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Unort der Sehnsucht: Vom Schreiben der Natur. Ein Bericht
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Ebook113 pages1 hour

Unort der Sehnsucht: Vom Schreiben der Natur. Ein Bericht

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Je geschlossener die technische Zivilisation, desto größer das ›Begehren nach Natur‹. Es kann heute viele Gestalten annehmen, und somit auch das Schreiben darüber. Die dabei eingesetzten literarischen Formen fächern sich zwischen Traktat und Poesie mannigfach auf, die Inhalte partizipieren an akademischen Diskursen zwischen Wissenschaft und Philosophie ebenso wie an landläufigen Überzeugungen zwischen politischer Ökologie und Unbehagen im technischen Zeitalter. Hier Überblick zu gewinnen, ist schwierig. Doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich Spuren und Umrisse : von Motivlagen und Brennpunkten, Begrenzungen und Aporien. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel versucht, einige dominante Tendenzen, Ambitionen und Schwierigkeiten heutigen Schreibens und Nachdenkens über Natur zu einem vorläufigen Bild zu ordnen, vor allem aber auch einige Rahmenbedingungen in Erinnerung zu rufen, die unser prekäres Verhältnis zum großen Attraktor ›Natur‹ immer schon bestimmen.
LanguageDeutsch
Release dateAug 4, 2017
ISBN9783957575050
Unort der Sehnsucht: Vom Schreiben der Natur. Ein Bericht

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    Unort der Sehnsucht - Wolfgang Riedel

    DE NATURA II

    Herausgegeben von Frank Fehrenbach

    Wolfgang Riedel

    Unort der Sehnsucht

    Vom Schreiben über Natur

    Ein Bericht

    Inhalt

    1.Pathische Existenz

    2.Nature Writing, Ecocriticism und das Heterogene

    3.Wider den Dualismus

    4.Natur- und Tierfrieden – Ende der Gewalt?

    5.Exzentrische Position und ästhetischer Animismus

    Anmerkungen

    1. Pathische Existenz

    Nie lebten Menschen so sehr in einer künstlichen Eigenwelt wie heute. Selbst Naturgeschöpfe (Produkte der Evolution), betreiben sie eine konsequente Denaturierung nicht nur der eigenen Lebensräume, sondern des planetarischen Biotops im Ganzen. Urbanisierung, Technifizierung, Digitalisierung und Automatisierung erzeugen eine anthropogene, artifizielle Umwelt, hinter der die ältere ›natürliche‹ uns so fern rückt wie das Tier hinter dem Tiefkühlsteak. Gleichzeitig bleiben die Menschen jedoch als heterotrophe Lebewesen unverändert abhängig von der metabolischen Zirkulation der Biomasse, in der das Leben auf diesem Planeten sich durch konstanten Selbstverzehr erhält (künstliche Lebensmittelsynthese aus anorganischer Materie könnte das ändern, aber so weit sind wir nicht). Schon diese Tatsache relativiert die Rede von der Naturferne des technischen Zeitalters und seiner Bewohner erheblich. Die Angewiesenheit des Menschen auf das, was er nicht erschuf, entscheidet immer noch über sein Dasein. Sein Organismus ist wie jeder andere ein ›offenes System‹, und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik unterwirft ihn dem Zwang zur permanenten Zuführung »negativer Entropie«¹. Entgegen dem Selbstbild seines Geistes kann sein physisches Dasein also niemals und nirgends die Form der Souveränität annehmen, sondern ist grundsätzlich »pathisch«² geprägt; von der Zeugung bis zum Tod muss es sich in durchgängiger Abhängigkeit von jenem »unmöglichen Realen«³behaupten, das allen Einsprüchen zum Trotz bis heute mit Grund ›Natur‹ heißt.⁴

    Dennoch fällt es dem modernen Menschen schwer, seine wesentlich pathische Verfasstheit auch anzuerkennen. Dem Urmythos des »Macht euch die Erde untertan« folgend, definiert er sein Naturverhältnis im Gegenteil als eines der »Herrschaft«.⁵ Selbst die Sphäre seiner größten Abhängigkeit verkehrt ihm der Furor seines subicite terram! ins Gegenteil, erst recht in der Moderne. Die organische Produktivität der Pflanzen- und Tierwelt, die ihn am Leben erhält, ist ins Joch einer durchindustrialisierten Lebensmittelwirtschaft geschlossen; ihre Eingriffe in Land und Meer durchwirken und überformen die Erdoberfläche längst in derselben Massivität wie das Wachstum von Städten und Infrastrukturen, von Energie- und Rohstoffindustrien, von Güterproduktion und -zirkulation. Heideggers »Gestell«⁶ wächst unaufhaltsam, – und mit ihm der Anschein der Emanzipation des Menschen von der Natur. Aber eben nur der Anschein! Denn bis in ihre heutige Unerbittlichkeit hinein erweist die Ausbeutung von Flora und Fauna immer auch jenes unbedingte Angewiesensein; sie exprimiert also nicht nur das Offensichtliche, die technischen Reichweiten des Menschen, sondern ebenso das davon Verdeckte, das pathische Apriori, in dem er als biologische Lebensform unweigerlich hängt.

    Auch nach innen zielt dieser Herrschaftswille. Die Heilerfolge der modernen Medizin, von Mikrochirurgie und Endoprothetik bis zur Transplantationstechnik, und fast mehr noch die Zukunftsprojektionen von Molekularbiologie und Gentechnologie nähren, trotz wiederkehrender Dämpfer der geweckten Erwartungen, die wachsende Hoffnung auf durchgreifende Supression von Krankheits- und Alterungsprozessen sowie auf erhebliche Lebensverlängerung. Der Kindertraum der Unsterblichkeit scheint buchstäblich in den Horizont des biotechnisch Erreichbaren gerückt, jedenfalls für die Euphoriker unter den Experten.

    Flankierend dazu wird die Optimierung des menschlichen Organismus durch technologische Applikationen betrieben. Geht es nach den Vorstellungen der Entwickler, werden diese mehr und mehr von außen nach innen dringen, sprich: das ›robotische Habitat‹, in dem wir heute schon zunehmend leben, den Individuen selbst introjizieren und es zum integralen Teil ihrer physiologischen und psychologischen ›Innenwelt‹ machen. Von Smartphone und biometrischem Armband über motorisierte Exoskelette und Chip-Implantate hin zu Digitaltuning des Kortex und Cloudsteuerung des zentralen Nervensystems geht hier der Pfad der Wünsche – der Cyborg ist zum role model des künftigen Homo sapiens avanciert.

    Auch dies scheint getrieben vom Unvermögen, Abhängigkeit von determinierenden Randbedingungen auszuhalten. Gemeint sind jene ›natürlichen‹ Bedingungen des Menschendaseins, die das klassische anthropologische Denken stets zur conditio humana/condition humaine gerechnet und darin als essentiell anerkannt hatte: Zufälligkeit und nur begrenzt beeinflussbare Wirkmächtigkeit von Begabung, physischer Konstitution und Geschlecht, Gebundenheit an den Lebenszyklus (Fesselung ans jeweilige Alter und seine Zeitfenster), Endlichkeit sowohl der Lebensdauer wie auch der vitalen und intellektuellen Kräfte (imbecillitas animi), Anfälligkeit für Krankheit, Verwundbarkeit und Schwäche, wiederkehrende Versklavung des Ich durch Affekte und Illusionen. Die Autonomie, die dagegen zu behaupten war, konnte daher immer nur eine ethische, eine der Haltung sein. Getragen war dieses Ethos vom Realitätsprinzip, vom Wissen, dass jene Grenzen uns nur sehr enge Spielräume lassen, und darum war es eine Haltung – bereit und fähig, das Leben unter Anerkennung seiner Unvollkommenheit, im Zustand des Mangels, und das hieß eben auch im Bewusstsein des Pathischen zu führen. All dies scheint heute anders. Das Optimierungsverlangen wird durch ganz andere Ideale getrieben, die freilich nach klassischer Auffassung gar keine sind, sondern reine Wunschbilder, die psychogenetisch archaischen idola⁹ der Souveränität, Macht und Perfektion.

    Die Verzauberung der technischen Intelligenz durch diese Idole hat eine doppelte Wurzel, eine theologie- und eine technikgeschichtliche. Die Idee des Vollkommenen wurde ja im Nachdenken über das Göttliche entwickelt; doch kaum gewonnen, ging der spekulative Begriff von Gott als ens perfectum (Aseität und Allmacht, Alldauer und Allgegenwart, Allwissen und Allgüte) den Weg der Exoprojektion, auf dem er entstanden war, in Windeseile umgekehrt zurück, um als Endoprojektion von seinem Urheber Besitz zu ergreifen.¹⁰ Unheimliche ›Wiederkehr des Entäußerten‹! Was sich der Mensch als ein rein Intelligibles und ›ganz Anderes‹ (totaliter aliter) zum unerreichbaren Maß aller Dinge aus dem Wirklichen herausabstrahiert hatte, meint er nun als ›ganz Eigenes‹ faktisch erreichen und ›verwirklichen‹ zu sollen. Wie unter Zwang zieht er seiner fragilen Empirie die persona vors Gesicht, die er sich einst als trans-empirisches Ideal erfand. Mit dem fatalen Nebeneffekt, dass er, sobald diese Maske einmal aufgesetzt ist, nicht mehr sehen kann, dass sie ihm nicht passt.

    Die zweite Wurzel hingegen entstammt der Realerfahrung, den Triumphen der menschlichen Poiesis im Reich des Anorganischen, und gelangt zu breitester Wirkung als Ästhetik technischer Oberflächen und Funktionalitäten. Im Rahmen ihrer Zwecksetzung konfrontieren uns Maschinen, und derzeit besonders die digitalen, ja mit einer geradezu überwältigenden Perfektionsanmutung, die unser eigenes, psychophysisches ›System‹ zu blamieren scheint.¹¹ Auch in diesem Fall projiziert der Mensch ein als ein ›Anderes‹ aus sich Herausgesetztes, hier allerdings in die physische Wirklichkeit Hineingestelltes, auf sich zurück. Diese Rückwendung der technischen »Organprojektion«¹² auf den Projizierenden hat für diesen wiederum zweifelhafte, jedenfalls stresserhöhende Effekte zur Folge, allen voran den, dass zum Maß menschlicher Schönheit ebenso wie menschlichen Leistens und Könnens nun die makellosen Oberflächen und unermüdlichen Betriebssysteme von technischen, also anorganischen Artefakten geworden sind.

    In alledem spricht sich ein ebenso panischer wie realitätsferner Unwille aus, das Pathische des Daseins zu ertragen. Das Möchtegern der Souveränität bestimmt die Köpfe. Oder anderes gesagt, der Mensch von heute will kein »Mängelwesen«¹³mehr sein. Daher träumt er davon, ›die Natur‹ in sich zu überwinden, sprich: die evolutionsgeschichtlich eingespielten Limitationen biologischer Lebensformen zu ›transzendieren‹. Folgerichtig heißt die meistbeachtete Diesseitseschatologie der Gegenwart »Transhumanismus«.¹⁴ Selbsterlösung des Menschen mit Hilfe seiner maschinalen und digitalen Artefakte, so lautet das Heilsversprechen dieser neuesten Technoreligion. Der schwärmerische Habitus ist dabei noch ihr Sympathischeres; weniger harmlos ist ihre vigilanzfreie Bereitschaft zur soumission.¹⁵ Freilich, wo das Heil aus den Maschinen kommen soll, ist Bejahung ihrer Machtzuwächse Glaubenspflicht. Den möglichen – und möglicherweise unschönen – Rollenwechsel zwischen Herr und Knecht im künftigen Verhältnis von Mensch und Maschine kodiert der Transhumanismus daher nicht als Risiko.¹⁶

    Futurismus als Flucht vor dem ›Realen‹! Die anthropologische Selbstverkennung des Menschen scheint heute keine geringere als zur Blütezeit der antiken Gnosis. Entsprechend fällt es selbst kritischen Perspektiven

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