Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen
Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen
Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen
Ebook1,189 pages13 hours

Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

"Schon die vormodernen Gesellschaften praktizierten das, was für Geschichten theatraler Tätigkeiten prägend geworden ist: die mehr oder minder intensive Beschäftigung mit dem sozialen, kulturellen und politischen Gefüge ihrer Gemeinschaften, der Lage ihrer Subjekte und der Situation des Menschen in der Welt überhaupt."

Der international renommierte Berliner Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach bündelt Erkenntnisse eines Forscherlebens in einem theatergeschichtlichen Kompendium, das neue Maßstäbe der Theatergeschichtsschreibung setzt. Sein Denken ist rigoros kulturgeschichtlich fundiert, es begreift theatrale Phänomene und Prozesse konsequent in ihren politischen Dimensionen und frei von eurozentristischer Kurzsichtigkeit und Larmoyanz.

In unvergleichlichem Materialreichtum eröffnet der Band Horizonte einer Welt-Theater-Geschichte. Fiebach versteht Theater als ein globales Feld kultureller Praktiken und zeigt Widersprüche und Brüche theatergeschichtlicher Linien als Langzeitprozesse, die Geschichte mit Brisanz in die Gegenwart hinein verlängern.
LanguageDeutsch
Release dateMay 21, 2015
ISBN9783957490568
Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen

Related to Welt Theater Geschichte

Related ebooks

Performing Arts For You

View More

Related articles

Reviews for Welt Theater Geschichte

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Welt Theater Geschichte - Joachim Fiebach

    Joachim Fiebach – Welt Theater Geschichte

    Joachim Fiebach

    Welt Theater Geschichte

    Eine Kulturgeschichte des Theatralen

    © 2015 Theater der Zeit

    Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

    Verlag Theater der Zeit

    Verlagsleiter Harald Müller

    Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

    www.theaterderzeit.de

    Lektorat: Lena Schneider

    Fachlektorat: Erhard Ertel

    Personen- und Sachregister: Hugo Velarde

    Fotoredaktion: Maryvonne Riedelsheimer

    Gestaltung: Sibyll Wahrig

    Umschlagabbildung: Darstellung einer Kabuki-Aufführung. Undatierter Holztafel-druck von Utagawa Toyoharu (1735 – 1814). Foto Museum of Fine Arts, Boston

    ISBN 978-3-95749-020-9 (Hardcover)

    ISBN 978-3-95749-056-8 (E-Book)

    Joachim Fiebach

    Welt

    Theater

    Geschichte

    Eine Kulturgeschichte des Theatralen

    Vorbemerkung

    ERSTER TEIL

    DIE VORMODERNE

    Kapitel ITheatrale Lebensgestaltung

    Daseinsdeutung historisch früher Gesellschaften

    Macht des Ideologischen

    Theatralität des mythisch-religiösen Denkens

    Kapitel IITheater als besonderes gesellschaftliches Feld

    Das ästhetische Interesse

    Formen des Ausdifferenzierens von Theater

    Das Theater der Oral Performance

    Geschichten der Herausbildung komplexen Theaters

    Antike Tragödie und Wege zum Nō

    Kapitel IIIIdeologisches Potenzial und ästhetische Strategien

    Tragödie und Alte Komödie in der demokratischen Polis Athen

    Argumentativ-reflexives Denken, vor-geschriebenes Theater

    Reflexionen unauflösbarer Widersprüchlichkeit: Nō-Theater

    Krisen des Besonderen in einer geschlossenen Welt: Japans Kabuki

    Pragmatische Einordnung des Individuellen: Klassisches Theater in China

    Das Epische als Darstellungs- und Kommunikationsprinzip

    Religiöses Theater des europäischen Mittelalters

    Kapitel IVDas Widersprüchliche der Dinge

    Das Komisch-Lächerliche und das Ernste

    Lachen mit den Toten in Ozeanien

    Weise Clowns und aggressive Frauen (Afrika)

    Tanzende Totengeister im Südwesten Nordamerikas

    Profanes und Heiliges im europäischen Mittelalter

    Variationen komischen Theaters

    Verkehrungsrituale in Afrika und Amerika

    Verkehrungstheatralität im europäischen Mittelalter

    ZWEITER TEIL

    DER HISTORISCHE KAPITALISMUS IN EUROPA

    (16. – 18. JAHRHUNDERT)

    Kapitel IDie Ordnung der Welt als geordnetes Theater

    „Illusionistische" Perspektiv- oder Bildbühne

    Das aristotelisch regelmäßige Drama

    Modernes wissenschaftliches Denken

    Das Literarische als das Theater

    Buchdruck mit mechanischen Lettern

    Anschauungsverzicht und abstrahierendes Denken

    Frühkapitalistische und nationalstaatliche Ordnung der Dinge

    Kapitel IIEine andere Moderne I: Shakespeare

    Unregelmäßiges Theater im elisabethanischen England

    Neues Verhalten zur Welt

    Vielschichtig-dissonantische Realitäten

    Kapitel IIIAmbivalenzen der neuen Ordnung

    Bürgerlich-puritanische Revolution

    Die Dialektik der neuen Realitäten: Sein und Schein

    Kapitel IVBürgerliche Indienstnahme des Theaters

    Ein geordnetes Theater für die bürgerliche Ordnung

    Das einzigartige Individuum und seine (Theater-)Identität

    Verbergen des Theaters

    Aufklärung und bürgerliche Lebenswelt: Die vierte Wand

    Vom Komödianten zum Menschendarsteller

    Kapitel VEine andere Moderne II: Commedia dell’Arte

    Commedia dell’Arte im Italien des 16. Jahrhunderts

    Das Théâtre Italien in Paris

    Das Théâtre de la Foire: Pariser Jahrmarktstheater

    Geschicke der modernen Commedia-Form

    Kapitel VISoziokulturelle Verdrängung und Fragmentierung

    DRITTER TEIL

    DAS (LANGE) 19. JAHRHUNDERT

    Kapitel ILeidenschaft für das Theatrale

    Spaltungen und Paradoxe

    Theater in der bürgerlichen Ordnung

    Das „gutgemachte" Konversationsstück

    Spektakuläres Theater und Music Hall

    Kapitel IIIllusionistische Abbilder

    Panoramen und Dioramen

    Fotografie

    Reformiertes Theater

    Kapitel IIIUnbehagen an der bürgerlichen Ordnung

    Wagners Konzept eines theatralen Gesamtkunstwerks

    Naturalismus

    Das Moskauer Künstlertheater: Stanislawski

    Exkurs: Schauspiele des globalen Kapitalismus

    Spektakel der alltäglichen Warenzirkulation: Passagen

    Weltausstellungen

    Kapitel IVKolonialismus und imperiale Modernisierung

    Europas zivilisatorische Mission in Mittel- und Südamerika

    Literarisches Guckkastentheater für die Karibik

    Eine Ausnahme im subsaharischen Afrika: Südafrika

    Die subversive Kraft des importierten Theaters: Indien

    Formen nicht-literaturbasierten Theaters: Arabien

    Transkulturelle theatrale Darstellungen: Beni Ngoma in Ostafrika

    Kapitel VDer antinaturalistische Umbruch in Europa

    Edward Gordon Craig und Adolphe Appia

    Max Reinhardt

    Kapitel VIDer historische Kontext

    Neue Urbanität und Film

    Konsumkultur

    Ästhetik des Verschwindens

    Vertreibung des Menschen aus der Kunst

    Kapitel VIIAmbivalente Haltungen zur Welt

    Affirmation und Entfremdung

    Kunst als Lebensmöglichkeit

    Italienischer Futurismus

    VIERTER TEIL

    DIE ERSTE HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS

    Kapitel ITheater, Krieg und die Erschütterung des Kapitalismus

    Erfahrungen des ersten totalen Krieges

    Dada-Bewegung

    Kapitel IIPolitisierung der 1920er und 1930er Jahre

    Avantgarde der 1920er Jahre in Sowjetrussland

    Antikapitalistisches Theater in Deutschland: Piscators Montagen und Agitprop

    Kritisches Theater und Agitprop in den USA und Westeuropa

    Kapitel IIITheater an der außereuropäischen Peripherie

    Anti-koloniale Modernisierung in China

    Modernisierungsversuche in Japan

    Einverleibung der Moderne in Südostasien

    Drama und Theater der ausgebildeten Schichten in Westafrika

    Concert Partys und Yoruba Wandertheater

    Kapitel IVDie Macht audiovisueller Mediatisierung

    Theater und Kino: Existentielle Positionierungen

    „Filmisierung" von Theater

    Mediatisierung: Schnittstelle von Kunst und Konsum

    Kapitel VOrchestration von Bewegung: Performancekunst

    Performance im theaterkünstlerischen Paradigmenwechsel

    Avantgardefilm als Performancekunst

    FÜNFTER TEIL

    DIE ZWEITE HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS

    Kapitel IDas Theater Brechts

    Gegensätzliche künstlerische Fluchtlinien nach 1945

    Brechts dekonstruierende Kunstkonstruktionen

    Kapitel IIDie 1960er und 1970er Jahre

    Happening, Aktionskunst, Performance

    Das Arme Theater: Jerzy Grotowski

    Engagement und politisches Theatermachen

    Benno Bessons poetische Darstellungsweise

    Heiner Müller: Die Ideen und die Körper

    Juri Ljubimow: Gegner von Idolen

    Peter Brook: Gegen Lügen

    Das Living Theatre: Brecht und Artaud

    Bread and Puppet Theater und San Francisco Mime Troupe

    Deutsches Agitprop- und Dokumentartheater

    Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin

    Nuevo Teatro Popular: Enrique Buenaventura und Augusto Boal

    Wole Soyinka: Kunst in der politischen Unabhängigkeit

    Theater gegen die Apartheid

    Kapitel IIIDie 1980er Jahre

    Heiner Müller: No hope, no despair

    Keine Interpretation

    Das Théâtre du Soleil im Stählernen Zeitalter

    Performance Art – Live Art

    Neue Subjektivität

    Mediales Quidproquo: Kapitalistischer Realismus

    Andere Theaterlandschaften

    Indonesien unter dem Suharto-Regime

    Theatre for Development im subsaharischen Afrika

    SECHSTER TEIL

    AUSBLICK

    Das Verschwinden der Geschichte im Medial-Gegenwärtigen

    Theater in der „flüchtigen Moderne"

    Nicht Realismus, sondern Realität

    Inseln des Widerstands

    ANHANG

    Anmerkungen

    Personenregister

    Sachregister

    Bildnachweis

    Vorbemerkung

    Als das Fernsehen in den 1960er Jahren praktisch jede Wohnung besetzt hatte und sich die Konturen einer audiovisuell durchmediatisierten Gesellschaft abzeichneten, schien es, als könnten theaterkünstlerische Darstellungen, die sich nur im Zeitraum personal unmittelbarer, nicht-mediatisierter Kommunikation realisieren, perspektivisch gesehen jede soziokulturelle Bedeutung verlieren. Ein kritischer historisch-materialistischer Blick in die Geschichten des Theaters, der historischen Kurven und Brüche seiner gesellschaftlichen Funktionen und seiner gestalterischen Formen schien meinem Freund Rudolf Münz und mir unverzichtbar, um die gegenwärtige Situation und, hoffentlich, weitere, künftige Entwicklungen genauer verstehen und so als Theaterforscher produktiv in ihnen wirken zu können. Wir nahmen Anlauf zu einem Buch zur Geschichte deutschen Theaters in ihren komplexen soziokulturellen, auch international-europäischen Verflechtungen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Das Projekt tendiere zu einer Kulturgeschichte, ohne sich in eine allgemeine Kulturgeschichte aufzulösen, schrieben wir 1973. Wir kamen nicht über erste Entwürfe hinaus. Es musste geklärt werden, was es bedeutet, was es impliziert, Theaterkunst als eine sehr spezifische kulturelle Produktion zu sehen. Münz vertiefte sich in die Beschäftigung mit der kulturellen Reichweite des hier verkürzt Commedia dell’Arte genannten Theaters und des Harlekin-Phänomens, ich verfolgte den theatralen Charakter kultureller Vorgänge des Alltags und die Theatralität soziopolitischer Aktivitäten. In meinem Buch zum Theater in Afrika, an dem ich seit dem Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre arbeitete, suchte ich geschichtlich konkrete Zusammenhänge, Korrespondenzen und auch das Gegeneinanderwirken von nicht-ästhetisch dominierten theatralen soziokulturellen Praktiken und ausdifferenziertem Theater bzw. Theaterkunst aufzuzeigen.

    Ende der 1980er Jahre setzten wir wieder an, ausgehend von einem von Münz kulturanthropologisch orientierten Aufriss, gemeinsam mehrere Bände zur Geschichte jetzt des internationalen Theaters zu schreiben. Es blieb bei Planungen. Mir war inzwischen die enorme ideologische Wirksamkeit der Darstellungen von Welt in den audiovisuellen Medien klargeworden. Die kritische Untersuchung ihrer theatralen Konstruktionen von Realität erschien mir dringender in einer Gegenwart, in der, wie Manuel Castells schrieb, Politik zu Theater wird, in der gesellschaftliche Auseinandersetzungen vor allem in den und durch die Medien geführt werden und Macht als „capacity to impose behavior" in den Netzwerken des Informationsaustauschs und durch symbolische Manipulation ausgeübt wird. Nicht zuletzt angestoßen von Georges Balandiers Buch LE POUVOIR SUR SCÈNES suchten die Vorlesungen zu theatergeschichtlichen Linien, die ich bis 1999 an der Berliner Humboldt-Universität hielt, Funktionen und gleichsam mediale Formen theatraler Konstruktionen soziopolitischer Realitäten und ihre Korrespondenzen mit dem ausdifferenzierten Theater historisch von schriftlosen Kulturen bis zur heutigen audiovisuell mediatisierten Gesellschaft zu verfolgen.

    Die im Sinne Castells für das Denken und Verhalten der Individuen äußerst wirksamen, apologetisch uniformierten Fernsehdarstellungen des Nato-Einfalls in Jugoslawien im Frühjahr 1999 waren für mich ein einschneidendes Erlebnis. Es zwang zur vertieften Beschäftigung mit den gestalterischen Verfahrensweisen audiovisueller Medien, besonders der selektiven und raffiniert-parteiischen theatralen Konstruktionen gesellschaftlicher Vorgänge des hegemonialen, vorgeblich objektiven Fernsehens, und in diesem Zusammenhang mit den Geschichten nicht-ästhetisch dominierter Darstellungen soziokultureller, politischer und ökonomischer Realitäten überhaupt. Ein Ergebnis war 2007 das Buch INSZENIERTE WIRKLICHKEIT. KAPITEL EINER KULTURGESCHICHTE DES THEATRALEN.

    Vorlesungen und Seminare, die ich seitdem an der Freien Universität Berlin hielt, rückten wieder das ausdifferenzierte Theater in den Vordergrund und verfolgten kritisch diskontinuierliche geschichtliche Linien seiner soziokulturellen Funktionen und gestalterischen Formen. Der vorliegende Band vermittelt das Wesentliche des in den Vorlesungen Dargelegten, wie das Projekt der 1970er Jahre nicht zuletzt in der Absicht, mit der kritischen Beobachtung der geschichtlichen Geschicke des Theaters zum produktiven Umgang mit seinen heutigen Dispositionen und Problemen beizutragen.

    Ich danke den Studierenden, die zu diesem Buch ermunterten, sowie denen, ohne die es in der vorliegenden Fassung nicht hätte zustande kommen können, besonders den Freunden und Kollegen Antje Budde, Erhard Ertel, Florian Thamer, Maryvonne Riedelsheimer und Lena Schneider, die ich für die verschiedenen Stadien der Manuskriptentwicklung als unerlässliche kritische Zu- und Mitarbeiter erlebte.

    Berlin, Februar 2015

    Als Kachina maskierte Hopi-Tänzer in Walpi Village, Arizona. Foto von James Mooney, 1893

    ERSTER TEIL

    DIE VORMODERNE

    Wann und wie entwicklungsgeschichtlich frühe Gesellschaften theatral handelten und ob sie Theater als spezifische, gleichsam ästhetisch dominante Praktik ausdifferenzierten, ist unbekannt. Für Tätigkeiten, die an den lebenden Körper gebunden sind, von ihm produziert werden, gibt es keine archäologischen Belege. Es dürfte aber keine völlig abwegige Annahme sein, dass Menschen theatral seit den Zeiträumen handelten, in denen sie jene Bildnisse auf Felsen bzw. in Höhlen zeichneten und/oder einritzten, die bis zu über 20 000 Jahre zurückzudatieren sind. Die Malereien, Zeichnungen, Gravierungen zeigen Erscheinungen und Geschehnisse von Tieren, Menschen und den Beziehungen zwischen Menschen und der Natur (Tier- und Pflanzenwelt) bis hin zu Maskierungen, die dem ähneln, was steinzeitlich produzierende Jäger- und Sammlergemeinschaften, die noch bis ins 20. Jahrhundert zu beobachten waren, theatral ausagierten – im Bemühen, ihre Existenz zu sichern, ihr Leben und ihr Dasein in der Welt sinnvoll zu deuten und, vielleicht nicht zuletzt, aus Genuss am Machen der Dinge (am Ästhetischen). So ist zu vermuten, dass mit dem ganzen Körper vollzogene kommunikative symbolische oder eben theatrale Handlungen eine nicht unwichtige, vielleicht sogar sehr wesentliche Rolle in den früheren Stadien der Geschichte der Menschheit gespielt haben.

    Aus der Beobachtung noch existenter Jäger- und Sammlergesellschaften und der vorsichtigen Auslegung weit zurückliegender schriftlicher Erwähnungen steinzeitlicher schriftloser Völker lassen sich aber Umrisse früher vormoderner theatraler Tätigkeiten zeichnen. Fragen nach deren Entwicklungen, nach der Art ihrer möglichen Veränderungen, dürften allein durch das zumindest regional für Jahrhunderte wohl nicht auszuschließende kulturelle Aufeinander-Einwirken unterschiedlicher vormoderner Gesellschaftstypen – schriftloser, weitgehend sozial egalitärer Jäger- und Sammlergemeinschaften, schwach hierarchischer ackerbauender Dorfgemeinschaften und komplex hierarchisierter, sozial gleichsam klassenmäßig differenzierter Staaten – nicht sinnvoll sein. Generell, und dann auch nur teilweise, lassen sich geschichtliche Bewegungen vormoderner theatraler Praktiken und kulturgeschichtliche Linien von Theater im engeren Sinn erst mit dem Aufkommen hinreichender ikonografischer und schriftlicher Zeugnisse verfolgen.

    Kapitel I

    Theatrale Lebensgestaltung

    Daseinsdeutung historisch früher Gesellschaften

    Darstellerische Praktiken dürften für lebensweltliche wie systemische sozialpolitische und soziokulturelle Prozesse vormoderner Gesellschaften eine große Bedeutung gehabt haben. Zugespitzt ließe sich verallgemeinern, dass sie Tätigkeiten, die ihnen lebensnotwendig erschienen, auch und gerade theatral vollzogen oder realisierten. Soweit zu beobachten war/ist, gilt das besonders für historisch frühe Gesellschaften, für ihre Auseinandersetzung mit der Natur (Jagd, Ackerbau, Viehzucht), für das Verhandeln von Drehpunkten gemeinschaftlichen und individuellen Lebens wie Geburt, Fruchtbarwerden und Sterben, für die Ausgestaltung sozialer Ordnungsgefüge, für ihr in der Regel mythisch gedachtes Verhältnis zu Raum und Zeit und zur eigenen Vergangenheit bzw. zu den Ahnen. In spezifischen Formen und mit spezifischen Wirkungsweisen praktizierten sie das, was für Geschichten theatraler Tätigkeiten oder eben des Theaters prägend geworden ist: Die mehr oder minder intensive Beschäftigung mit dem sozialen, kulturellen und politischen Gefüge ihrer jeweiligen Gesellschaften und Gemeinschaften, mit der Lage ihrer Subjekte bzw. der Individuen und mit der Situation des Menschen in der Welt überhaupt. Geschichtliche Bewegungen des Theaters hätten so ihre Anfänge gehabt in, überspitzt formuliert, diskontinuierlichen Abfolgen oder je variierenden Ausprägungen theatraler Praktiken steinzeitlicher, jedenfalls sehr „früher" Kulturen.

    Beobachtungen der nomadischen Jäger- und Sammlergemeinschaften der südafrikanischen Khoisan-Völker zusammenfassend, bemerkte der Linguist Clement Martyn Doke in den 1930er Jahren, sofern nur ihre Nahrung gesichert und ihre Unterkunft gebaut worden sei, beschäftigten sie sich ausgiebig mit Darstellungen.¹ Und 1907 hatte der Geograf Siegfried Passarge berichtet, die Khoisan seien mit solcher Leidenschaft bei ihren Tänzen, dass sie selbst in gefährlichen Situationen alle Vorsicht außer Acht ließen und dass so manche Khoisanhorde in „ihrem Vernichtungskampf mit den Buren beim Tanz im Mondschein umstellt und niedergeknallt wurde.² Die Khoisan Südafrikas, lange Zeit als „Buschmänner bezeichnet, realisierten entscheidende Momente/Drehpunkte ihres Lebens und ihre als notwendig genommene mythische Reflexion über ihre Herkunft in der Welt und die Beschaffenheit der Welt (Kosmologie) überhaupt theatral. In diesem Sinne beschäftigte sich ihr Theater wesentlich mit Sinndeutung der Existenz ihrer jeweiligen Gemeinschaften und des Menschen generell, mit dem Herkommen bzw. Hineinkommen in die Welt sowie dem Tod (Sterben/Vergehen), und es war tendenziell nicht zu trennen von der Gestaltung ihrer Lebensrealitäten wie Geburt, Erreichen der Fruchtbarkeit (Initiation), dem Übergang vom „neutralen Kindesleben in die Gruppe der Erwachsenen, ins „ernste Leben, in die Sicherung des Überlebens (Jagd).³ Die erste Menstruation eines Mädchens wurde mit einem Tanztheater begangen, hatte Passarge 1907 beobachtet. Den Geschlechtsakt von Tieren mimend, symbolisierte man, dass Fruchtbarkeit Leben ständig erneuert und damit fortwährende Existenz sichert.

    Die alten Weiber stehen an einer Stelle und bilden die Musikkapelle, indem sie singen, in die Hände klatschen und mit Eisenstücken klappern. Zu ihren Füßen liegt das junge Mädchen auf der Erde. Die verheirateten „jüngeren" Frauen gehen nun im Gänsemarsch, zu dem Takt der Musik mit den Füßen aufstampfend und die nach abwärts ausgestreckten Arme gleichfalls rhythmisch nach unten stoßend, um das Mädchen herum […]. Dabei haben sie das hintere Schurzfell hochgehoben. Mit dem entblößten Gesäß […] wackeln und kokettieren sie umher. Das geht so eine Weile, plötzlich naht sich ein Buschmann langsamen Schrittes, gleichfalls im Takt mit den Füßen stampfend und mit den angezogenen Unterarmen und geballten Fäusten ebenfalls den Takt schlagend. Auf dem Kopf hat er ein paar Hörner nebst einem Stück Fell befestigt. Vermutlich sollen eigentlich Elefantenhörner genommen werden […]. Der gehörnte Buschmann ist der Bulle, die Weiber sind die Kühe […]. Der Bulle naht sich, läuft mehrmals um die Kühe herum, die ruhig weiter stampfen und kokettieren. Plötzlich springt er in die Reihe hinter eine Frau.

    Die Bewegungen des Bullen und der Kühe seien dabei so drastisch gewesen, dass man ohne Weiteres erkannte, dass es sich um eine Szene aus der Brunstzeit der imitierten Tiere handelte. Sehr häufige Tiertänze und Tiermaskierungen betonten die fundamentale Bedeutung, die die Jagd als lebensnotwendige Produktion für die Khoisan hatte/hat. Zu besonderen Anlässen, so George W. Stowe 1905, habe es große Maskeraden gegeben. Man habe sich als Tiere oder Vögel „verkleidet" und „den Charakter während der ganzen Aufführung [im Original performance] durchgehalten", insbesondere bei den Tänzen, die man für die großen, höchsten Feste veranstaltete.

    Diese im 19. und 20. Jahrhundert beobachteten Darstellungen könnten als variierte Formen theatraler Tätigkeiten produktionstechnisch früher nomadischer Jäger- und Sammlergemeinschaften genommen werden. Die Khoisan lebten bzw. leben in einer Umwelt, in der Jahrtausende zurückreichende Felsbildnisse (Malereien, Ritzungen), Motive, Formen und gleichsam „Szenen" abgebildet sind, die in vielem ihren gegenwärtigen Praktiken entsprechen. Sie dürften zudem Nachfahren der Schöpfer zumindest der jüngeren Felsbildnisse sein. Der mündlichen Tradition nach waren sie außerordentlich begabte, fähige Bildkünstler, praktizierten aber im 19. Jahrhundert nicht mehr.

    Für die Aranda Australiens, produktionstechnisch und evolutionsgeschichtlich frühe steinzeitliche Jäger- und Sammlergemeinschaften, schienen Inszenierungen des mythisch gedachten Handelns und Verhaltens der Urahnen, des Schöpfers der Welt und damit der jeweiligen Gemeinschaft eine lebensnotwendige Praktik gewesen zu sein. Theatrale Sinndeutung war in diesem Sinne ein nahezu „instrumenteller" Faktor ihrer Lebensrealität. Es wird Folgendes berichtet: Die Inszenierung musste an der Stelle in der Landschaft stattfinden, wo nach der mythischen Erklärung der Urahn (Tjilpa) sich in einen Baum oder Felsen verwandelt hatte, seinen ständigen Wohnsitz unterhielt und auf seinen Jagdzügen rastete oder Spiele aufführte. Zur Aufführung gehörten ein singender Chor der Alten, der Tanzchor der jungen Männer und zwei ältere Darsteller in der Gestalt des Urahns, die Wildkatzen als Urväter zeigten. Sie trugen einen schwarzen mit Kohle bemalten Streifen um den Leib und um die Oberarme und auf der Stirn aufgeklebte Adlerdaunen. Einer der Darsteller hatte einen Aufbau auf dem Kopf, der symbolisieren sollte, dass sich der Urahn, das „höchste Wesen", diesen Kopfputz anfertigte, nachdem er einen Regenbogen gesehen hatte. In der äußerst trockenen Umwelt der Aranda war/ist Regen ein höchstes Gut; er ist unerlässlich für das Gedeihen der Vegetation, der Pflanzen und der Tiere, von denen die Aranda leben. Der andere Hauptdarsteller hatte ein schwirrholzförmiges, ca. siebzig Zentimeter hohes Holzstück auf dem Kopf. Es war/ist mit Vogeldaunen beklebt, mit Querstreifen aus rotem Ocker bemalt. Das sollte die Speere des Urahnen zeigen.

    Frauen und mit Hörnern kostümierte Männer der Khoisan, die während eines Menstruationsrituals um die Hütte eines Mädchens tanzen. Kalahari, südliches Afrika, 1984

    Zahlreiche ähnliche Darstellungen während sich über Wochen hinziehender gemeinsamer Feste mehrerer, sonst getrennt lebender Gruppen machen die enorme Bedeutung, die das theatrale praktische Sich-in-Beziehung-Setzen zu den mythisch gedachten Wesen/Kräften für die Aranda hatte, deutlich.⁸ Den hohen Stellenwert der symbolischen, sinndeutenden Tätigkeit für die Gemeinschaften unterstrichen die strengen (rituellen) Vorschriften, ohne deren genaue Ausführung eine „wahrheitsgemäße", daher für die Existenz wirksame Inszenierung nicht zustande kommen konnte. Zugleich sprachen die rituellen Gebote auch von Konfliktpotenzialen, Gegensätzen, fundamentalen Widersprüchen der in der Grundlinie sozial egalitären Gemeinschaften, bis hin zur tendenziellen sozialen Hierarchisierung. Der Rat der älteren Männer war die Machtinstanz, die über die wesentlichen theatralen Aktivitäten bestimmte; er war der Regisseur/Aufseher, und die besondere Gruppe der älteren Männer war der Hauptdarsteller. Frauen wurden als Akteure von den Aufführungen, die mythisch die Welt deuteten, ausgeschlossen. Diese hierarchische Geschlechterdifferenz ist auch bei anderen sozial egalitären Jäger- und Sammlergemeinschaften zu beobachten.⁹

    Wie sich soziales Konfliktpotenzial und Grundwidersprüche unmittelbar in Darstellungsstrukturen oder auch rituelle Spielweisen übersetzen konnten, wie sie diese prägen und fördern oder auch auszugleichen suchen, zeigt das in den 1930er Jahren von Claude Lévi-Strauss beobachtete Verhalten der Bororo (Indianer Brasiliens) zum Tod. Sterben, das Aus-dem-Leben-Treten, wurde als fundamentales Problem in der Auseinandersetzung mit der Natur oder auch der Nicht-Menschenwelt, der sich die Menschengemeinschaft als Kultur gegenübergesetzt sah, begriffen und demgemäß mit komplizierten Praktiken behandelt. Im Unterschied zu den Khoisan, den Aranda und auch den Pygmäen waren die staatenlosen, schriftlosen Jagd und Ackerbau betreibenden Bororo wohl stärker sozial differenziert. Sie lebten in segmentierten Gruppen, betonten die hierarchischen Geschlechterunterschiede bis in die Anlage ihrer Siedlungen und Häuser, und in ihren Dorfgemeinschaften deutete sich mit der Einteilung in „obere, „mittlere und „untere" Clans eine Tendenz zur Hierarchisierung auch jenseits der Geschlechterdifferenz ab. Gegen die Reibungs- und Konfliktpotenziale wirkten, neben komplexen Heiratsregeln, rituelle Praktiken, die auf gegenseitige Unterstützung der segmentären Gruppen und damit Sicherung der gesamtgesellschaftlichen Existenzsicherung aller Teile der jeweiligen Dorfgemeinschaften zielten. So richtete eine Gruppe die höchst theatralen mehrtägigen Begräbnisoder auch Verabschiedungsrituale für die Verstorbenen der ihr segmentär Zugehörigen.

    Ein wesentlicher Teil galt der Aufführung der „Totenseelen. Sie brachte fundamental Widersprüchliches bzw. das Konfliktpotenzial der Geschlechterdifferenzen besonders zum Ausdruck. Hauptakteure waren Männer der zwei betroffenen segmentären Gruppen. Kostümiert bzw. bedeckt mit Blättern und einem Kopfaufsatz stellten sie die Seelen der Toten dar, die aus ihren Dörfern im Osten und Westen kommen, um den jüngst Verstorbenen zu empfangen. Durch eine ängstliche und zögernde Gangart drückten sie ihre Schattenrolle aus. Dann belebte sich die Zeremonie. Männer, mit frischen Zweigen behangen, tanzten bis zur Erschöpfung, hielten ein Symbolobjekt hoch und ließen sich dieses von anderen Männern entreißen. Die Szene habe keinen mystischen Charakter besessen, so Lévi-Strauss. Es sei eine Art Jahrmarkt gewesen, eine „Atmosphäre von Schweiß, Rempeleien und Witzen mit einem religiösen Sinn. Sie hatten das Gefühl, „mit den Toten zu spielen und ihnen das Recht abzugewinnen, am Leben zu bleiben". Der Gegensatz zwischen den Toten und Lebenden habe sich zunächst durch die Aufteilung der Dorfbewohner in Schauspieler und Zuschauer ausgedrückt. Die wichtigsten Schauspieler seien die Männer gewesen. Das entspricht auch der Anlage der Dörfer der Bororo. Das gemeinsame Männerhaus bildet das Siedlungszentrum, um das sich in Kreisen die Hütten, die Eigentum der Frauen sind, anordnen. Diese Gruppierung hat eine tiefere Bedeutung – die Rollen sind hierarchisch festgelegt, so auch bei Totenfeiern. Die Männer stellen das Symbol der Gemeinschaft der Seelen dar, während die Frauen, deren Hütten an der Peripherie liegen, von den heiligsten Riten ausgenommen sind und gleichsam ihrer Bestimmung nach Zuschauerinnen bilden, also das Publikum der Lebenden und den Aufenthalt, der diesen auf der Erde vergönnt ist, verkörpern.¹⁰ Die Struktur der in zwei Hälften gegliederten Dörfer sollte zeigen, dass man für einander und durch einander zu leben sucht, sich wechselseitig versichert, dass das Leben ewig, die Welt hilfreich und die Gesellschaft gerecht ist. Die im Plan der Dörfer und Wohnstätten niedergelegte mythisch gedachte Kosmologie diente als Beweis. Die Widersprüche, an denen die Bororo sich stießen, nahmen sie immer wieder auf, einen Gegensatz nur akzeptierend, um ihn zugunsten eines anderen aufzuheben.¹¹ „Die Bororo mochten ihr System noch so sehr in einer trügerischen Vorstellung Verstorbener entfalten – es ist ihnen ebenso wenig wie anderen gelungen, jene Wahrheit zu widerlegen, dass nämlich die Vorstellung, die sich eine Gesellschaft von Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten macht, sich auf das Bemühen reduziert, die realen Beziehungen, die zwischen den Lebenden bestehen, auf der Ebene des religiösen Denkens zu verbergen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen."¹²

    Victor Turners Konzept des social drama, entwickelt aus Beobachtungen der Ndembu in Sambia, verdeutlicht besonders die zentrale Rolle des Theatralen im Umgang mit Konfliktpotenzialen und Widersprüchen schriftloser Gesellschaften. Soziale Dramen seien Einheiten eines uneinheitlichen, disharmonischen Prozesses, der in „Konfliktsituationen entsteht".¹³ So sei das Chibamba-Ritual eine „Art von Kompendium der Missgeschicke", die von den Ndembu erkannt würden. Es behandele wesentliche wirtschaftliche, soziale und individuelle Aspekte der Ndembu-Gesellschaft, von Schwierigkeiten mit der Ernte bis zu den persönlichen Problemen einzelner Mitglieder der Dorfgemeinschaft. Das Erscheinen von Chibamba, sein „Kult des Unglücks", wird als eine Lösung entstandener Probleme gedacht und rituell ausgeführt. Das fiktive Wesen Kavula spielt dabei eine Hauptrolle. Es erscheint als die kommunikative Objektivierung, als die Sinnlichkeit des Geistes.¹⁴

    Macht des Ideologischen

    Rituelle Theatralität war ein entscheidender Faktor der Durchsetzung und Stabilisierung sozial hierarchischer, kasten- und klassenmäßig differenzierter vormoderner Gesellschaften. Herrschaft realisierte sich nach Georges Balandier als pouvoir sur scènes (Macht auf den Bühnen).¹⁵ In sozial antagonistischen, hierarchischen Ordnungen Afrikas südlich der Sahara verfügten Machthabende alltäglich und besonders auffällig theatral, über die Körper ihrer Unteren; und die Beherrschten erkannten, sich vor ihnen in den Staub werfend, die Hierarchie leibhaftig an. Im 14. Jahrhundert berichtete der Araber Ibn Battuta, wie sich im primär oral kommunizierenden Mali-Reich Westafrikas soziale Positionen und Machtverhältnisse theatral verwirklichten. Der Herrscher hielt an bestimmten Tagen im Palasthof Audienz auf einer Plattform, die mit Kissen belegt war. Er kam aus einer Tür in einer der Palastecken mit einem Bogen in seiner Hand und einem Köcher auf dem Rücken. Ihm voran gingen seine Musiker mit goldenen und silbernen guimbris (zweisaitige Gitarren), hinter ihm kamen dreihundert bewaffnete Sklaven. Er bestieg die Plattform, so Ibn Battuta, „in der gesetzten Weise eines Predigers, der eine Moschee-Kanzel besteigt. Wenn der Herrscher Platz nimmt, ertönen Trommeln, Trompeten und Jagdhörner. Die „Neger seien ihrem König gegenüber höchst unterwürfig: Wenn er während einer Audienz jemanden in seinen Pavillon rufe, lege die gerufene Person abgetragene Kleider an, nehme ihren Turban ab, setze eine schmutzige Kappe auf, nähere sich in einer Haltung der Demut und Niedergeschlagenheit, mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken, dem König. „Wenn jemand den König anspricht und von ihm eine Antwort erhält, entblößt er seinen Rücken und wirft Staub über seinen Kopf und Rücken, und wenn der Herrscher irgendetwas während der Audienz sagt, nehmen die Anwesenden ihre Turbane ab, legen sie nieder und hören schweigend zu. Mitunter stehe einer auf und erinnere an seine Taten im Dienste des Herrschers, und die, die diese Taten kennen, „bestätigen seine Worte, indem sie die Sehne des Bogens ziehen und wieder loslassen (mit einem schwirrenden Ton), gerade so wie ein Bogenschütze, der einen Pfeil abschießt.¹⁶

    Ähnlich theatral verhielten sich hohe Würdenträger im Königtum von Benin (Nigeria). Wenn sie erschienen, so der Bericht eines Europäers aus dem 17. Jahrhundert, kleideten sie sich aufwendig „wie Spaniens Frauen. Zwei Schwarze dienten ihnen als Begleiter, auf deren Schultern sie ihre Arme ruhen lassen konnten. Sie bewegten sich mit großer Feierlichkeit, besonders wenn sie zu dem Palast zu Festen und Opfern gingen. Es sei „wie der Karneval in Europa gewesen. Jeder hatte ein großes Gefolge und seine eigene Kapelle mit Elfenbeinflöten, kleinen Gitarren, Kalebassen, in denen kleine Steine waren, und Trommeln.¹⁷

    Die enorme Wirkmacht des Theatralen zeigten besonders deutlich die Darstellungen mythisch gedachter gesellschaftlicher Ordnungen und der Welt im Ganzen (Kosmologien). Anders formuliert, die reale Kraft des Ideologischen offenbarte sich in den sozialökonomisch antagonistischen und soziokulturell streng hierarchischen vormodernen Staaten, in denen Ausbeutung der unteren Schichten gleichsam im wirtschaftlichen System angelegt war und die Chefs, Könige, Aristokratien über nur geringe, oft nur sporadische Möglichkeiten physischer militärischer polizeilicher Gewalt verfügten, um den Mehrwert abzuschöpfen und ihre Herrschaft und Machtpositionen aufrechtzuerhalten. „Mythisches Denken" deutete, gleichsam verblendend, bestehende gesellschaftliche Realitäten als das Ewiggegebene der Dinge, als das göttlich Sanktionierte. Phantastisch gedachte Merkmale, Kräfte und Kausalitäten erschienen als lebenswichtige, unabdingbare Eigenarten der sozialökonomischen Mechanismen und des zwischenmenschlichen Verkehrs, und man dachte und behandelte entsprechend theatral die Herrschenden als Vertreter oder Verkörperungen der Urahnen, der Gründer der Welt, als Ernährer aller Lebenden, als die Kraft, ohne die es keinen Schutz vor dem Chaos, dem Nichts gibt.

    Das Odwira-Fest, das die Ashanti (Ghana) zur Ernte der Jamswurzel, ihrem Hauptnahrungsmittel, in der Hauptstadt Kumasi veranstalteten, feierte den höchsten Herrscher als Nachfahren und Repräsentanten des Gründers des Ashanti-Reiches im 18. Jahrhundert. Die Versammlung aller Fürsten, Chefs und Vasallen bestätigte nachdrücklich die Oberhoheit des Herrschers in Kumasi (Asantahene). Mit Prozessionen durch die Straßen Kumasis und den öffentlich dem König dargebrachten Tributen demonstrierten sie ihre soziale Stellung als Angehörige der herrschenden Schicht und stellten zugleich mit der Art und der Größe ihrer mitgeführten Güter und dem Umfang ihrer Gefolgschaften ihre je unterschiedlichen Ränge innerhalb der herrschenden Schicht aus.

    Manifestierten die Oberen an den ersten zwei Tagen des Festes grandios ihre unbefragbare Macht, ließ man am dritten Tag die Unteren des sozialen Gefüges das Fest genießen. Man übergab ihnen, für Stunden, die Macht über Kumasis Straßen/Öffentlichkeit, ein Verkehrungsakt, der die antagonistische Gliederung offenbarte und zugleich verhüllte. Thomas Edward Bowdich, der Kumasi in den 1820er Jahren bereiste, sah die zeitweilige „Machtübernahme der Stadt durch die Unteren mit seinem europäischen Blick als Saturnalien. Das Schauspiel der Mächtigen wurde umgedreht. Die Unteren, Freie und Sklaven, beherrschten für einige Stunden die Straßen, und zwar auf Zeichen der Mächtigen hin, die ihnen überall in der Stadt große Messingpfannen mit Alkohol bereitgestellt hatten. Es herrschte „die größte Freiheit. Die Menge, so Bowdich, drängte sich um die Behälter. „In weniger als einer Stunde war, außer den fahrenden Leuten, kein einziger Nüchterner mehr zu sehen […]. Ketten von Frauen, mit rotgefärbten Gesichtern, fielen, die Hände ineinander verschlungen, wie Kartenreihen nieder. Einfache Arbeiter/Handlanger [mechanics] und Sklaven deklamierten wie im Staatspalaver. Die Musik war äußerst schrill, die Gesänge ganz und gar obszön […]. Alle trugen ihre hübschesten Kleider, die sie lang hinter sich herzogen, in trunkener Nachahmung von Extravaganz." Gegen Abend war die Zeit des Genießens und der Lizenz für die Untertanen zu Ende. Die Mächtigen stellten ihre Gefolge auf und um fünf gab es eine Prozession zum südlichen Ende der Stadt und wieder zurück. Der König und die hohen Persönlichkeiten wurden in ihren Sänften getragen. Dann war, so Bowdich, der nächste Tag mit Staatspalaver angefüllt.¹⁸

    Die Freizügigkeit der Herrschaft, die kurzeitige Übergabe der Macht an die Unteren sollte zeigen, dass alle, selbst Sklaven, gleichberechtigte Glieder einer umfassenden Gemeinschaft wären, einer in heutiger Terminologie „großen Ashanti-Familie. Die Fest-Realität ermöglichte die Wahrnehmung, dass die hierarchische Struktur und die politischen Mechanismen des Imperiums der relativen sozialen Einheitlichkeit unabhängiger agrarischer Hauswirtschaften gleich wären, einer (relativen) Einheitlichkeit, die sich in einer Person, dem Oberhaupt (Alten) verkörperte und die die „Unteren im Alltag ihrer Großfamilien und ihrer Dörfer traditionell lebten. Es war ein Verhältnis, welches sehr wahrscheinlich lange vor der Staatsgründung der seitdem tributpflichtigen Haushalte und Dorfgemeinschaften bestanden hatte und, das ist wesentlich, immer noch weiter bestand. Die Alten als je gegenwärtige Vertreter einer langen Ahnenkette waren diejenigen, die die Angelegenheiten ihrer Gemeinschaften zu deren Wohl und damit die Existenzsicherung/das Überleben des Einzelnen regelten, verwalteten, besorgten. Oder das tun sollten. So erschien das hierarchische und ausbeuterische Staatsgefüge (nur) als eine enorm erweiterte Hauswirtschaft und/oder sozial relativ egalitäre Dorfgemeinschaft. Als das praktizierte Ideologische konnten die Odwira-Performances sinnlich, „leibhaftig" erlebbar machen, dass die antagonistischen Realitäten des Königreiches die ins Größere, Komplexere geweiteten/übersetzten vertrauten Verhältnisse der Hauswirtschaften, Großfamilien und Dorfgemeinschaften und deren Werte, Verhaltensweisen und Denkfiguren waren. Die theatralen Tätigkeiten legitimierten das tributäre Ausbeutungs- und Herrschaftsgefüge, waren so ein, vielleicht der wesentliche Faktor in seiner Ausbildung und Aufrechterhaltung.¹⁹

    Das mythische Denken der Dinge gipfelte in der Sakralisierung des Königtums und damit des jeweiligen Königs(-körpers). Das Odwira-Fest inszenierte seine alles überragende Funktion, sollte überdeutlich machen, dass der König die leibliche Verkörperung der Gemeinschaftlichkeit war, untermauerte, dass er die Schöpferrolle des mythisch-legendären Gründers des Reiches, aufgefasst als Gemeinwesen, fortsetzte und in der Gegenwart wie dieser als Stifter, Garant und Bewahrer von Frieden und Wohlergehen aller wirkte.

    Dieses Denken und seine theatralen Praktiken erwuchsen, anscheinend paradox, aus den realen Lebensumständen und der damit verbundenen Vorstellungswelt der Beherrschten. Das von den Großfamilien und Dorfgemeinschaften geschaffene Mehrprodukt machte, als Tribut erhoben, den Reichtum der Oberen aus und ermöglichte ihre Herrschaftspraktiken. Seine Aneignung war auf die Dauer nicht durch rein physische (militärische) Gewalt zu sichern, geschweige denn durch ökonomische Zwänge. Aufgrund ihrer Subsistenzproduktion und kleinen Warenwirtschaft bzw. ihres Warenaustauschs untereinander konnten die Großfamilien und Dörfer so gut wie völlig unabhängig von einem übergeordneten Apparat und einem politischen Regime etablierter Chefs oder gar einem zentralen Königtum existieren. Entscheidend war, dass die Oberen – die Fürsten, der König – gedacht wurden als bzw. dementsprechend behandelt wurden wie die leitenden Alten (die Väter und Urahnen) in den kleinsten Einheiten des Reiches, den Großfamilien und Dorfgemeinschaften.

    So erschien der König als legitimes, gleichsam naturgegebenes Oberhaupt der Ashanti. In der „Hauswirtschaftsformation" galt das Prinzip der sozialen Führung und Machtausübung durch die Alten (Männer), die, gedacht als gegenwärtige Funktionäre der für die Gemeinschaften segensreichen Ahnen und so legitimiert, ihre soziale Autorität ausübten. Das mythische Denken übertrug diese Verhältnisse auf die Beziehungen zwischen den Unteren und den kleineren oder hohen Chefs (Fürsten) und vor allem dem König. Als mythisch gedachter Gründer des Reiches galt er, was Odwira anschaulich demonstrierte, als der „hohe Alte, der Vater und Urvater (Urahn) aller Ashanti, dem Loyalität, Verehrung, Unterwerfung, Tributdarbringung als Garant des Überlebens und Gedeihens der sozialen Produktionseinheiten sowie aller Individuen gebührte. Die Großfamilien, die auf dem Lande lebten, erwarteten, dass die zentrale Regierung Gesetz und Ordnung innerhalb Asantes aufrechterhielt, ihnen Schutz gegen Angriffe von außen bot und nur höchst minimal in die Angelegenheiten der bäuerlichen Gemeinschaften eingegriffen wurde. So wurde „die Nation als das Dorf im Großen und der König als das Haupt der ganzen Nation genommen. Die Substanz solcher Mythen vermittelte ein Gesellschaftsbild, das wesentlich zeitlos und unveränderbar ist. Die Taten des ersten Inhabers einer Funktion werden nacherzählt durch einen gegenwärtigen Funktionsinhaber, um den gegenwärtigen Status dieser besonderen Funktion zu legitimieren.²⁰

    Solche Wirkmacht gründet in den fundamentalen Möglichkeiten des kommunikativ handelnden Körpers. Seine gestischen, mimischen, verbalen Äußerungen (Interaktionen) dürften die kleinsten Einheiten, letztlich vielleicht unabdingbarer Kern der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten sein. Es ließe sich zeigen, so Pierre Bourdieu mit dem Blick auf das hochmoderne Frankreich, dass „im Sozialisationsprozeß der Körper zu einer Art Analogien-Operator ausgebildet wird, der praktische Äquivalenz zwischen den diversen Teilungen der sozialen Welt stiftet", zwischen den Bedeutungen und Wertungen, die Individuen mit praktisch äquivalenten Positionen innerhalb der durch die Teilungen bestimmten Räume mitgegeben seien.²¹ In der Logik des Sozialisationsprozesses fungiert der Leib als eine Art Gedächtnisstütze. Die mit gesellschaftlichen Werten und Bedeutungen befrachteten elementaren Akte der Körperbewegung, zumal deren sexuelle, biologisch vorgegebene Aspekte, funktionieren wie grundlegende Metaphern, die ein umfassendes Verhältnis zur Welt und darin eine ganze Welt zu evozieren vermögen.²²

    Daraus wäre abzuleiten, dass orale oder dominant orale Kulturen geradezu danach drängen, ihre kommunikative soziale Praxis theatral zu besetzen, besonders jene Gesellschaftsgefüge, für die die lebendigen Körper das praktisch einzig wesentliche Produktionselement sind. Machtbeziehungen entsprechender vormoderner Gesellschaften gestalteten sich wesentlich im symbolisierenden Verhalten der Körper, gleichsam als eine endlose Kette versinnbildlichender Praktiken. In der Tendenz (womöglich immer?) entwickelte und stabilisierte sich Herrschaft als anschauliche, theatral aus- bzw. vor- oder aufgeführte Verfügung über möglichst viele Körper. Schriftlose Gesellschaften vermögen ihre „kulturellen Ressourcen nur in Form ihrer Einverleibung zu bewahren."²³

    Die massive Versinnbildlichung gesellschaftlicher Beziehungen und sozialer Haltungen, die endlose Kette theatraler Praktiken, insbesondere der Manifestationen des „konkreten Denkens"²⁴, daher des Ideologischen, war wesentlich, vielleicht sogar entscheidend für die „Ordnung der Dinge, den Aufbau und das Verfestigen von Machtbeziehungen. Das dürfte darin gründen, dass ökonomische Mechanismen für viele Gesellschaften der Vormoderne keine absolut zwingenden Ordnungsfaktoren waren. Herrschaft musste gleichsam verkörpert werden. „Ökonomisches Kapital kann nur in Form symbolischen Kapitals akkumuliert werden, was die Voraussetzung dafür schafft, dass es bei den Umwälzungsverfahren auch vernichtet werden kann. Das symbolische Kapital, gewöhnlich Prestige oder Autorität, stelle nur die umgewandelte, unkenntlich gemachte und damit offiziell eingetriebene Form der anderen Kapitalarten dar. Der Chef gebe, wie Borisław Malinowski erläutere, einen tribal banker ab, der Nahrungsmittel nur anhäufe, um sie zu verausgaben und auf diese Weise ein Kapital an Verpflichtung und Schuld zu akkumulieren. Die würden ihm in Gestalt von Ehrenbezeugungen und Treue, gegebenenfalls als Arbeit und Dienstleistungen, den virtuellen Grundlagen einer neuen Akkumulation materieller Güter, abgegolten.

    Das Ver-Sinn-Bildlichen sozialer Stellungen und Beziehungen, das (theatrale) Ausstellen von „Größe, Reichtum und „Sorgepflicht für das „Volk", so ließe sich vorsichtig verallgemeinern, scheint vor allem für Gesellschaftsgefüge unabdingbar zu sein, in denen ausbeuterische Herrschaft weder aufgrund ökonomischer Mechanismen noch durch physische (militärische, polizeiliche) Gewalt auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Das religiöse und anderes illusionäres Denken (das Imaginäre) kann real, gleichsam instrumentell die Sicherung vormoderner Macht- und Herrschaftsverhältnisse bewirken. Je mehr die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse objektiven Mechanismen überlassen werde, die den Herrschenden dienen, ohne dass diese sich ihrer zu bedienen brauchen, so Bourdieu zum Einsatz des „symbolischen Körpers" – oder, wie ich formuliere, des theatralen Her-Stellens und Aufrechterhaltens von Herrschaft –, desto indirekter und unpersönlicher werden die auf die Reproduktion ausgerichteten Strategien. Solange sich aber das System der Mechanismen noch nicht herausgebildet hat, die „objektiv, kraft ihres Ablaufs die „Reproduktion der herrschenden Ordnung leisten, sei es unabdingbar, dass die Herrschenden, um Herrschaft auszuüben, Tag für Tag handgreiflich und in eigener Person arbeiten, um die stets gefährdeten Voraussetzungen ihrer Herrschaft zu produzieren und zu reproduzieren. Die Herrschenden können sich die Arbeit, die Dienste, Güter, Ehrbezeugungen und den Respekt der anderen nur aneignen, wenn sie sie persönlich „gewinnen, wenn „sie ein persönliches Band von Person zu Person knüpfen. Die Herrschaftsbeziehungen gelten nicht nur der materiellen Vorteile wegen, die sie verschaffen. Wer als Herr behandelt werden wolle, so Bourdieu weiter, müsse die „Tugenden öffentlich zur Schau stellen", die seiner Stellung entsprechen, angefangen bei der Großzügigkeit und der Würde in den Beziehungen zu seiner Klientel.²⁵

    Die theatral objektivierte, praktizierte ideologische Macht spielte für die meisten vormodernen Gesellschaften, auch jene mit langer, großer Schrifttradition, eine enorme Rolle. Der Negara-Staat auf Bali im 19. Jahrhundert ist dafür exemplarisch. Untersetzt vom polytheistischen Hinduismus, hatte sich hier das mythische Denken der Welt-Dinge, das Ideologische, zu einem durchgängigen theatralen soziopolitischen Verhaltenskodex ausgebildet und so einen „Theaterstaat (Clifford Geertz) schaffen geholfen. Das Wirtschaftliche, die hierarchischen, sozial antagonistischen Verhältnisse, das Staatspolitische, kurz das ganze öffentliche Leben vollzog sich weitgehend in oder mit theatralen (rituellen) Praktiken. Das aufs Äußerste betriebene Theatrale der höfischen Kultur war nicht etwa die Drapierung der politischen Ordnung, sondern die Substanz, es machte das „Eigentliche aus.²⁶ Soziopolitische Beziehungen realisierten sich als permanente Inszenierungen. „Die Aspekte dieser Politik […] – exemplarisches Zeremoniell, Modell-und-Kopie, Hierarchie, sich ausstellender Wettbewerb [expressive competition] und ikonische Verwandtschaft […] – konfigurierten eine Realität so dicht und unmittelbar wie die Insel selbst. Die „Dramen des Theater-Staats, mimetisch in sich selber, seien „weder Illusionen noch Lügen, weder Tricks noch ein Als-ob gewesen, sondern einfach das, „was da war.²⁷

    Die enorme Macht des Weltanschaulichen zeigte sich besonders in der Stellung der Brahmanen, der Priester. Sie hatten keinen direkten ökonomischen Einfluss, konnten kein politisches Amt in der Herrschaftsklasse besetzen, aber ohne sie war die Macht dieser Klasse, der Oberen überhaupt undenkbar. In alten Gesetzesschriften hieß es, Herrscher und Priester ständen im selben Verhältnis zueinander wie ein Schiff zu seinem Steuermann. Keiner von ihnen könne das gemeinsame Ziel ohne den anderen erreichen: die Bildung eines Negara, eines auf eine bestimmte Deutung des Kosmologischen basierenden beispielhaften Staates.²⁸ Das Verhältnis der sozialökonomischen Basis des Ganzen, der Dörfer, der Bauerngemeinschaften, zu den verschiedenen „starken Häusern" und Palästen der herrschenden Klasse bzw. des Negara, der Staatsmacht, repräsentiert im König, war dem in der Ashanti-Gesellschaft vergleichbar: Der Staat, willkürlich, grausam, mit rigider Hierarchie, doch im Wesen überflüssig, erschien, als bewege er sich über einem „patriarchalischen Kommunismus" der Dorfgesellschaften, ernährte sich von ihnen, beschädigte und zerstörte sie ab und zu, aber durchdrang sie nie als Staat. Das Dorf war eine in sich geschlossene, auf dem Denken des Kosmischen basierende organische Einheit, die aus dem Boden einer indigenen Bali-Kultur erwuchs. Der Staat hingegen – das Negara – war ein fremder Import, der versuchte, das Dorf zu vereinnahmen. Er kam jedoch nie weiter, als es zu unterdrücken. Dynastien, Könige, Höfe und Hauptstädte kamen und gingen, eine Prozession ferner Schauspiele, doch die Gemeinschaften der Dorfbewohner, kaum gewahr der wechselnden Herrscher, machten weiter, ausgebeutet aber unverändert, auf dem bewährten Weg von Jahrhunderten.²⁹

    Begräbnisse der hohen Herren waren im Negara-Staat wesentliche theatrale Instrumente der Herrschaftsausübung. Die Einäscherung des toten Königs und die Verbrennung dreier seiner Konkubinen, die sich für ihn opferten, war 1847 ein theatrales Ereignis, an dem wohl über 40 000 Menschen als Zuschauer teilnahmen. Ganz in Weiß gekleidet, erschienen die drei Frauen, als begäben sie sich zu einem fröhlichen Fest, würden so den „unsichtbaren Mächten" gefallen und vom großen Gott Shiva ohne Verzögerung in den Himmel hineingelassen.³⁰ Die Auffassung, dass der König göttlich war, realisierte sich in verschiedenen Formen des Königskultes und um die Macht wurde im klassischen Bali in einer ununterbrochenen Kette rivalisierender Darstellungen gekämpft.³¹ Das zeremonielle Leben des klassischen Negara-Herrschers zeigte, dass es eine unverbrüchliche innere Beziehung zwischen dem sozialen Rang und der religiösen Kondition gab. Der Staatskult war ein Argument, immer wieder im Vokabular des Rituals verwendet, dass der weltliche Status seine kosmische Basis habe, dass soziale Hierarchie das herrschende Prinzip des Universums sei und die Anordnung des menschlichen Lebens mehr oder weniger nur eine Annäherung an die des Göttlichen.³²

    Mit dem Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen Denken und Praxis in vormodernen Kulturen verallgemeinert der Anthropologe Stanley Tambiah, dass symbolische Systeme das Individuum bestimmen und sein Handeln leiten.³³ Er wählt die Wörter Denken und Aktion für seine These, um zu zeigen, dass die Kosmologien und die Klassifikationssysteme, die er behandelt, sowohl gedacht als auch gelebt werden. Man verhalte sich nicht kontemplativ zu ihnen, sondern übersetze sie in Praktiken. Sie seien Lebensentwürfe. An Clifford Geertz’ brillanter Einschätzung, das Bali des 19. Jahrhunderts sei ein Theaterstaat, sei zu kritisieren, dass Geertz nicht die gängigen Trennungen zwischen expressivem und instrumentalem Handeln, zwischen Ideologie und Praxis, zwischen Macht als Pomp und Macht als Herrschaft über Ressourcen und Menschen überwinde und dazu neige, sie als unterschiedliche Segmente der body politics zu sehen. Was Außenstehende häufig als Praktiken identifizieren, stelle in Wirklichkeit ideologische Konstrukte dar und umgekehrt.³⁴

    Theatralität des mythisch-religiösen Denkens

    Die theatrale „versinnbildlichende Praxis" des Ideologischen, oder anders des Weltanschaulichen, speziell des mythisch-religiösen Denkens der Dinge, ist auch der Rahmen, in dem sich die große Tradition ausdifferenzierten Theaters während der europäischen Vormoderne bildete. In der archaischen Periode waren Politik, Religion und Ökonomie nicht getrennt; ihre Trennung in unterschiedliche Bereiche war die Erfindung eines späteren Zeitalters. Für die Griechen der archaischen Zeit war wie für andere traditionelle Gesellschaften das völlige Ineinander-Verwoben-Sein dieser verschiedenen Bereiche selbstverständlich.³⁵

    Dem ganzheitlichen, „konkreten" Denken gemäß unterschied man nicht zwischen Religiösem, mythischen Denkfiguren, dem Häuslichen und dem Politisch-Gesellschaftlichen. Die Religion bildete keinen separaten, eingegrenzten Bereich, der das familiäre, berufliche, politische Leben überlagerte, ohne mit ihm zu verschmelzen.³⁶ Sämtliche Momente individuellen oder kollektiven Lebens hatten eine religiöse Dimension.³⁷ Das mythische Denken wirkte bis in neuartige, gleichsam philosophisch-rationalistische Deutungsversuche seit dem 6. Jahrhundert weiter.³⁸

    Die Annahme, es gebe aktive Beziehungen zwischen Gottheiten und Menschen/Gesellschaft, schien sozialpolitische und alltägliche Praktiken, ihre hervorstechende Theatralität, stark geprägt zu haben. Jeder bedeutende Augenblick des privaten und sozialen Lebens war durch den Kontakt mit den Göttern gekennzeichnet. „Die Götter begegnen in Bildern den ihnen geweihten Kulthandlungen und den Geschichten, die man sich der Familie und in der Öffentlichkeit von ihnen erzählt und in denen man in ereignisreichen Fabeln Sinnbilder der menschlichen Existenz entwirft."³⁹ Es gab für den Griechen nicht jene radikale Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen, die die natürliche Ordnung vom Übernatürlichen scheidet. Mond, Sonne, Morgenröte, Tageslicht, Nacht und auch ein Berg, eine Höhle, eine Quelle, ein Fluss, ein Wald konnten auf der gleichen Empfindungsebene erfasst werden wie einer der großen Götter des Pantheons.⁴⁰

    Symbolisches Denken prägte nicht zuletzt als narrativer Mythos zentrale Lebensvorgänge.⁴¹ Nach Herodot war der Kriegswagen mit einer jungen Frau als Athene ein entscheidendes Element bei Peisistratos’ Einzug in Athen. Wie Vasenmalereien und andere Dokumente nahelegen, benutzte man Kriegsgefährte in Ritualen, die die Götter ehrten, und auch zur Feier menschlicher Sieger oder Heroen.⁴² Die Bilder zeigen, dass Sterbliche und Götter lebhaft miteinander verkehrten. Die Athener dürften erfolgreiche Männer (Sieger), die Vasenmalereien und Poesie in Verbindung mit Kriegswagen darstellten, als gottähnlich angesehen haben.⁴³ Der gemeinsame Einzug mit Athene sollte untermauern, dass Peisistratos für Athen der „richtige, der allseitig produktive, der segensreiche Herrscher sei, da von den Göttern gesegnet. Zahlreiche Dokumente bis ins späte 5. Jahrhundert weisen aus, dass die Griechen, wie bei Homer, göttlichen Beistand nicht als menschliche Schwäche, sondern als Privileg göttlicher Bevorzugung nahmen.⁴⁴ Die Athener wussten genau, dass Menschen die Götter „nur darstellten (abbildeten), verhielten sich jedoch den Repräsentationen gegenüber so, wie sie sich den imaginierten Göttern gegenüber zu verhalten hatten.⁴⁵ Die alten griechischen Rituale, die Sterbliche mit Heroen oder Göttern verbanden, die Braut und Bräutigam als Götter oder Heroen oder einen kostümierten Sterblichen als Gott präsentierten, zeigten nicht, dass Götter oder Heroen in unsere Welt eintreten, sondern erzeugten eher die Illusion, dass die, die dem Schauspiel beiwohnten ihrer prosaischen (mundane) Welt entrückt waren und die historische Zeit verlassen hatten, um die heroische Vergangenheit, die Zeit des Mythos zu erfahren, als sich Götter und Menschen frei mischten.⁴⁶

    Die griechische Polis lebte und sprach im Logos, so Pierre Vidal-Naquet, doch lange noch seien archaische Vorstellungen und entsprechende Praktiken wie das Verhalten zum Opfer und das symbolische Agieren im Opfern mitbestimmend gewesen.⁴⁷ Das betreffe auch rituelle Praktiken wie eine abgewandelte Initiation. An Lévi-Strauss anschließend, geht Vidal-Naquet auf die Opposition roh – gekocht ein, die die grundlegende Differenz zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft/Kultur symbolisiert. Vor der Ephebie, dem Zeitraum, in den der freie Athener in militärischem und zivilem Sinne mit 18 Jahren eintrat, wurde er mit 16 Jahren Ephebe im Sinne der Phratrie, der „alten Einheit, in der Linien/Clans organisiert waren. Mythen, Komödien, religiöse Feste – ein Philosoph wie Platon hatte noch die Erinnerung an die Spur eines Initiationsritus bewahrt, in dessen Verlauf der junge Mann, der „schwarze und listenreiche Jäger, in die Grenzzonen geschickt wird, bis er die „Tat" vollbracht hat, die die archaischen Gesellschaften ihren jungen Männern sinnbildlich auferlegt hatten.⁴⁸

    Der Tyrann Peisistratos erneuerte oder setzte die Großen Dionysien in der Mitte des 6. Jahrhunderts als Staatskult ein – wahrscheinlich ein machtbewusster Schritt, die alten Herrschaftsverhältnisse umzubrechen, die, von aristokratischer Oberhoheit bestimmt, auf der relativ selbstständigen Macht einzelner Clans bzw. Großfamilien beruhten.⁴⁹ Waren die großen Stadt-Dionysien ein wesentliches Instrument für die grundlegende Veränderung Athens, die Herausbildung eines neuen politisch-sozialen Gefüges, so führten sie mit dem Dionysoskult als Kern zugleich das alte mythische Behandeln der Dinge, die archaische Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse durch betont symbolische Aktionen weiter. Dionysos, die mythische Mittelpunktgestalt des Festes, war sinnlich außerordentlich präsent. Eine Prozession feierte die Einholung des Gottes. Sie wiederholte die (gedachte) ursprüngliche Reise des Gottes von Eleutherae, die Übertragung seines Rituals von Böotien nach Attika, von den Grenzpunkten der zwei Regionen in das Herz der Stadt Athen. Der Priester des Kults nahm den besten Platz unter denen ein, die für die Würdenträger aus dem Publikum reserviert waren.⁵⁰ Die Epheboi, die jungen Männer, geleiteten das Bildnis des Dionysos mit Waffen. Dann folgten Opfertiere, unverheiratete Mädchen mit Körben voll Opfergerät, schließlich die Menge der Fest- bzw. Ritualteilnehmer, Athener und auswärtigen Besucher. Die Reichen fuhren im Wagen. Viele trugen Kränze oder Masken. Das Bildnis wurde auf einem niedrigen Altar abgesetzt. Man sang Preishymnen zu Ehren des Gottes, opferte Tiere – besonders einen Stier, die Figuration des Dionysos, im Namen des Staates. Danach versorgte man die Teilnehmer mit Wein. An verschiedenen Altären machte man Halt, um Tänze zu veranstalten. Je fünf Knaben- und fünf Männerchöre führten Dithyramben, Preislieder zu Ehren des Gottes, auf. Jede der zehn Phylen Athens stellte einen Chor zum Wettstreit. Sie waren die neuen territorialen Einheiten, die seit den strukturellen Staatsreformen Ende des 6. Jahrhunderts die (frühere) Hegemonie der Clans bzw. Großfamilien zurückdrängte.⁵¹

    Die Herausbildung der europäischen Feudalverhältnisse, die „feudale Revolution" zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert n. Chr. könnte, so Georges Duby, zunächst als Prozess der Privatisierung gesehen werden. Genauer als Prozess der Bildung und Einhegung kleiner sozialer Zellen wie der Familie – Einhegung, weil eine Zelle ihr Gehege gegenüber dem Anderen, dem Draußen deutlich umschrieb und als besonderen, eigenen (privaten) Raum und zugleich als belagerte Festung, als Burg der Mächtigen abzirkelte. Die Natur der Feudalgesellschaft, so Duby, sei auf dramatische Weise zutage getreten, als zwischen 980 und 1020 die ohnehin zerrüttete Fassade des Staates (Öffentlichkeit) vollends zusammenbrach und der Staat durch private Gewalten übernommen wurde. Feudalisierung müsse zunächst als Fragmentierung öffentlicher Macht verstanden werden. Das bewirkte eine breite Streuung der Herrschaftsrechte, doch sei niemals verloren gegangen, dass es sich um eine spezifisch öffentliche Machtausübung handelte. So gab es wie in anderen Ordnungen deutliche Unterschiede zwischen Privatem und Öffentlichem, und natürlich zwischen den politisch-sozialen Rängen. Die Einteilung in zwei Klassen war wesentlich – in adlige Mächtige, die in sich Hierarchien bildeten (mächtiger Fürst als Herr, einfacher Ritter als Lehnsmann) auf der einen Seite und Abhängige, Hörige (Bauern), die in der Tendenz wie Vieh behandelt (verschenkt) werden konnten, auf der anderen.⁵²

    Der Mechanismus der sozialen Beziehungen wurde theatral höchst deutlich demonstriert. Karolingische Könige nahmen ihre nobilitierten Leute in Dienst bzw. realisierten ihre Herrschaft mit Gesten, die die Verbindung wie etwas Privates, als Freundschaft, als Familiäres ausstellte: Der Herr umfing mit beiden Händen die gefalteten Hände des Mannes, der sich ihm auslieferte. Aufgrund der im 8., 9. und 10. Jahrhundert zunehmenden Bedeutung von Gesten, die mit öffentlicher Speisung und der Stiftung eines pseudofamiliären Vertrauensverhältnisses einhergingen, verstand man function, die öffentliche Dienstleistung, mehr und mehr als Freundschaftsdienst, bestimmt von der Dankbarkeit des Gespeisten und der Unterwerfung des Klienten unter seinen Patron. Wenn sich im Frühling alle, die im karolingischen Reiche zählten, in Gegenwart des Königs versammelten, dann ging es zu wie bei einem Familientreffen mit Austausch von Geschenken und fröhlichem Gelage. Dies bot Gelegenheit zur Inszenierung der königlichen Privatheit. Das Haus des Königs musste offen sein, stolz sein Inneres zeigen und die Mahlzeiten des Hausherrn wurden feierlich begangen. Die Grafen, die den König in den überall im Reich errichteten Palästen im 9. Jahrhundert vertraten, waren, wie der Herrscher selbst, „Gestalten der Öffentlichkeit und zugleich, durch Ausstellung ihrer ‚privance‘, nahrungsspendende Väter".⁵³

    Die sozialpolitischen systemischen Verhältnisse, ideologisch als familiär-persönliche gedeutet, bildeten und bewegten sich generell im realen darstellerischen, öffentlich wirksamen Verhalten und Handeln innerhalb der unterschiedlichen Schichten und speziell im Auftreten der Machthabenden als „Nahrungsspender" bzw. Ernährer gegenüber den unterdrückten und ausgebeuteten Unteren. Öffentliches, gesellschaftliches Geschehen konnte so zu einer gleichsam durchgehenden Kette symbolisch-theatraler Aktionen werden.⁵⁴

    Mahlzeiten der „nahrungsspendenden Mächtigen, scheinbar das unauffällig Alltägliche, waren herausragende Performances. Die Geld- und Naturalienreserven, die im Schlafgemach, in den Speichern und im Weinkeller französischer Adelshaushalte im 11. und 12. Jahrhundert deponiert waren, dienten vor allem als Vorräte für künftige Feste, bei denen man den Reichtum des Hauses mit vollen Händen verschwendete. Zu den häuslichen Tugenden des Feudalzeitalters gehörte eine überschwängliche Großzügigkeit. Ihr Zweck war es, neue Verbündete ans Haus zu fesseln. Gefährten oder „Freunde verbürgten den eigentlichen Wohlstand.⁵⁵ Graf und Gräfin saßen als Herrscherpaar im „Mittelpunkt der Szene. „Da das Mahl ein öffentliches Schauspiel war, eine Demonstration der Macht, mußten die Beamten am Tisch Ritter sein. Sie erhielten dieselbe Ausrüstung, dieselbe ‚livrée‘ wie die Waffengefährten ihres Herrn. Und immer, wenn dieser zu Pferd stieg, begleiteten sie ihn, gemeinsam mit den Köchen und dem Hausdiener. Ihre täglichen Pflichten wirkten sich auf die Welt außerhalb der Burg aus; ihre Tätigkeit war offen und öffentlich.⁵⁶

    Der Reichtum war für den Feudalherrn kein Selbstzweck und kein Mittel zur Akkumulation. In den Wettstreiten der Verschwendungssucht des Typs Potlach, die den archaischen Gesellschaften eigen waren, und in den Gelagen „nach Gargantuas Manier", die von den mittelalterlichen Feudalherren veranstaltet wurden, gibt es etwas Gemeinsames – den Gewinn an sozialem Prestige und so an Macht.⁵⁷ Besonders auffällig ist die Wirksamkeit versinnbildlichenden (theatralen) Handelns für die Ausgestaltung der politischen Machtverhältnisse in den früheren Phasen des europäischen Mittelalters. Gegner Ottos des Großen griffen mehrfach zum Mittel des rituellen Gelages (convivium), um Genossen für ihren Kampf gegen den König an sich zu binden. Sie suchten dabei zweimal die Burg Saalfeld auf, was wohl kein Zufall war, sondern auf traditionelle Versammlungsorte für solche Gelage verweist. Die Gruppenbildung der Verschwörung vollzog sich in einer Reihe symbolischer Akte, zu denen das gemeinschaftsstiftende Gelage ebenso gehörte wie die Beratung über gemeinsames Vorgehen, das im Falle des Konsenses zu einer eidlichen Bindung der Teilnehmer aneinander führte. Die Initiatoren solcher Zusammenkünfte, die zur königlichen Familie gehörten – wie Heinrich, der Bruder, und Liudolf, der Sohn Ottos des Großen – dürften die Bindung auch dadurch befestigt haben, dass sie reiche Gaben an ihre Genossen verteilten. Nach den rituellen Akten war man handlungsfähig und in der Lage, offensiv gegen den König vorzugehen.⁵⁸ Jean-Claude Schmitt beginnt sein Buch zur LOGIK DER GESTEN mit dem Bericht eines Mönches vom Ende des 10. Jahrhunderts über einen Vorgang, der entscheidend war für Hugo Capets spätere Besteigung des Kaiserthrons. Noch als Herzog traf Hugo 981 in Rom mit dem damaligen Kaiser Otto II. zusammen. Während sie sich unterhielten, legte Kaiser Otto in „listiger Absicht sein Schwert auf einem Stuhl ab und umarmte Hugo als „Gleichen. Er wolle, so die Geste, frühere Vorwürfe gegen Hugo vergessen. Als das Gespräch zu Ende war, machte der Kaiser eine Wendebewegung, um „sein Schwert zu verlangen, und der Herzog entfernt sich ein wenig, bückt sich, um nach dem Schwert zu greifen und es dem König hinterdrein zu tragen. Es ward mit Absicht […] auf dem Stuhl zurückgelassen, damit der Herzog, da er das Schwert vor den Augen aller Anwesenden trug, bekunde, daß er bereit sei, es auch in Zukunft zu tragen. Allein schon durch diese, auf bloßer Unachtsamkeit beruhende Geste, kommentiert Schmitt, sei, ohne dass es noch einer förmlichen Belehnungszeremonie bedurft habe, der Herzog auf symbolische Weise zu einem Gefolgsmann des Kaisers geworden. Der Bischof, der den Herzog als Dolmetscher begleitete, stürzte vor, um ihn daran zu hindern, das Schwert aufzunehmen; er riss es ihm aus den Händen und trug es selbst dem Kaiser nach, „ohne allzu großes Risiko, war er doch ein Mann der Kirche. Als er längst König war, sprach Hugo später oft von der Weisheit seines „getreuen Bischofs. Die Gebärden gehörten zu einem rigorosen Ehrenkodex. Das Tragen des kaiserlichen Schwerts oder auch das Platznehmen an seiner Seite, das Aufsetzen seiner Kopfbedeckung usw. waren Gesten, die Menschen zu dem machten, was sie waren. Der Bischof habe die Tragweite solcher Verhaltensweisen ermessen. Da der Herzog Hugo König der Franken werden sollte, durfte er „unter gar keinen Umständen dem Kaiser das Schwert tragen, ohne seine zukünftige Souveränität zu beinträchtigen. Den allgemein als „Bewegungen und Haltungen des Körpers definierten Gesten" war im Mittelalter eine erhebliche Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge zugekommen.⁵⁹

    Theatralität prägte im Mittelalter die öffentliche Kommunikation und theatrale Versinnbildlichung „wucherte" als soziale Kennzeichnung im städtischen Alltag.⁶⁰ Städte legten besonderes Augenmerk auf Kleider und sie legten fest, wer was wann zu tragen hatte. Rang-, Geschlechter- und Generationsunterschiede wurden gleichsam ständig vorgeführt.⁶¹ Am Ende seines Bandes zur mittelalterlichen Zivilisation in Europa fasst Jacques Le Goff zusammen: „Das Schloss, die Kirche, die Stadt sind theatrale Dekorationen. Es ist symptomatisch, dass das Mittelalter keinen besonderen Ort für das Theater kennt. Dort, wo es ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gibt, improvisieren sich die Szenen und Darstellungen. Die ganze mittelalterliche Gesellschaft spielt sich selbst."⁶²

    Die „wuchernde Theatralität, das Sich-selbst-Spielen des Mittelalters basierte auf den grundlegenden Rollen, die die unmittelbaren/körperlich-persönlichen Wechselbeziehungen für die Ausbildung und das Funktionieren der mittelalterlichen Produktionsweise und Sozialbeziehungen spielten, zumindest bis in das 13. Jahrhundert. Das wurde wesentlich bedingt durch den Zerfall zentraler politischer Mächte und ihrer administrativen, militärischen, juristischen und kommunikativen Möglichkeiten bzw. „Instrumente nach dem Verfall des römischen Imperiums. Marc Bloch beginnt sein Buch DIE FEUDALGESELLSCHAFT mit Aussagen der versammelten Bischöfe der Kirchprovinz Reims 909: „Ihr seht vor Euch den Zorn Gottes sich erheben […]. Hier gibt es nur entvölkerte Städte, bis auf die Grundmauern zerstörte oder angezündete Klöster, Felder, die zu Einöden geworden sind […]. Überall bedrückt der Starke den Schwachen und die Menschen gleichen den Fischen des Meeres, die sich kreuz und quer gegenseitig verschlingen."⁶³ Eine, vielleicht die wesentliche Möglichkeit des Existierens in dieser chaotischen, katastrophalen Situation war die enge Verbindung der Körper in zwei entscheidenden Formierungen. Die Klasse bzw. die Gruppen der Herrschenden, daher der Krieger, der „Fürsten, organisierten sich in Gefolgschaftsverbünden, abgestuft mit der Unterordnung der weniger Mächtigen unter die „Obhut der Mächtigeren, die aber verpflichtet waren, die weniger Mächtigen auch zu beschützen, ja mit zu ernähren, also deren Existenz sichern zu helfen. Dem entsprachen die sich bildenden Vasallen- und Lehnsverhältnisse. Als die andere Körper-Beziehung bildete sich die Kluft zwischen den Mächtigen und den Unteren, den Produzierenden heraus, wesentlich den Bauern, die zunächst ebenfalls als Gefolgschaft gesehen wurden. Sie drängten sich gleichsam unter den Schutz der partikularisierten Krieger-Mächtigen, um sich der Willkür herumziehender Marodeur-Krieger zu entziehen. Dies waren nicht zuletzt Einfälle „von außen, von Ungarn, Wikingern, Muslimen, die bis ca. 1000 immer wieder große Teile Mittel- bzw. Westeuropas verwüsteten. Aus solchen Obhutsbeziehungen wuchs dann der sich vertiefende oder versteifende Klassenantagonismus zwischen den total Abhängigen, den Bauern vor allem, und der sich formierenden Adelsklasse, die in sich differenziert war. In diesen Prozessen hatte die alte Tradition gemeinschaftlichen, nicht zuletzt blutsverwandtschaftlichen Besitzes einen wesentlichen Einfluss, auch wenn man einhellig die Rechtmäßigkeit des Individualbesitzes für den „ökonomischen Zusammenhalt anerkannte.⁶⁴ Vasallentum und Lehnswesen bildeten sich in Verhältnissen aus, die gleichsam auf der direkten Beziehung der Körper gründeten. Ausgedrückt wurde dies in der während der Feudalzeit weit verbreiteten Wortverbindung, dass man „der Mann eines anderen Mannes sei. So klagten Nonnen aus der Normandie im 11. Jahrhundert in einer Bittschrift darüber, dass ihre „Leute, d. h. ihre Bauern, von einem großen Ritter gezwungen wurden, auf den Burgen seiner „Leute, also seiner ihm vasallenmäßig verpflichteten „niederen Ritter, zu arbeiten.⁶⁵

    Indem sich Herrschafts-, Unterordnungs- und Besitzverhältnisse bzw. -ansprüche in den Aktionen der Körper manifestierten und durchsetzten, wurde das Symbolische nahezu „instrumentell wirksam. In der Huldigung – dem Kern für die Abhängigkeitsformel, für Bündnisse der adligen Herren – faltete der Mann, der dienen wollte, seine Hände zusammen und legte sie verbunden in die Hände des Mannes, der als Herr anerkannt wurde. Dies war ein klares Symbol der Unterwerfung, dessen Sinn manchmal noch durch Niederknien hervorgehoben wurde. Dann sprach jener mit den gefalteten Händen einige sehr kurze Worte, mit denen er anerkannte, der „Mann des Gegenübers zu sein. Daraufhin küssten sich der Herr und der Untergebene auf den Mund – ein Symbol der Übereinstimmung und der Freundschaft. Der theatrale Akt diente dazu, eines „der stärksten gesellschaftlichen Bande zu knüpfen, die das Feudalzeitalter kannte".⁶⁶

    Das von der germanischen Clan-Haushalts-Gesellschaft Tradierte erhielt dann christliche Züge, wahrscheinlich seit der Karolingerzeit: Die Hand auf die Evangelien oder auf Reliquien gelegt, schwor der neue Vasall seinem Herr ein getreuer Mann zu sein.⁶⁷ Unter dem Einfluss des Christentums konnte es nicht wie in nicht-christlichen Kulturen explizit um ein Gott-Königtum gehen, doch wurde die Thronbesteigung in einer heiligsprechenden kirchlichen Inszenierung mit ritueller Salbung, mit der Übergabe des Schwertes, der Standarte und schließlich der Krone vollzogen, die herausragende, unantastbare Stellung des Königs manifestierend.⁶⁸

    Bis ins 15. Jahrhundert bestimmte das Theatrale fast alle wesentlichen soziopolitischen kommunikativen Vorgänge.⁶⁹ Jedes Ding, jedes Ereignis, betont Johan Huizinga zum späten Mittelalter, wurde als sinntragend erfahren und behandelt. Alles war voller Zeichen und dementsprechend auch gedacht bzw. vollzogen. Emblematik, das Allegorische, das Bildliche wucherten. Die Welt, schreibt Huizinga, sei schließlich ganz und gar jener alles umfassenden Versinnbildlichung ausgeliefert, die Funktion der symbolischen Gleichsetzung und Personifizierung so entwickelt gewesen, „daß sich jeder Gedanke fast von selbst in eine ‚personnage‘, das heißt in ein Schauspiel umsetzen konnte. Wurde doch jede Idee als Wesen gesehen, jede Eigenschaft als Substanz, und als Wesen verlieh ihr der gestaltende Blick zugleich persönliche Form."⁷⁰

    Kapitel II

    Theater als besonderes gesellschaftliches Feld

    Das ästhetische Interesse

    Die weitgehende Symbolik der lebensweltlichen und systemischen Vorgänge vormoderner Gesellschaften dürfte gleichsam zur Ausbildung und Ausdifferenzierung des Phänomens Theater als ein besonderes künstlerisch-kulturelles Feld (Pierre Bourdieu) „gedrängt" haben. Poetizität ist nach Roman Jakobson grundsätzlich eine Komponente des Sprechens (der Sprache) in allen möglichen historischen Kontexten.⁷¹ Unter bestimmten Bedingungen werde diese Funktion dominant. Sprache oder Sprechen verdichtet sich gleichsam zu ausdifferenzierter Poesie oder allgemeiner zu dichterisch kreativer Literatur. Das könnte sinngemäß auch für Theatralität gelten. In den ästhetisch dominanten, vorwiegend professionell betriebenen Tätigkeiten, die wir heute als Theater(-künste) ansehen und begreifen, wird das theatrale Machen eines Vorgangs spezifisch als solches herausgehoben und so wahrgenommen. Das Theatrale erscheint gleichsam verdichtet.

    Kunst wird hier verstanden als ein Können, wie Bertolt Brecht, ein Moment der deutschen Sprache glücklich nutzend, in den MESSINGKAUF-Bruchstücken bündig feststellte.⁷² Es wäre hinzufügen: ein spezifisch ausgestelltes und auch besonders wahrgenommenes Können. Oder auch: Kunst könnte der historisch veränderliche Prozess des Produzierens, Vermittelns und des sinnlich-geistigen Verarbeitens (Rezipierens) von Zeichenkomplexen sein, der jeweils durch ein besonderes (ästhetisches) Interesse an den Zeichengestalten und in diesem Sinne an dem So-und-nicht-anders-Machen bzw. -Sein der Gestalten bestimmt wird.⁷³ Vormoderne Gesellschaften, die, fast notwendig, un-problematisiert theatral verkehrten, in denen der produzierende und kommunizierende Körper, die Einverleibung gesellschaftlicher Verhältnisse fundamental waren, dürften besonderes Interesse an der Sinnlichkeit des Machens, daher der Art und Weise der Einverleibung als solcher entfaltet haben. Im betonten Gliedern oder Rhythmisieren von Tätigkeiten, im ständigen Ordnen von Gesten, Bewegungen, Tönen und Dingen zu besonderen Zeichenkomplexen liegt auch immer die Tendenz, das Formen selbst, den Umgang mit den Signifikanten als solchen herauszuheben. Das wäre der Ansatz, theatrale Tätigkeit ästhetisch zu nehmen und sie dann als spezialisierte, „ausdifferenzierte" herauszustellen, in Aktivitäten und Institutionen, die als Kunst gefasst werden können. Im bildhaften Behandeln der Dinge durch das konkrete, symbolisierende Denken und seine Praktiken erscheint das Tun selbst, die besondere Form des Ordnens, als ein besonderer Wert.⁷⁴ Der Rhythmus, so die russische Altphilologin Olga Frejdenberg zur antiken griechischen Literatur und auch zum Theater, sei im gesamten Verhalten des Menschen gegeben. Die grundlegende Polarisation der ursprünglichen Bildhaftigkeit zeige sich nicht nur im Semantischen, nicht nur in der Dimension und der Generierung des Bedeutens der Dinge, des Wortes und des Tuns, sondern auch in ihrer formalen Basis. Vielleicht wäre die ganze ursprüngliche Kultur dadurch Kunst.⁷⁵

    Im vormodernen Afrika drängte sich der Wahrnehmung das Artistisch-Künstlerische theatraler Vorgänge, die primär andere Zwecke und Funktionen hatten, geradezu auf. Die auf den Umgang mit mythischen Gestalten gerichtete Ekine-Gesellschaft im südlichen Nigeria stellte traditionell einmal im Jahr die „Ankunft der Götter" dar. Mitglieder, Darsteller, konnten nur artistisch Begabte werden. Im frühen Kindesalter suchte man tänzerisch herausragende Jungen und förderte sie bis zum Eintritt in die Gesellschaft.⁷⁶

    Könige demonstrierten ihre Größe, ihre Macht, ihre ans Göttliche grenzende außergewöhnliche Herrscherkraft nicht zuletzt auch in der außergewöhnlichen Gliederung der königlichen Bewegung und Rede und im besonderen Umgang mit dem Tanz als einer besonderen Verhaltensweise. Herausragendes Gestalten (Machen) sprach so von der herausragenden Position des Darstellenden. Die besonders gelungene Bewegung und das „gekonnte" Reden erschienen als ein spezifischer Wert, gleichsam kunsthaft Interesse an sich selbst bindend, in diesem Falle noch in untergeordneter Funktion. Europäische Missionare und Unterhändler des 19. Jahrhunderts berichteten oft ausführlich über die Theatralität öffentlicher kommunikativer Vorgänge. Im 19. Jahrhundert erlebte der Kolonialreisende Georg Schweinfurth das öffentliche Auftreten des Königs Munsa der Mangbetu (Zentralafrika), in dessen Zentrum eine politische Audienz stand, als ein umfassendes Schauspiel, in dem Munsa sich als mächtiger Herrscher

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1