Mäuse, die hurtigen Hoppler der Kaninchen, das Wispern der Blätter in der leichten Brise, das Rauschen in den Baumkronen bei starkem Wind und das streichende Geräusch der Gräser am Außenzelt. Selbst eine Nachtbesucherin, die sich laut schnüffelnd unserem Zelt näherte, machte mir keine Angst mehr. Der Geruch unserer Zuckerdose war für eine Bisamratte äußerst anziehend gewesen, aber hinter der Zeltplane leider unerreichbar. Vermutlich sehr frustriert zog sie nach einigen Zeltumrundungen ab.

    Die bisher größten Wesen, die uns aufweckten und dann auch tatsächlich sehr erschreckten, waren neugierige Kühe, die vor Sonnenaufgang unser taunasses Zelt abschleckten.

    Mittlerweile sind wir zu nachtschlafender Zeit beide entspannt – ich und auch mein steinzeitliches Gedächtnis.

    Die Touren im Münsterland mit ein oder zwei Übernachtungen waren für uns der Einstieg in das Radreisen. In den ersten Jahren radelten unsere Kinder mit. Deshalb wählten wir die Runden so, dass wir am Abend wieder den Campingplatz erreichten, auf dem unsere beiden kleinen Zelte und das Auto standen.

    Unsere Siebensachen packten wir erst mit auf das Fahrrad, sobald Dieter und ich alleine fuhren. Wir lebten dann zwei Tage lang unbeschwert unsere große Freiheit mit dem Gedanken: Schau’n wir mal, was der Tag und Abend uns Schönes bringen wird.

    Die Leidenschaft für diese Art des Reisens wuchs und damit auch die Erinnerung an die beiden Radler aus Dänisch-Nienhof.

    Ich wollte die Reise gerne von zu Hause aus starten, statt nach Hause zurückzukehren. Einfach losfahren und am Abend nicht wieder zurückkommen, immer weiterfahren und weiterfahren, - und im Sommer 1996 sollte mein Wunsch Wirklichkeit werden.

    Unsere Ausstattung bestand damals aus einfachen und absolut nicht regendichten Packtaschen. Da kam als Innenschutz einfach ein blauer Plastiksack hinein. Und falls es wider Erwarten doch regnen sollte, hatten wir weitere Plastiksäcke dabei, um sie zusätzlich noch von außen darüber zu ziehen. Unser Iglu-Zelt hatte ganz bestimmt keine 1500 mm Wassersäule, geschweige denn eine Bodendichtigkeit für Dauerregen. Aber es hatte ein moskitodichtes Innenzelt, und es ließ sich schnell und einfach auf- und abbauen. Es war auch nicht gefällig in natur- und tarnfarbenem Grün gehalten, sondern in dezentem Mittelgrau mit einem Eingangsbereich in Signalrot und Weiß. Dieter und ich hatten auch keinerlei atmungsaktive Funktionsbekleidung, sondern einfach nur T-Shirts, Trainings-anzug, Regenjacke und Sportschuhe. Und meine Radhosen aus Stretch hatten so viel mit einer Radhose in heutiger Qualität zu tun wie eine Caprihose mit gleichnamiger Insel.

    Wir wollten die Ostsee gerne erreichen, jedoch nicht zwanghaft unter allen Umständen! Es gab ja einige Einflussmöglichkeiten, die unseren Plan durchkreuzen konnten: Wie wird es mit der Kondition aussehen? Länger als drei Tage waren wir noch nicht am Stück geradelt. Würden unsere Räder auf dieser langen Strecke ohne größere Pannen bleiben? Würde ich den Anstieg auf das Tecklenburger Land hinauf schaffen? Wie würde sich das Wetter entwickeln? Der Sommer war bisher unbeständig und regenreich gewesen; wir waren bisher nur bei stabilem sonnigem Wetter geradelt.

    Aber bei allen Fragen und Befürchtungen stand an erster Stelle: Wir wollten Freude an unserer Reise haben und immer genügend Zeit für Pausen und Betrachtungen am Wegesrand.

    Es geht los!

    Samstagmorgen, den 17. August 1996

    Dieter und ich treten fröhlich in die Pedale. Wir freuen uns unbändig auf ein Reiseabenteuer von etwa 700 Kilometern, für das wir 12 Tage veranschlagt haben, eine Fahrt von Elmpt nach Lübeck, und wenn es klappt, noch über den Priwall, die kleine Halbinsel vor Travemünde, nach Mecklenburg-Vorpommern hinein an die Ostsee.

    Die Streckenvorlage ist aus dem Buch: KOMPASS Rad-Fernwandertouren Deutschland 3, Ausgabe 1995, vom Rhein zur Ostsee.

    Es ist eine Reise vor dem digitalen Zeitalter, d.h. ohne Navigationssystem, nur mit diesem kleinen Buch und dazu gehörigem Kartenausschnitt sowie den Radwanderkarten vom Niederrhein und dem Münsterland. Und es ist die Zeit, in der nur Rennradprofis Helme tragen.

    Die Sonne strahlt vom blauen Himmel herab, und wir strahlen mit ihr um die Wette. Die erste ausgiebige Pause machen wir auf dem Marktplatz in Aldekerk mit einem großen Eisbecher. Ich nehme nur Schokolade, es ist mein Lieblingseis. Und ich werde unsere späteren Radreisen auch deshalb lieben, weil ich dann Unmengen davon genießen kann.

    Unsere bepackten Räder lehnen an einer niedrigen Mauer. Wir fallen damit auf und werden gefragt, wo wir denn herkämen und wo wir hinwollten. Voller Begeisterung beantworten wir die Fragen und erhalten dafür anerkennendes Nicken und die besten Wünsche für eine gute Fahrt.

    Am frühen Abend erreichen wir den Rhein bei Xanten. Auf der Terrasse zum alten Fährhaus gibt es noch einen freien Tisch. Wir freuen uns auf ein leckeres Essen und ein großes Bier. Die schöne Aussicht auf den Rhein gibt es obendrein. Ab und zu schauen wir zu unseren Fahrrädern hinüber und sind stolz und fröhlich, dass uns der erste Tag so wunderbar gelungen ist. Für die Übernachtung haben wir zuvor schon ein Maisfeld ausgemacht, das gut über einen Feldweg zu erreichen ist. Wir müssen nur wenige Kilometer vom Fähranleger zurück radeln und können morgen gleich die erste Fähre nehmen.

    Sonntag, 18. August

    Unser Zelt steht auf dem Feldweg vor dem Maisfeld. Ich ziehe den Reißverschluss auf und schiebe die Zeltplane zurück. Die Sonne wärmt schon und die Lerchen trällern ihr Lied über dem Feld. Ich krieche aus dem Zelt, gähne und strecke mich. In meinem Rücken ziehen winzige Männlein mit aller Kraft an meinen Wirbelkörpern und wollen nicht locker lassen.

    Eine Isomatte mit Komfortluftpolster von drei Zentimetern hat offensichtlich spürbar auch ihre Grenzen. Aber ich bin guter Dinge, dass ich mich an sie gewöhnen werde.

    Unsere erste Übernachtung war von nichts und niemandem gestört worden. Ein guter Auftakt. Dieter breitet die Picknickdecke vor dem Zelt aus und wir frühstücken. Ich bin vor lauter Freude auf den heutigen Radeltag ganz zappelig, denn wir werden bei Borken auf den Radfernwanderweg nach Lübeck stoßen, der in unserem Buch beschrieben ist. Endlich selbst dort auf diesem Weg zu fahren und all das zu sehen, was ich so oft im Radreisebuch gelesen hatte.

    Das ist so toll, so unbeschreiblich toll!

    Die erste Fähre über den Rhein wird laut Plan um zehn Uhr ablegen. So haben wir genügend Zeit, um zusammenzupacken und die wenigen Kilometer bis zum Fähranleger zu fahren. Blauer Himmel, eine leichte frische Brise von Osten, welch ein herrlicher Morgen.

    Pünktlich geht es über den Rhein und wir legen am anderen Ufer an. Die Räder rollen fast von selbst die leicht abschüssige menschen- und autoleere Straße hinunter. Es ist Sonntagmorgen in einem kleinen rechtsrheinischen Ort. Die Filmmusik ›Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung‹ passt für mich gerade ganz genau! Ich trete begeistert in die Pedale und komme locker auf Geschwindigkeit. Es ist zum Jauchzen, aber ich zügele mich, denn die Leute schlafen vielleicht noch, als mich ein lautes Krachen zusammenfahren lässt. Ich schaue über die Schulter zurück und sehe mit Entsetzen, wie sich Dieter mit seinem Fahrrad hochkant überschlägt und hart auf dem Asphalt landet.

    Ich springe vom Rad, lehne es am nächsten Vorgartenmäuerchen an und spurte die wenigen Meter zurück. Mein Herz steckt in meinem Hals, meine Gedanken wirbeln: Fenster auf, Leute raus, ein Krankenwagen muss her, Dieter ist schwer verletzt!

    Aber noch bevor ich ihn erreiche, rappelt er sich zu meiner Überraschung auf und schimpft in voller Lautstärke: „Guck’ dir das an! Ein neues Fahrrad und schon kaputt. Das gibt’s doch nicht! So ein Murks!"

    „Dieter, hast du Schmerzen? Tut dir was weh?"

    Aus der breiten Schramme an seiner Schulter treten Blutstropfen heraus. Aber Dieter reagiert gar nicht auf mich, sondern umkreist das Rad und schimpft und zetert immer weiter: „Das soll Qualität sein? Totaler Mist, Dreck! Das Schutzblech, guck’ mal! Und da die Gabel, ganz krumm! Was da alles jetzt kaputt ist! Und das bloß von diesem blöden Loch da!" Er zeigt auf den Straßenschaden, der eigentlich kaum der Rede wert ist.

    Ich bin unschlüssig, was ich von Dieters Reaktion halten soll. Falls er unter Schock stehen sollte, würde er die Schmerzen nicht sofort spüren.

    Gerade will ich ihn wieder ansprechen, als auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto anhält. Der Fahrer steigt schnell aus und kommt zu uns herübergelaufen.

    „Sind sie verletzt? Ich habe den Sturz gesehen. Sah schlimm aus. Brauchen sie einen Krankenwagen?"

    Aber Dieter reagiert auch diesmal nicht auf die Fragen, sondern zeigt dem Mann erzürnt sein Fahrrad: „Schau’n Sie sich das mal an. Die Vorderradgabel, wie die aussieht, total eingeknickt, das Schutzblech total verbogen und der Lenker! Das ist ein neues Fahrrad! Können Sie sich das vorstellen? Das habe ich mir extra neu gekauft! Man muss doch mal über einen Hubbel, eine Kante fahren können, oder?"

    Der Autofahrer schaut mich hilflos an und zuckt mit den Schultern.

    „Scheint nichts Schlimmes passiert zu sein, sage ich, „und vielen Dank, dass sie uns helfen wollten.

    Der Mann wünscht uns alles Gute und verabschiedet sich.

    Ist ja tatsächlich noch mal gut gegangen. Dieter hat nur einige Schrammen an der Schulter, am Kinn und am Knie. Ich bin sehr erleichtert und froh darüber. Nur schade, dass die Radreise nun schon zu Ende ist. Es sollte wohl nicht sein, tröste ich mich, wir können die Tour im nächsten Sommer ja nochmals starten. Wichtig ist, dass Dieter keine schweren Verletzungen hat!

    Wenige Kilometer entfernt leben Freunde, die ich um Hilfe bitten werde, damit wir die Heimreise antreten können. Irgendjemand auf dieser Straße wird mich sicherlich telefonieren lassen.

    Aber mitnichten! Dieter wischt dieses Ansinnen mit einer Handbewegung weg und schaut mich mit großen Augen an:

    „Wieso sollen wir denn nicht weiterfahren? Doch nicht deswegen, und zeigt auf sein Fahrrad, „das kriege ich schon wieder hin!

    Dann schaut er sich das flache, breite Schlagloch auf der Straße von allen Seiten an, die hinterlassene Bremsspur und analysiert die Ursache:

    „Das hat einen ordentlichen Schlag gegeben, als ich durchgefahren bin. Die Vordergabel hat das nicht verkraftet und ist eingeknickt, so ein labberiger Mist! Tja, dabei hat’s sofort die Bremsen angezogen und das Vorderrad mit einem Schlag blockiert. Da fliegste natürlich..."

    Und ganz pragmatisch folgt nach weiterem kritischen Blick: „Na, dann mal ans Werk."

    „Aber erst versorgen wir deine Schrammen", mahne ich und hole die kleine Verbandstasche aus meiner Packtasche.

    Anschließend dreht Dieter den Fahrradlenker gerade, biegt das Schutzblech zurecht und gibt der Bremse mehr Zugseil. Und nachdem er die Funktion der Vorderradbremse überprüft hat, fahren wir, glücklicherweise langsam, weiter. Denn nach einigen Hundert Metern kommt es beinahe zu einem erneuten Sturz, weil die Bremse immer noch unter Spannung steht und wieder komplett blockiert hatte. Dieter kann sich grade noch aufrecht halten.

    Also muss das Vorderrad entlastet werden. Die Radtaschen werden abgepackt und der Inhalt umgepackt. Es dürfen nur noch leichte Sachen in die Vorderradtaschen. Dann wird die Bremse kurzerhand komplett demontiert, die Radgabel mit Muskelkraft so weit als möglich gestreckt und nach Tests auf Stabilität - Dieter ruckelt mit dem Vorderrad und dreht Achten auf der Straße - geht die Fahrt weiter.

    Wie aber soll das gehen, denke ich und bin tief besorgt. So eine lange Radreise ohne Vorderradbremse? Immerhin wollen wir über das Tecklenburger Land mit einer Höhe von 235 Metern.

    Ich amüsiere mich heute noch über diese Höhenmeter, die mir solch schwere Gedanken machten. Aber 235 Meter Höhe zu erklimmen war damals eine Herausforderung. Wir waren eben ganz am Anfang unserer Bergerfahrungen und Passhöhen von über 1000 Metern würden wir erst einige Jahre später erradeln.

    An diesem Tag erreichen wir das Tecklenburger Land noch nicht, aber den Fernradwanderweg bei Borken. Wir kreuzen ihn am Nachmittag, nur leider nicht auf einer Ebene. Er befindet sich einige Meter unter uns und ist von der Straßenbrücke aus, die ihn überspannt, wunderbar anzuschauen.

    „Ja wie toll, super!"

    Kartenmaterial hat seine Tücken schon mal im Detail, wenn sich zwei Linien, nämlich Straße und Radwanderweg, einfach nur kreuzen. Wir schauen den Grashang hinunter: viel zu steil, und eine Abfahrtmöglichkeit von der Straße aus ist weit und breit nicht zu sehen.

    Dieter lehnt sein Rad an das Geländer und geht einige Meter weiter: „Da gibt’s eine Möglichkeit, wetten?!" Und er entdeckt hinter der Leitplanke im hohen Gras die schmale, steile Treppe hinab, die laut Schild nur für Dienstpersonal gedacht ist. Aber wen interessiert das denn jetzt?

    Die großen Bags und Packtaschen tragen wir zuerst hinunter, dann zu zweit die Räder. Dieter packt vorne und ich hinten an. Und nach gemeinsamem Schleppen und Schwitzen rollen wir bald fröhlich die ersten Meter auf dem Fernradwanderweg Richtung Lübeck.

    Am frühen Abend beginnt die Suche nach einem Übernachtungsplatz, denn einen Campingplatz gibt es nicht. Wir fahren langsam durch ein Waldgebiet westlich von Borken, lugen immer wieder in den Wald hinein und entdecken einen vielversprechenden Trampelpfad.

    Nachdem wir uns vergewissert haben, dass uns niemand beobachtet, verschwinden wir zwischen den Bäumen. Nach kaum Hundert Metern erreichen wir den Waldsaum, der einen weiten Bogen bildet. Vor uns liegt ein Maisfeld.

    Sehr schön, hier haben wir Sichtschutz zu allen Seiten. Und am Morgen wird die Sonne genau über dem Feld aufgehen. Genial angetroffen!

    Wir stellen unser Zelt auf dem laubbedeckten, weichen Waldboden auf und richten uns darin ein. Anschließend unternimmt Dieter nochmals eine Vorderradgabelstreckaktion. Er legt sich mit dem Fahrrad auf den Waldboden, hält den oberen Teil der Gabel mit den Händen umklammert und stemmt die Füße in den verbogenen Mittelteil. Erfolgreich verlängert sich die Gabel um etwa drei Zentimeter. Aber die Vorderradbremse wird dennoch nicht wieder montiert. Das ist zu heikel.

    Die Abendtoilette wird erneut mit minimalem Wasserverbrauch gemeistert, wobei sich Babywaschlotion bestens bewährt. Danach liegen wir wie die alten Römer auf der Picknickdecke und essen zufrieden unser Abendbrot: dunkles Brot mit Kräuterstreichkäse und Hartwurst. Leider gibt es kein gekühltes Bier dazu, sondern lauwarmes Mineralwasser.

    Wir genießen die ruhige, friedliche Atmosphäre. Nur in der Ferne ist ab und an ein Motorgeräusch zu vernehmen. Allmählich verstummt das Abendlied der Vögel und wir machen uns schlafsackfein. Zu dieser Vorbereitung gehört auch eine Einreibung des Rückens mit Franzbrandwein, um langfristig den morgendlichen Muskelverspannungen vorzubeugen.

    Ich habe mich gerade meiner gesamten Oberbekleidung entledigt und schnurre unter Dieters Franzbrandweinhänden, als hinter uns eine Stimme die Entspannung jäh unterbricht.

    „Guten Abend."

    Wer ist das denn? Außer meinen Händen habe ich nichts um mich zu bedecken. Deshalb schaue ich nur über die Schulter nach hinten. Da steht ein Förster mit seinem Gewehr über der Schulter.

    Wo kommt der denn so plötzlich und lautlos her?

    Dieter reicht mir mein T-Shirt, das ich schnell überziehe.

    „Darf man das? kommt als Nächstes mit einem Nicken zu unserem Zelt hin. „Grinst der grade ein bisschen?, denke ich.

    „Tja, öhömmm."

    Ausatmen, schuldbewusst gucken, denn natürlich darf man das nicht. Und was soll man da schon sagen? Also kommt von Dieter erst mal einfach nur: „Nöö."

    Und dann mit einer großen Entschuldigung in der Stimme:

    „Da war einfach kein Campingplatz, nirgends. Wir haben einen gesucht, aber..."

    „Und im Dunkeln wollten wir auch nicht mehr weiterfahren", füge ich hinzu.

    Wir haben Glück und dürfen unser Zelt stehen lassen, weil wir keine Jugendlichen mehr sind. Die hätten sich auf jeden Fall davonmachen müssen, sagt der Förster.

    Und dann gibt es noch die eindringliche Ermahnung:

    „Aber kein Feuer machen! Auf gar keinen Fall! Das Laub ist so trocken, das brennt vom kleinsten Funken. Solch ein Brand greift in Windeseile um sich, und sie kommen dann nicht mehr aus dem Wald raus."

    „Wir werden ganz bestimmt kein Feuer machen und morgen früh den Platz sauber verlassen."

    Und wir versprechen auch nie wieder wild zu zelten, aber das mit überkreuzten Fingern hinter dem Rücken.

    Nach diesem günstigen Verlauf gebe ich meiner Neugier nach:

    „Wie haben sie uns denn entdeckt?"

    Der Förster zeigt schräg über das Feld hinweg zum Waldrand, wo

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