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Scheherazade: Erzählung
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Scheherazade: Erzählung

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About this ebook

Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Schriftsteller. Wenn er eines gelernt hat, dann das Erzählen. Als seine Frau Katja stirbt und er den Verlust nicht fassen kann, kommt er deshalb auf die Idee zu erzählen. Wie Scheherazade: tausendundeine Nacht erzählen, bis das Sterben aufhört. Den Tod besiegen durch Geschichten. Sich selbst erzählen, hinein ins Herz der Dinge, an jenen innersten Ort, wo die Zeit aufgehoben ist. Doch dieses Erzählen, das er früher beherrschte, ist nicht mehr so einfach. Zu sehr ist sein Schreiben Routine geworden, und die Geschichten, die er erfinden könnte, sind Legion. Dennoch wagt er das Abenteuer, trifft Scheherazade in ihrem Palast, begegnet dem mysteriösen Herr Hölderlin und wird in das Herz des innersten Tempels eingeführt, wo er am Ende seines Trips in die Fiktion der Seele landen wird, ist ungewiss.
LanguageDeutsch
Release dateAug 10, 2017
ISBN9783744862493
Scheherazade: Erzählung
Author

Rainer Gross

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen. Studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 wieder in Reutlingen. Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012). Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödin-gers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017).

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    Scheherazade - Rainer Gross

    Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Schriftsteller. Wenn er eines gelernt hat, dann das Erzählen. Als seine Frau Katja stirbt und er den Verlust nicht fassen kann, kommt er deshalb auf die Idee zu erzählen. Wie Scheherazade: tausendundeine Nacht erzählen, bis das Sterben aufhört. Den Tod besiegen durch Geschichten. Sich selbst erzählen, hinein ins Herz der Dinge, an jenen innersten Ort, wo die Zeit aufgehoben ist. Doch dieses Erzählen, das er früher beherrschte, ist nicht mehr so einfach. Zu sehr ist es Routine geworden, und die Geschichten, die er erfinden könnte, sind Legion. Dennoch wagt er das Abenteuer, und wo er am Ende seines Trips in die Fiktion der Seele landen wird, ist ungewiss.

    Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 in Reutlingen.

    Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

    Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yūomo (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016).

    Es ist heiß. Über dreißig Grad. Seit sie die Bäume vor dem Haus gefällt haben, knallt die Sonne auf den Balkon und heizt das ganze Wohnzimmer. Ich habe die Balkontür offen und ein Fenster über Eck, sodass es manchmal einen Durchzug gibt. Ich habe wenig an. Es sieht mich ja niemand. Ich bin ja allein in der Wohnung. Katja hätte es auch nichts ausgemacht, mich in Shorts und Muskelshirt zu sehen. Im Gegenteil. Aber seit ich allein bin, ist es mir wurscht, wie ich herumlaufe. Auch draußen. Ich gehe auch so an die Tür, wenn der Postbote klingelt. Was selten geschieht. Früher habe ich mir immer gebrauchte Bücher aus dem Internet bestellt, die hat er dann in den gepolsterten Umschlägen gebracht. Ganze Wände standen voll mit Bücherregalen. Beim Umzug in die Zweizimmerwohnung habe ich ausgemistet, ganze Kartons voll Bücher weggeschmissen. Bücher, die ich nie lesen werde oder die ich gelesen habe und kein zweites Mal lese. Seither gibt es nur noch zwei Regale, eins im Wohnzimmer und eins im Schlafzimmer. Ein drittes Zimmer habe ich nicht mehr. Das war Katjas Zimmer. Katja war meine Frau. Sie ist vor sechs Monaten an Krebs gestorben.

    Es ist mir mittlerweile gelungen, wieder eine Ordnung in der Wohnung herzustellen. Ich meine nicht nur den letzten Umzugskarton, den ich ausgeräumt habe. Ich meine eine Zusammenstellung der Dinge, die mir wichtig sind und mir Sicherheit geben. Das Regal hinter mir zum Beispiel, in dem die ganzen deutschen Schriftsteller stehen, Hemingway und Proust und dann die chinesische und japanische Literatur, klassisch und zeitgenössisch. Das tut mir gut: zu wissen, dass ich die Bücher habe und dass sie an ihrem Platz stehen. Was ich immer wieder in die Hand nehme, ist der Genji-Monogatari, die Geschichte des Prinzen Genji aus dem mittelalterlichen Japan. Oder das wahre Buch vom südlichen Blütenland von Zhuangzi oder, nach der alten Transkription, Dschuang Dsi. Auch das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon und einige Bändchen mit Haikus, in denen ich gern blättere. Und natürlich Bashōs Reise ins Hinterland und ein Bildband mit den dreiundfünfzig Stationen des Tokkaido von Hiroshige. Dabei entdecke ich auch einen Band mit Märchen aus Tausendundeiner Nacht, eine Neuübersetzung, nehme den dicken Schmöker heraus und lese hinein. Befremdliche Lakonie, man denkt vielleicht, das wird ornamental ausgeschmückt, blumige Sprache und so, aber die Dinge werden straff hererzählt. Das bringt mich auf Scheherazade.

    Die Geschichte ist rasch berichtet: Ein Wesir ist von der Treulosigkeit der Frauen tief enttäuscht und beschließt, sich nicht mehr betrügen zu lassen. Er heiratet jeden Tag eine neue Frau und lässt sie am nächsten Morgen töten. Scheherazade will dem ein Ende bereiten und heiratet den Wesir. In der Nacht erzählt sie ihm eine Geschichte, die abbricht, als der Morgen kommt. Anstatt sie töten zu lassen, will der Wesir das Ende der Geschichte hören, und Scheherazade erzählt am nächsten Abend weiter, erfindet immer weitere Untergeschichten und Rahmenhandlungen, das Ganze verschachtelt sich unübersichtlich tausendundeine Nacht lang, bis der Wesir seine Frau am Leben lässt. Das hat mich auf den Gedanken gebracht zu schreiben: Erzählen, damit niemand mehr stirbt. Gegen den Tod erzählen. Deshalb sitze ich hier.

    Ich habe die Vorhänge zugezogen. Im Dämmerlicht rücken die Dinge des Wohnzimmers nah zusammen. Draußen höre ich den Lärm von einer Baustelle, schwere Maschinen, die viel bewegen, aber laut sind, je mächtiger, desto dröhnender. Das hat der Mensch geschafft, denke ich: Geräte bauen, mit denen er Tonnen von Erde bewegen kann und Eisenträger heben und Steine zertrümmern, aber gegen den Krach hat er nichts erfunden. Unbekümmert gehen die Bauarbeiter zu Werke. Sie sitzen am Hebel, der die hunderte Pferdestärken bewegt, sie sitzen mitten im Wirkungskreis und haben oft einen Hörschutz auf: Ihnen kann es egal sein, wie viel Krach sie machen. Ihnen ist es egal. Manchmal habe ich den Eindruck, das müssen sie die ganze Nachbarschaft wissen lassen: was sie alles bewegen können. Ab und zu höre ich das Gurren der Ringeltauben, die in den Birken ringsum nisten. Eine Stimme nebenan auf dem Balkon. Irgendwo bohrt jemand in die Ziegelwand. Im Hausflur plärrt ein Kind. Musik habe ich nicht spielen. Früher habe ich viel mit Musik geschrieben, aber jetzt lenken mich die Gefühle, die die einzelnen Stücke auslösen, eher ab. Katja hat auch nur über Ohrhörer Musik gehört, von ihrem mp3-Player. Wenn sie in ihrem Zimmer war. Manchmal noch irre ich auf dem Flur umher und suche die Tür, die Tür zu ihrem Zimmer, wo ich davor stehen und sacht klopfen und dann hineinschauen würde, um sie auf dem Bett liegen zu sehen, die Ohrhörer drin und die Augen geschlossen. Was ist denn?, würde sie fragen. Nichts, würde ich antworten, ich wollte nur nach dir sehen. Manchmal fange ich an zu zittern und muss mich gegen die Flurwand lehnen. Tränen laufen mir aus den Augen, kalt und taub. Ich kann nicht begreifen, dass sie nicht mehr da ist.

    Es ist heiß. Am Schreibtisch läuft mir der Schweiß den Rücken hinab, ich kann spüren, wie er mein Rückgrat entlang rieselt; die Ellbogen, die ich aufstütze, hinterlassen nasse Flecken auf dem Holz. Es hat dreißig Grad im Wohnzimmer, ich habe auf dem Thermometer nachgesehen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und lasse mir in der Badewanne kaltes Wasser einlaufen. Kein Vollbad, nur so bis zum Nabel. Lege mich hinein. Wahnsinn. Es braucht nicht lange, bis der Körper heruntergekühlt ist. Dann beginne ich zu frieren. Aber es hat geholfen. Statt mich abzutrocknen, bin ich nackt und nass durch die Wohnung gegangen, habe in der Küche Saft getrunken, aus dem angebrochenen Tetrapack im Kühlschrank, habe mir eine Zigarette gedreht und geraucht, und dann war ich auch schon trocken.

    Ich gehe nicht aus dem Haus. Ich gehe nicht vor die Tür. Ich will die Welt da draußen nicht sehen. Ein Freund hat mir mal erzählt, dass er sich nach dem Unfalltod seiner Schwester zwei Wochen lang in der Wohnung vergraben hat, die Vorhänge zugezogen, und ununterbrochen die Mondschein-Sonate von Beethoven gehört hat. Oder war es die Jupiter-Symphonie von Mozart? Egal, jedenfalls mache ich den Tag zur Nacht, auch ohne Mozart. Wenn es endlich Abend wird, die Dämmerung kommt – es ist jetzt Mitte August, sie kommt eine Stunde früher als noch vor einem Monat – und es draußen still wird, dann atme ich auf. Der Tag ist überstanden. Ein Gefühl von Freiheit überkommt mich, das Gefühl, dass nun alles möglich ist. Frieden, ja. Dann beginne ich die kurze Nacht. Morgens um fünf wird es ja schon wieder hell. Mittags verschlafe ich manchmal die heißeste Zeit auf dem Sofa. Das alles kann ich tun, wenn ich meine Arbeit erledige. Ich muss nicht aus dem Haus. Ich habe meine Bezüge, schreibe täglich fürs Abendblatt eine Glosse, habe drei Buchrezensionen liegen, die ich noch abliefern muss, und mein letzter Roman hat immerhin schon eine Auflage von zehntausend Exemplaren. Bisher haben die Einnahmen gereicht, um die Wohnung zu finanzieren. Nachdem Katjas Zweitverdienst weggefallen ist, wurde es knapp. Ich konnte die Dreizimmerwohnung nicht mehr halten.

    Manchmal schaue ich auch fern. Gerade am Nachmittag und am Vorabend schaue ich eine amerikanische Serie, die Katja so gern gesehen hat. Eigentlich gefällt sie mir überhaupt nicht, aber es ist mit den Jahren zu Katjas Serie geworden. Ich schalte ein und trinke Tee nebenher und stelle mir vor, nein, ich tue so, als ob sie jetzt hier wäre und

    Ach, was soll’s.

    So geht das nicht. Ich kann nicht von Katja erzählen. Oder genauer: Ich will es nicht. Ich könnte die Dinge hererzählen, wie wir uns kennen gelernt haben, der erste Kuss, das Händchenhalten am See, der gemeinsame Bummel durch die Altstadt, das Sitzen am Kanal und der eine Augenblick des Zaubers, als ich das Gefühl hatte, direkt in ihre Seele schauen zu können undsoweiter undsoweiter. Dieses ganze David-Copperfield-Zeug, das mich unsäglich langweilt. Wieso langweilt? Weil es die banale Kehrseite des Lebens ist. Weil die Wirklichkeit, als sie geschah, keine Geschichte war. Weil ich damals nicht der war, der ich jetzt bin, wenn ich die Geschichte erzähle, weil ich überhaupt, wenn ich erzähle, ein Anderer bin, ein Alias, ein Fremder in meinem Kopf, den ich nicht scheuchen kann. Ein Flötenspieler, blue notes, und wenn er mit seinen urzeitlichen Trillern und Weisen beginnt, tanzt meine Fantasie und ich muss ihm folgen, folgen in die Abgründe einer Welt, die noch voller Geheimnis und Rätsel und voller bunter Bilder steckt, eine Regenbogenwelt, ein Flug zum Regenbogen, regenbogene Geschöpfe, die sich in meinem Netz verfangen, und regenbogene Iriden, die mich im

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