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Tatort Mallorca: Die Tote in der Mönchsbucht
Tatort Mallorca: Die Tote in der Mönchsbucht
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Tatort Mallorca: Die Tote in der Mönchsbucht

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About this ebook

Der fesselnde Urlaubskrimi für alle Mallorca- und Paguera-Fans!

Neue, vollständig überarbeitete Auflage

Nach einer turbulenten Zeit in Kalabrien fliegt die Heilpraktikerin Ulla Hönig im Frühjahr auf die Insel Mallorca, um als frischgebackene Autorin auf einem internationalen Schamanenkongress in Paguera ihr Buch über Heilkräuter zu präsentieren. Am Flughafen staunt sie, als sie vom Oberhaupt der Weißen Frauen, Meister Hetyei, persönlich abgeholt wird. Er nimmt sie mit seinem Charisma gefangen, aber macht ihr auch Angst. Im Landhaus der Schamanen trifft sie auf die kühle, unnahbare Ärztin Gwen und die geheimnisvolle Rebecca. Die Ablehnung der beiden Frauen ist unübersehbar. Trotz ihrer Ängste lässt Ulla sich überreden, an einer Séance in der Nähe des Bergmassivs des Galatzó teilzunehmen und gerät in große Gefahr.
Wanderführer Gunter und sein Hund Max finden zur gleichen Zeit eine Frauenleiche in der Mönchsbucht. Commissario di Flavio, ein guter Bekannter von Ulla, wird bei den Ermittlungen hinzugezogen. Alles deutet auf einen Ritualmord hin. Ein "Hexenmittel" war im Spiel und die Spuren führen eindeutig zu den Schamanen.
Welche Geheimnisse hüten Meister Heytei und die Weißen Frauen und wie sieht es mit der rivalisierende Gruppe um Margo aus?
Als Julia ihrer Freundin Ulla helfen will, wird auch sie bedroht.

Unterhaltsam und spannend bis zur letzten Seite – die perfekte Lektüre vor, nach und während des Urlaubs!
Liegestuhl- und Sofa-geeignet.
LanguageDeutsch
PublisherVirulent
Release dateApr 4, 2007
ISBN9783864740237
Tatort Mallorca: Die Tote in der Mönchsbucht

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    Book preview

    Tatort Mallorca - Barbara Ludwig

    Danke

    Erster Tag

    Hellrot

    Gwen zog fröstelnd die Schultern hoch und schloss die Balkontür. Die mit künstlichem Licht farbig ausgeleuchteten Bäume und Sträucher im Garten des Hotels bereiteten Unbehagen, ebenso das Abbild ihres Körpers in der dunklen Scheibe. Sie ging zum Nachttisch. Der Wecker zeigte auf kurz vor fünf. Gleich würde der Gong ertönen. So hatte sie es angeordnet. Sie wartete. Als der dumpfe Ton durch das Haus schwang, atmete sie auf.

    Ohne einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken zu werfen, band Gwen das Haar zu einem Knoten zusammen, stellte sich unter die Dusche und drehte den Hahn auf kalt. Das Wasser prasselte auf ihren Nacken. Gwen biss die Zähne zusammen, hielt die Kälte aus, bis die Haut schmerzte. Nach dem Abtrocknen wickelte sie sich in eines der riesigen Badelaken und öffnete den Kleiderschrank.

    Ohne weiter zu überlegen, griff Gwen nach einer Hose, und streifte sie über. Bei der Wahl des Oberteils zögerte sie. Das Weiß der sorgfältig geordneten Sachen verschwamm vor ihren Augen zu einer milchigen Einheit. Das Wissen um die im Schrank unten verwahrten Mullbinden verursachte Schwindel. Gleich neben den Binden wartete das Messer. Sie beugte sich hinunter, streckte die Finger nach der Klinge aus, nahm sie zur Hand. Das Metall fühlte sich kühl an. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Schneide, ehe sie das Messer an die Pulsadern setzte. Gwen brach der Schweiß aus. Sie wehrte sich, das Spiel zu spielen, kämpfte gegen den Zwang an. Verlor. Mit Bedacht führte sie die scharfe Spitze den Arm aufwärts. Ein kurzes Zögern. Die Entscheidung - ein Umrunden der Brustwarzen, dann ein Ritz.

    Blut tropfte auf die weiße Hose, hinterließ ein hellrotes Muster.

    Gwen lockerte den Griff. Das Messer fiel scheppernd zu Boden. Sie schloss einen Moment die Augen, ehe sie die Mullbinden vom Schrankboden zusammenklaubte, um sie gleich darauf Lage für Lage um ihren Oberkörper zu wickeln.

    Ein Blick in den Spiegel überzeugte Gwen, ihre weiblichen Rundungen, vollständig an den Körper gedrückt, waren nicht mehr sichtbar. Ruhig zog sie ein weißes T-Shirt über und tauschte die beschmutzte Hose gegen eine blütenweiße neue aus. Erst jetzt hob sie das Messer auf, schlenderte ins Bad, reinigte die Klinge. Anschließend verstaute sie es in der Nachttischschublade.

    Draußen dämmerte es inzwischen. Die Gartenbeleuchtung war abgeschaltet worden. Der Himmel überzog sich mit einem Hauch Rosa. Gwen hörte die Wellen unten an den Strand schlagen.

    Schwarze Augen

    „Hola, Tino. Wir haben einen neuen Fall: eine Tote in der Nähe von Camp de Mar. Alles lässt auf Mord schließen. Wäre eine Chance, deinen angehenden europäischen Ermittlern Anschauungsunterricht zu erteilen."

    Commissario di Flavio lächelte seinem mallorquinischen Kollegen zu. „Hola, buenos dias, Ernesto. Qué tal? Super Vorschlag, wird die Jungs freuen."

    „Also abgemacht. Wir sehen uns am Fundort, in der Mönchsbucht, gleich bei der Cala Fornells. Ich muss, der Einsatzwagen wartet. Unser Chef ist stinksauer – ein Mord – gerade jetzt! Morgen beginnt doch in Paguera dieser internationale Schamanenkongress. Für die nächsten vier Tage sind alle Hotelzimmer des Ortes ausgebucht. Und dann das - ganz in Ortsnähe! Ich sehe auch schon die Pressefritzen vor mir und die Schlagzeilen. Also, für deine Truppe fordere ich einen Bereitschaftswagen an. Bis später."

    Di Flavio schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach acht und ihm blieben noch fünf Minuten Ruhe. Er trat ans Fenster. Sein Blick glitt über die Bucht von Palma und heftete sich auf die kaum sichtbare dünne Wolkenlinie zwischen Himmel und Meer, die sich meist gegen Mittag auflöste. Gleich würden die Auszubildenden eintreffen: Junge Kriminalbeamte aus verschiedenen EU-Ländern, mit einigen Dienstjahren auf dem Buckel. Zu seiner Aufgabe gehörte es, sie auf die vielfältigen Spezialaufgaben im vereinten Europa vorzubereiten. Bei diesem Lehrgang war eine Polizistin dabei, Tanja aus Prag. Er war Garcia dankbar, Anschauungsunterricht brachte mehr als trockene Paragrafen und Methodik.

    Wie von ihm vermutet, breitete sich gespannte Erwartung aus, und die normale Montagsmüdigkeit verschwand aus den Gesichtern. Eine Viertelstunde später saßen alle Teilnehmer im Mannschaftswagen. Die Stimmen schwirrten durcheinander.

    „Auf zur Cala Fornells", wies er den Fahrer an.

    Der nickte nur und ließ den Motor an. Kurze Zeit später fädelten sie sich nach dem Verlassen des Passeig Maritim und des Hafens von Palma auf die Autobahn Richtung Andratx ein. Nach der Ortsumfahrung von Paguera, oder in Mallorquin Peguera, führte die Straße am Meer entlang und bot schöne Ausblicke. Sie hielten in der Cala Fornells in einer Seitengasse gleich hinter der Auffahrt zum Hotel Monjo und an der Rückseite eines großen Hotels mit dem Namen Solemar. Zahlreiche Polizeiwagen parkten auf dem als Wanderparkplatz gekennzeichneten Gelände.

    Di Flavio sammelte seine Leute beim Zugang zum Wandergebiet und zeigte ihnen auf der Wanderkarte, wo sie der Leichenfund erwartete. Dann marschierten sie los. Ein Kiesweg führte durch den lichten Pinienwald leicht auf und ab. Von einer Anhöhe aus sahen sie hinunter auf die Mönchsbucht, die Caló d’en Monjo.

    „Vorsicht am Tatort! Denkt an die Spurensicherung. Wir gehen bis zur Absperrung, dann einzeln, aber erst nach Aufforderung. Nun, ihr seid ja keine Neulinge mehr." Ein paar Minuten später erreichten sie die Absperrung. Di Flavio informierte den Beamten und bat seine Auszubildenden, zu warten.

    Die kleine Bucht rückte jetzt vollends in sein Sichtfeld, ebenso wie der gegenüberliegende unbebaute Strand. Das Wasser glitzerte im Morgenlicht. Ein ummauerter Bootsunterstellplatz mit einer ausgebauten Anlege-Plattform davor schien der Fundort zu sein. Jedenfalls verteilten sich in seinem Umfeld in weißen Schutzanzügen und hellblauen Gummihandschuhen die Leute von der Spurensicherung. Sein Kollege Garcia stand vor dem Unterstellplatz, im Gespräch mit einem uniformierten Polizisten der Policia Locale. Di Flavio trat hinzu und grüßte mit einem Kopfnicken.

    „Ziemlich brutal und scheußlich", stellte Garcia fest und wies auf die abgedeckte Leiche. Di Flavio trat näher heran, bückte sich und hob die Abdeckung hoch.

    Der nackte Frauenkörper lag auf runden Kieselsteinen. Starre, fast schwarze Augen blickten den Betrachter erstaunt an. Die Haare, in unterschiedlicher Länge geschnitten, standen rötlich eingefärbt in allen Richtungen ab und bildeten eine Krone. Längere Partien kringelten sich hellbraun mit Blond durchsetzt bis auf die Schulter. Kleine Rosmarinzweige schmückten, zum Kreis angeordnet, die Stirn der Toten. Soweit sah die Tote fast friedlich aus. Wenn nicht die Brüste grausam zerstückelt worden wären. Blut verteilte sich auf und um den sehr schlanken, weißen Körper wie ein dunkelrotes Kleid, es war in die Steine eingesickert und glänzte dunkel.

    „Die Kleidung – ist sie in der Nähe gefunden worden?" Di Flavio blickte erst den Polizisten, dann Garcia an.

    „Nein, bisher haben wir nichts entdeckt. Den näheren Umkreis haben meine Leute schon untersucht. Eines ist auffällig: die Hauttemperatur der Leiche." Di Flavio ging erneut in die Knie und berührte den Arm der Toten.

    „Tatsächlich, erstaunlich. Was meint der Rechtsmediziner?"

    „Kennst ihn ja, rückt noch nicht mit seiner Meinung raus. Ich schätze die Frau auf ungefär vierzig Jahre und vermute mal, dass sie eine Ausländerin ist. Garcia wies auf das glattrasierte Dreieck zwischen den Schenkeln. „Sie ist aufgebahrt worden - wie in einer Kapelle. Ein Ritualmord? Was meinst du, Tino?

    „Mir drängen sich Bilder auf. Ich habe schon einmal eine Tote gesehen, die ähnlich ausstaffiert wurde. Der Kranz um den Kopf, die Zweige und vor allen Dingen die grausame Verstümmlung der Brust. Das war auf Sizilien. Liegt etliche Jahre zurück. Mich erinnerte schon damals die exponierte Stellung der Arme und Hände an die Abbildung einer Madonna. Ich recherchiere gleich nachher."

    Inzwischen waren zwei Leute mit einem Transportsarg eingetroffen und hievten den Leichnam hinein. Di Flavio und Garcia folgten ihnen und warfen nochmals einen Blick auf die Tote. Der Frauenkörper lag jetzt im hellen Sonnenlicht wie unter einem Scheinwerfer. Garcia beugte sich vor, um die Lider der Toten zu schließen, hielt dann inne.

    „Schau dir die Pupillen der Frau an, Tino. Sie sind geweitet. Die Augen sehen fast schwarz aus. Fällt mir erst jetzt richtig auf."

    „Tatsächlich! Sie ähneln schwarzen Kirschen. Ein krasser Gegensatz zur hellen Haut der Toten. Weißt du in etwa, wie lange sie schon tot ist?"

    „Die Tote ist am frühen Morgen von Gunter, einem Wanderführer, beziehungsweise von seinem Hund entdeckt worden. Also muss die Tat heute Nacht oder ganz früh am Morgen verübt worden sein. Die Bucht wird viel besucht. Ich vermute mal, der Täter wollte, dass die Frau schnell gefunden wird. Sonst hätte er einen unauffälligeren Platz gewählt. Gestört worden kann er ja wohl kaum sein, bei der liebevollen Dekoration der Zweige auf der Stirn. Aber jetzt habe ich deine Auszubildenden fast vergessen."

    Garcia bedeutete seinen Leuten, mit dem Schließen des Transportsarges zu warten. Di Flavio winkte den ersten seiner Truppe heran. Der junge Finne riskierte einen kurzen Blick auf den Leichnam und wurde bleich. Di Flavio amüsierte sich insgeheim. Um den Schockzustand des jungen Mannes abzumildern, begann er herunterzuleiern:

    „Auffälligkeiten: Die verstümmelte Brust, das Zeichen auf der Stirn, die Anordnung des toten Körpers. Der Täter will uns damit etwas sagen. Mögliche Motive? Der Commissario wartete einen Augenblick, den Blick auf seinen Zögling gerichtet. Nach einer Weile kam stockend eine Antwort: „Frauenhass, religiöser Wahn, ein Ritualmord?

    „Wahrscheinlich. Der Mörder tötet sein Opfer stellvertretend für jemanden, der ihn dominiert und quält. Der junge Mann nickte, den Blick starr auf das Meer gerichtet. Das Wasser umspülte den Betonsteg und klatschte mit einem lauten Geräusch dagegen. Der Finne fragte, ohne einen Blick auf den Leichnam zu richten: „Ist Geschlechtsverkehr vorausgegangen?

    „Das wird die Rechtsmedizin herausfinden", mischte sich Garcia ein und stellte sich vor den Transportsarg. Damit ersparte er dem Kollegen den weiteren Anblick der Toten.

    „Sagen Sie dem Nächsten Bescheid." Di Flavio beobachtete, wie sein Schützling kurz vor der Absperrung seinen Magen an einem Baum entleerte.

    „War die Tote eine ausländische Teilnehmerin des Schamanenkongresses? Möglicherweise ist sie das Opfer eines satanischen Kultes geworden? Schwarze Magie … spannend. Sollte die Tote eine Touristin sein, wäre es ein EU-Fall, Commissario., meinte die kleine Tschechin Tanja, ohne Schwäche zu zeigen. „Dürfen wir weiter an den Ermittlungen teilnehmen, Hauptkommissar Garcia?

    „Die junge Kollegin sieht das ganz richtig: Satanische Riten! Diese Spinner in Peguera werden wir auf jeden Fall näher unter die Lupe nehmen! Überschwemmen wie exotische Vögel den Ort! Äh, mmh, diese Schamanen oder Heiler, meine ich natürlich", mischte sich der Uniformierte ungefragt ein.

    Garcia bedachte seinen Untergebenen mit einem scharfen Blick. Aber entfernte sich, ohne auf den Einwand näher einzugehen. Di Flavio winkte den Nächsten aus seiner Truppe zu sich. Nacheinander beugten sich seine Auszubildenden zur Leiche hinunter und äußerten sich mehr oder minder ähnlich. Der Letzte von di Flavios Schützlingen meinte lakonisch: „Wie passend! Die Mönchsbucht ist schließlich Nacktbadezone." Di Flavio gab den Sargträgern einen Wink und die Tote wurde abtransportiert.

    Garcia löste sich aus einem Gespräch mit dem Leiter der Spurensicherung und trat kurz zu ihm. „Wenn wir das Ergebnis der Obduktion haben, verständige ich dich. Ich denke, morgen haben wir es auf dem Tisch. Hasta luego, Tino. Etwas süffisant fügte er hinzu: „Da sag noch einer, die Frauen sind das schwächere Geschlecht.

    Di Flavio lächelte nur, ehe er sagte: „Adios, Ernesto. Danke."

    Auf dem Rückweg fühlte er sich mitgenommen. Vermutlich werde ich für Leichenfunde langsam zu alt, sein Gedanke. Als er zu seiner Truppe stieß, musste er schmunzeln. Der überwiegende Teil der jungen Burschen sah recht blass aus. Um sich abzulenken, alberten sie herum: „Und jetzt? Auf zum Meer, Schwimmen, Commissario?"

    „Wenn euch die Wassertemperatur von 14 Grad nicht abschreckt, meinetwegen, antwortete er, froh, einen leichten Ton anschlagen zu können. „Mir wäre ein Café con lèche lieber.

    „Lebt es sich gut in Mallorca, Señor di Flavio?", fragte ihn Tanja beim Kaffee.

    „Wer träumt nicht von einem Leben auf der schönsten Insel des Mittelmeers", antwortete er, ohne Lust, sich auf eine Diskussion über die Vor- und Nachteile seines Dienstortes einzulassen.

    „Und Ihrer Frau, wie gefällt es ihr in Palma? Bestimmt super oder?"

    Mit einem Seufzer ergab sich di Flavio: „Meine Frau? … ist von Palma begeistert. Sie meint, es war höchste Zeit, dass wir endlich das Provinznest Tropea und das vorsintflutliche Kalabrien hinter uns gelassen haben. Sie liebt die eleganten Geschäfte, besonders die Schuhgeschäfte!"

    „Ich könnte mir auch ein Leben auf der Insel vorstellen und Schuhe … Zu wenig Knete …"

    Um die Sache zu relativieren, legte er nach: „Meine Tochter ist mit einem Spanier verheiratet und lebt in Madrid. Mein Sohn arbeitet in Mailand, der Heimatstadt meiner Frau. Zum Glück gibt es günstige Flüge."

    Erica war ein Kapitel für sich. Viel hatten sie – außer den Kindern – nicht mehr gemeinsam. Warum Erica meinte, sich in der Gesellschaft beweisen zu müssen, war für ihn nicht nachvollziehbar. Ihre Versuche, ihn modisch aufpeppen zu wollen, nervten ihn regelrecht. Neulich, zum Beispiel, hatte sie ihm tatsächlich Polohemden in der Farbe Orange angeschleppt, natürlich mit irgendeinem Markenlogo! In ihnen kam er sich vor wie eine Witzfigur. Die Leuchtfarbe rückte seine nicht mehr ganz schlanke Leibesmitte wie eine Zielscheibe in den Mittelpunkt. Gruselig!

    „Kalabrien würde mich ebenfalls reizen", meinte die junge Polizeibeamtin in seine Überlegungen hinein.

    Flugangst

    „Mein Gott, Ulla, der Flug dauert nur zwei Stunden! Wenn ich dich höre, glaube ich, du fährst direkt in die Hölle." Ulla schaute ihre ältere Freundin Julia gequält an.

    „Eben, zwei Stunden! Du scheinst keine Vorstellung zu haben, wie endlos die sein können, wenn man so leidet wie ich. Beim Fliegen sterbe ich jede Minute tausend Tode. Ich wünschte, ich könnte anders anreisen. Und dann diese unchristliche Zeit, schon die Fahrt zum Flughafen halb in der Nacht - ein Albtraum!"

    „Jetzt weißt du so viel über alle möglichen Heilkräuter, und gegen deine Flugangst hast du noch kein Kraut gefunden? Ulla, Ulla!"

    „Ja, Mist. Gib zu, du hast absichtlich einen späteren Flug genommen."

    „Tut mir leid, dein Flieger war ausgebucht. Meiner geht nur eine halbe Stunde später. Aber du wirst mich nicht vermissen, weil du mit dem Schamanenkongress beschäftigt sein wirst. Zu deiner Buchvorstellung bin ich natürlich zur Stelle. Versprochen!"

    Ulla verzog den Mund und lachte, der Schalk in den graugrünen Augen der Freundin war unübersehbar.

    „Julia! Deine Skepsis ist völlig unangebracht. Nur zur Info: Die Weißen Frauen sind in Heilpraktikerkreisen als überaus solide bekannt. Ich habe mich umgehört, wo denkst du hin? Und ihr Meister? Hetyei ist ein berühmter Schamane. Es ist eine Ehre, zu dem Kongress eingeladen zu werden. Außerdem will ich einiges über den Kräuteranbau lernen, du weißt, was ich in Kalabrien vorhabe."

    Schon wieder tauchte um Julias Mund dieses wissende Lächeln auf und dann noch dieser mütterliche Druck auf ihrem Arm!

    „Also, nur zur Klarstellung. Ich bin kein Teenager mehr, sondern gehe auf die Vierzig zu. Und bestimmt ist dieser Hetyei hässlich wie die Nacht. Es existiert kein einziges Foto von ihm. Und du weißt doch, wer mir nicht mehr aus dem Kopf geht, also?"

    „Du und dein Enno, eine unendliche Geschichte", antwortete die Freundin. Ulla umarmte sie spontan. Enno war wirklich ein Kapitel für sich. Seit er als verdeckter Ermittler für die italienische Polizei arbeitete, trafen sie sich gefühlt nur alle Jubeljahre, obwohl sie nach der Geschichte mit ihrer Mutter und der Erbschaft des Grundstücks nach Tropea übergesiedelt war. Drei Monate lag das letzte Treffen zurück.

    Ulla erinnerte jede gemeinsame Sekunde, als wäre ihre Begegnung gestern gewesen. Die Zeit, die sie mit ihm verbrachte, gehörte einfach nicht zur alltäglichen Welt. Nie wusste sie, wo Enno sich im Augenblick aufhielt. Oder konnte ihm eine SMS schreiben oder mit ihm Mails austauschen. Nicht einmal Briefe konnte sie ihm senden. Von Anrufen wagte sie nicht zu träumen. Oft, wenn sie kurz davor war, sich Enno aus dem Sinn zu schlagen, rief er an und sagte: „Ich liebe dich. Wir sehen uns, bald. Ich versuche mein Möglichstes, glaub mir. Sein Anruf vor ein paar Tagen: „Wenn alles klappt, treffen wir uns auf Mallorca. Der Gedanke an ein Wiedersehen weckte die Sehnsucht und tat weh.

    „Bis dann, und lass dich nicht unterkriegen", gab ihr die Freundin mit auf den Weg und Ulla nickte.

    Sie tappte hinter den anderen Fluggästen her zum Flugzeug. Beim Anblick der Sitzreihen meldete sich das flaue Gefühl mit Macht zurück und führte zu einem Schweißausbruch und zittrigen Beinen. Ihr Herz schlug pochend in ihren Ohren, bis sie nur noch den Pulsschlag ihrer eigenen Nervosität spürte. Endlich auf ihrem Sitz schnürte ihr die trockene, abgestandene Luft im Innenraum des Fliegers die Kehle zu. In ihrer Panik wurde ein Gedanke übermächtig: Fliehen! Raus! Weg aus dieser stickigen Flugzeugkabine!

    Ein rascher Blick zum Einstieg. Zu spät. Keine Chance mehr. Die Stewardess verriegelte gerade die Tür. Sie war eingesperrt. Mit einem Stoßgebet auf den Lippen schloss sie, gottergeben, ihren Sicherheitsgurt. Als die Maschine sich langsam auf das Rollfeld zubewegte, meinte sie, ein Knirschen im Getriebe auszumachen. Dazu gesellte sich das unheimliche Poltern beim Abheben. Ulla setzte sich aufrecht, ihre Hände umklammerten die Sitzlehnen, sie blickte starr geradeaus. Mit fast absoluter Sicherheit erwartete sie, das Flugzeug würde ins Meer stürzen, und sie würde nie und nimmer Mallorca erreichen. Froh über ihren Gangplatz, wagte sie nicht, ihren Kopf Richtung Fenster zu wenden.

    „Wir haben unsere Flughöhe erreicht. Normalerweise kann nicht mehr viel passieren!", meinte ihr Sitznachbar. Was mischte er sich in ihre Gefühle. Frechheit! Unmöglich für sie, zur Seite zu sehen. Sie befand sich schließlich in einem Zustand der höchsten Lebensgefahr!

    Erst die Durchsage: „Das Flugzeug ist soeben in Palma de Mallorca gelandet", weckte ihre Lebensgeister wieder. Bei der Gepäckausgabe konnte sie durchschnaufen und ihr Zustand normalisierte sich langsam. Zwar roch die Luft nach Dieselöl, aber die Erde hatte sie wieder oder sie die Erde? Auf jeden Fall lebte sie noch!

    Ulla reckte ihren blonden Lockenschopf in die Höhe und hielt Ausschau nach der Person, die sie abholen würde. Eine Gruppe von Menschen wartete vor dem Ausgang, sie hielten Schilder in den Händen, entweder mit der Bezeichnung des Reiseveranstalters oder mit einem einzelnen Namen darauf.

    Aus der Menge der Wartenden ragte ein Mann heraus: Unbeweglich stand er da - wie ein Turm. Sein Blick fing den ihren ein. Fast hypnotisch! Es kostete sie Mühe, sich aus dem Bann des Blicks zu befreien. Selbst als sie sich Richtung Ausgang entfernte, meinte sie, den bohrenden Blick auf ihrem Rücken zu spüren. Ein diffuses Unbehagen breitete sich in ihr aus. Sie drehte sich um.

    Der Mann weilte noch immer am selben Fleck. Wieder gelang es ihm, ihren Blick einzufangen. Sein Gesicht bildete ein gleichmäßiges Oval, die gerade, sehr edle Nase schwang in harmonisch gerundeten Augenbrauen aus, bemerkenswert waren die dunklen fast schwarz glühenden Augen. Die Haut schimmerte leicht olivenfarben und sprach für eine südliche Herkunft. Die einen Hauch dunkleren Wangen verrieten einen starken Bartwuchs und passten zu dem fast schwarzen, naturgewellten, langen Haupthaar. Nur zwei herbe Linien um den sinnlich vollen Mund störten das harmonische Bild. Alles an diesem Mann ließ Ulla an eine griechische Statue denken, dazu passte auch die ausschließlich weiße Kleidung.

    Wie konnte sie nur so dumm sein! Natürlich, das war er: der Meister, Hetyei. Sie spazierte auf ihn zu.

    „Sie holen mich persönlich ab? Welche Ehre. Ich bin Ulla Hönig." Er lächelte und die herben Linien um seinen Mund verschwanden.

    „Ich weiß. Herzlich willkommen."

    „Warum haben Sie mir keinen Wink gegeben und mich zum Ausgang laufen lassen?", konnte sich Ulla nicht verkneifen, zu fragen.

    „Ich habe Sie doch angesehen. Kommen Sie. Ich fahren mit Ihnen zu unserem Stammhaus. So können Sie unsere Kräuterfelder und alles, was dazugehört, ohne Hast in Augenschein nehmen. Ich habe ein Zimmer für Sie vorbereiten lassen. Morgen können Sie dann in Paguera im Kongresshotel einchecken. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung?"

    Im Auto lehnte sich Ulla zurück. Nach dem Verlassen des Flughafengeländes spulten sie sich nach Westen Richtung Andratx ein. „Hat meine PR-Beraterin Ihnen mein Buch zukommen lassen?"

    „Wir sprechen nachher darüber, wenn es Ihnen Recht ist. Bitte lassen Sie uns während der Fahrt schweigen. Gönnen Sie sich die Ruhe des Ankommens, Ulla."

    Kurze Zeit später erreichten sie Palma. Die Kathedrale ragte eindrucksvoll gegen den Himmel und Ulla beschäftigte sich mit Schauen. Eine breite Prachtstraße erstreckte sich am Meer entlang. Kilometerlang Bootsmasten und Jachten, später nach einer Kurve, ein Kreuzfahrtschiff. Dann lenkte der Meister das Auto wieder zur Autobahn. Als sie ein Kastell passierten, lag Ulla die Frage nach seinem Ursprung und Namen auf den Lippen, aber sie hielt sich zurück.

    Ihr war beklommen zumute und ein wenig unheimlich. Den fremden Mann neben sich, der sie irgendwohin fuhr. Sie fühlte sich fast so ausgeliefert wie im Flugzeug. Am liebsten würde sie bitten, zu stoppen, und aussteigen. Stattdessen zwang sie sich, die Hände nicht weiter zusammenzukrampfen und sich zu entspannen.

    Die Fahrt erschien endlos. Ulla schaute alle paar Minuten zur Uhr. Eine knappe Stunde war seit der Abfahrt vom Flughafen vergangen. Sie befanden sich jetzt auf einer schmalen Landstraße und der Wagen quälte sich über Serpentinen den Berg hinauf. Als die Kurven endeten, fuhren sie über eine Hochebene, auf beiden Seiten ragten Berge auf. Dann wieder Serpentinen. Ein Ort. Ulla schielte nach dem Ortseingangsschild: Galilea, ein ungewöhnlicher Name. Die Natur war schön, hier oben. Ginster blühte hellgelb auf den kleinen Flurstücken neben dem Asphalt. Sie sehnte sich nach frischer Luft und die Frage: „Brauchen wir noch lange", lag ihr auf der Zunge.

    Der Wagen bog in eine schmale Schotterstraße ein, sie führte abwärts und endete vor einem schmiedeeisernen Tor. Eine Seite des schweren Gitters öffnete sich langsam automatisch. Nach dem Passieren einer Auffahrt mit alten knorrigen Olivenbäumen stoppte Hetyei vor einem Landhaus.

    Endlich! Ulla riss die Autotür auf, kletterte hinaus und lockerte sich. Der Blick war atemberaubend. Das Anwesen lag einsam am Fuß eines Berges. Mit Felssteinen eingegrenzte Felder zogen sich terrassenförmig den Berghang hinauf. Aus vor kurzem gezogenen Furchen blinzelte

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