Über das Poetische
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Über das Poetische - Hartmut Lange
Auswahlbibiographie
Über das Poetische
Die Poetik versucht, einen Bereich der Fantasie begrifflich dingfest zu machen, was nicht gelingen kann, denn vor allem die Kunst und damit auch die Poesie unterliegen dem ständigen Wechsel der Zeiten und sie sind und bleiben, auch wo ihnen strenge zivilisatorische Regeln auferlegt werden, subjektgebunden. Und dies ist ihre Freiheit. Kant definiert die Kunst als interesseloses Wohlgefallen.¹ Was heißen soll: Sie verdankt ihren Ursprung weder der reinen noch der praktischen Vernunft. Sie ist weder erkenntnistheoretisch noch empirisch, noch durch irgendwelche zivilisatorische Absichten legitimiert. Sie ist evolutionstechnisch völlig irrelevant. Oder scheint es lebensnotwendig, dass sich ein Kind aus Holzklötzen oder Sand oder Papier eine imaginäre Welt errichtet?
Was hier auf infantile Weise beginnt, setzt sich bis ins hohe Alter fort. Der Wille zur Kunst ist ein Begehren, das ohne realbezogene Determinanten auskommt, ja das sich sogar im Erleben des eigenen Untergangs zur Geltung bringen kann. Wir kennen die Klaviersonaten, die Schubert komponierte, obwohl er wusste, dass er vom Typhus gezeichnet war, oder die verzweifelten Bemühungen Mozarts, vor dem Sterben mit einem Requiem zurechtzukommen, oder den unbedingten Willen der Pariser Boheme, lieber zu verhungern, als von der Malerei zu lassen. Modigliani war eben unfähig, den Pinsel aus der Hand zu legen, um mit irgendwelchen Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dies wäre eine Forderung der praktischen Vernunft gewesen, und nach Maßgabe der reinen Vernunft ist der Wille zur Kunst sowieso eine Anomalie.
Der Mensch hat die Fähigkeit, der realen Welt die Welt seiner Vorstellungen entgegenzusetzen. Dies geschieht kontinuierlich und derart intensiv, dass es sich über Jahrtausende hinweg zur Kunst- und Kulturgeschichte verdichtet, eine Tatsache, die existentiell entbehrlich bleibt, denn die Kunst ist, nochmals gesagt, evolutionstechnisch ohne Belang. Aber sie entsteht trotzdem, und warum dies so ist, kann man nicht erklären. Man kann es nur beschreiben, wie jenen Bereich, den man erahnt, erleidet, aber objektiv nicht zu erfassen vermag, und den die Philosophie mit dem Begriff Metaphysik umschreibt. Dazu gehören auch Fähigkeiten, von denen man nichts wusste und die sich an einem selbst spontan und unwiderruflich vollziehen.
So bleibt mir bis heute unerklärlich, warum ich mit neun Jahren plötzlich damit begann, Gespenstergeschichten zu erzählen, und zwar derart spannend, dass man mich, wenn ein Lehrer krank war, vor die versammelte Schulklasse setzte, um für Ruhe zu sorgen. Als Zwölfjähriger begann ich zu reimen, etwa so:
»Mütterchen hält Märchenstunde,
sitzet traulich am Kamin
und erzählt vom goldnen Schlosse,
das der liebe Mond beschien.«
Es folgten Balladen und epische Versdichtungen, im gleichen naiven Stil. Jahre später, wenn wir mit Rädern Klassenfahrten unternahmen und in einer Scheune übernachteten, erzählte ich, damit alle besser einschliefen, Kriminalgeschichten, und zuletzt, ich war immerhin achtzehn Jahre alt, schrieb ich an einem Roman unter dem Titel Der ewige Jude.
Nun könnte man sagen: Das ist infantiler, jugendlicher Zeitvertreib, der sich spätestens dann erledigt, wenn man gezwungen wird, etwas Vernünftiges zu tun. Aber ich tat nichts Vernünftiges, denn als ich mich für ein Studium an der Filmhochschule in Babelsberg bewarb, war dies wieder der Wunsch, Dinge zu tun, die nicht der realen Welt, sondern der Welt meiner Vorstellungen geschuldet waren. Dies sollte nun professionell geschehen, und damit änderte sich der Horizont meiner Erfahrungen.
Das enge, kulturell analphabetische Milieu meiner Herkunft war aufgebraucht. Stattdessen gab es nun offiziöse Vorgaben. Anstatt voraussetzungslos Gespenstergeschichten zu erzählen, galt es nun, die erkannten und anerkannten Prinzipien der marxistisch-leninistischen Theorie in die Sphäre der Anschaulichkeit zu ziehen. Das große Vorbild war Bertolt Brecht. Er verstand es wie kein anderer, seine Poetik den gesellschaftspolitischen Gegebenheiten anzupassen. Das Ziel war vorgezeichnet: »Die kommunistische Produktionsweise«, schrieb Marx, sei »das aufgelöste Rätsel der Geschichte«², und nun kam es darauf an, den Weg dahin möglichst bunt und eindringlich zu bebildern.
Marx war Hegelianer. Er überführte die Erkenntniseschatologie in die Soziallehre, und dies war das Verführerische am Begriff des Wissenschaftlichen Sozialismus, dass er vorgab, sich einzig und allein mit den Vorgaben der reinen Vernunft absichern zu können, und dass ihm die Risiken der praktischen Vernunft, die Kant mit dem Kategorischem Imperativ flach zu halten versuchte, gar kein Problem waren. Mit anderen Worten: Die psychopathologische Verfasstheit der Mächtigen, ansonsten immer ein Grund, sich zu rechtfertigen, blieb theoretisch vollkommen abgesichert. Der brutale Machtkampf, die blutigen Säuberungen, die millionenfachen Exekutionen galten als Einsicht in die Notwendigkeit, waren also im Sinne der marxistisch-leninistischen Erkenntnislehre, die den Klassenkampf propagierte, vollkommen legitim.
Aber für mich waren damit alle offiziösen Vorgaben aufgebraucht, für mich waren die Verbrechen der KPdSU, die man auf dem XX. Parteitag eingestand, völlig unakzeptabel. Ich hatte die Politische Ökonomie, wie sich zeigte, kantisch aufgefasst, und dies blieb auch so, nachdem ich die DDR, jenes Gebiet, in dem die stalinistische Diktatur herrschte, verlassen hatte.
In Westberlin war ich zunächst damit beschäftigt, eine Poetik zu entwickeln, in der das soziale Gewissen alle Verfehlungen, die in seinem Namen begangen wurden, von sich wies. Der Glaube an eine menschenfreundliche Erkenntniseschatologie blieb ungebrochen. Aber dies waren, wie sich herausstellte, Planspiele, wie wir sie von der Weimarer Klassik her kennen: Auch Schiller versuchte, die Bühne als moralische Anstalt zu nutzen, und für Goethe war die Dichtung eine Gelegenheit, sein pantheistisch untermauertes Weltverständnis zu humanisieren, und während ich mit dem Verfassen von Theaterstücken wie Hundsprozess – Herakles, Die Ermordung des Aias oder Trotzki in Coyoacan beschäftigt war, umklammerte mich eine Wirklichkeit, die nicht kulturpolitisch vorbestimmt, sondern von dem Versprechen der Meinungsfreiheit gekennzeichnet war.
Diese Kennzeichnung war aber, zumindest was die Maßgaben des Poetischen betrifft, ein falsches Versprechen. Etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts, seit sich die Sphäre der Kommunikation zu liberalisieren begann, waren auch die Druckerzeugnisse des Poetischen nicht mehr ausschließlich den Vorgaben des Absolutismus unterworfen. Es begann das Zeitalter der Öffentlichkeit, aber Öffentlichkeit ist den Maßgaben der Kunst nicht unbedingt förderlich.
»Wer übrigens nicht glauben will«, argumentierte Goethe, »dass vieles von der Größe Shakespeares seiner großen, kräftigen Zeit angehört, der stelle sich nur die Frage, ob er denn eine solch staunenerregende Erscheinung in dem heutigen England von 1824, in diesen schlechten Tagen kritisierender und zersplitternder Journale für möglich halte. Jenes ungestörte, unschuldige, nachtwandlerische Schaffen, wodurch allein etwas Großes gedeihen kann, ist gar nicht mehr möglich. Unsere jetzigen Talente liegen alle auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit.«³
Goethe warnte vor der aufkommenden Literaturkritik noch aus der Sicherheit eines intakten, die eigenen Zusammenhänge begreifenden Kulturbewusstseins, heute gewinnt der Kritiker immer mehr an Macht, der Schriftsteller verliert jeden markttechnischen Einfluss, und ob er auf einem Präsentierteller seine Leser erreicht, darüber entscheidet der Kritiker, dem allzu oft die Maßstäbe einer kritischen Selektion fehlen. Er formt zwar das aktuelle Literaturangebot in den Feuilletonspalten zur Kontinuität, indessen: Was er auch tut, er spekuliert immer über das Angebot am aktuellen Literaturmarkt, ansonsten bringt er nichts Neues ein. Aber er hat die Macht, und dies zwingt den Schriftsteller, sich mit dem Kritiker, damit er ihn protegiert, ins Einverständnis zu setzen.
Sicher, es gibt Ausnahmen, und man liest auch kompetente Rezensionen, aber ausschließlich von Leuten, die keine Meinungsführerschaft geltend machen können. Ansonsten gilt immer noch der bittere Satz von Nietzsche: »Talent haben ist nicht genug, man muss auch eure Erlaubnis dazu haben, – wie? Meine Freunde?«⁴ War es für Wagner oder Bruckner fast unmöglich, sich der Feindschaft Hanslicks zu entziehen, so beherrschte hundert Jahre später ein Feuilletongewaltiger wie Reich-Ranicki jahrzehntelang den deutschen Literaturbetrieb. An ihm kam kein Schriftsteller, wenn er Erfolg haben wollte, vorbei.
Auch in der Sphäre der Meinungsfreiheit muss sich der Künstler also offiziösen Vorgaben unterwerfen, und es wird ein Geheimnis bleiben, warum die Nachwelt jene, die sie als Mitwelt bis ins existentielle Elend hinein unbeachtet ließ, besonders feiert, warum man Literaturpreise im Namen von Kleist, Büchner, Hölderlin verleiht, obwohl allgemein bekannt ist, dass eben diese Dichter zu ihren Lebzeiten verkannt waren. Und wie wenig man bereit ist, die Selbstachtung und psychologische Verfasstheit lebender Schriftsteller in Rechnung zu stellen, zeigt die neuerliche Praxis, Long- und Shortlists für öffentliche Ehrungen zu lancieren, in denen ein Selektionsverfahren herrscht, das an Viehmärkte erinnert.
Nun könnte man sagen, dass Verkennung durch Zeitgenossenschaft, will man sie begrifflich fassen, zu den tautologischen Befunden gehört. Zeitgenossenschaft beinhaltet schon Verkennung, so wie sie auch Anerkennung beinhalten kann. Auch früher gab es im kulturhistorischen Geschehen so etwas wie eine Metaphysik der Umstände. Das Schicksal von Kleist wird immer wieder zitiert, aber auch die Erfolglosigkeit des Franzosen Stendhal bleibt letzten Endes rätselhaft. Hatte ihm der einflussreiche Balzac nicht mehrmals und ausdrücklich unter die Arme gegriffen?
Und wenn es wahr ist,