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Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990: Essays II
Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990: Essays II
Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990: Essays II
Ebook426 pages5 hours

Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990: Essays II

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About this ebook

Dieser Band versammelt die wichtigsten Essays und Studien, die Jiří Gruša von 1990 bis zu seinem Tode 2011 verfasste. Nach der Wende hatte er gehofft, in seine Heimat zurückkehren zu können und in seiner Muttersprache wieder publizieren zu können. Es kam anders. Sein Freund Václav Havel bat ihn, Botschafter in Deutschland zu werden. So kam es, dass Gruša keine längeren Texte mehr verfassen konnte, eben wegen seiner diplomatischen Tätigkeit als Botschafter in Bonn und dann in Wien und schließlich als Direktor der dortigen Diplomatischen Akademie.

In dieser Zeit sind aber viele kürzere und längere eindrucksvolle Texte entstanden, die mit seiner Tätigkeit der Vermittlung zwischen Tschechien und den deutschsprachigen Ländern zu tun haben, Texte, in denen er die politische und kulturelle Konstellation Mitteleuropas analysiert und deutet, immer getragen vom Wunsch nach Versöhnung und Verständigung. Die deutsch-tschechische Erklärung, die einen Schlussstrich unter das Vergangene ziehen sollte, ist nicht zuletzt sein Werk.

Was er zu sagen hat zur politischen und geistigen Situation in Europa, hat seine Gültigkeit nicht verloren. Seine eigenen Erfahrungen, die ihn zum Schreiben drängten, formulierte er in seiner Dresdner Poetik-Vorlesung, es sind die Erfahrungen eines Mitteleuropäers. Bewundernswert sind die Klarheit und die Unabhängigkeit seines Urteils. Nach 2009 blieb ihm nur kurze Zeit für umfassendere Texte. Was uns entgangen ist, belegt der Anfang seiner Erinnerungen an seine Zeit als Botschafter, sie zeigen ihn als witzigen und scharfsinnigen Beobachter, ein Schriftsteller und Diplomat, ein Stilist und Realist zugleich.
LanguageDeutsch
PublisherWieser Verlag
Release dateSep 1, 2017
ISBN9783990470787
Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990: Essays II

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    Werkausgabe Jiří Gruša / Essays und Studien ab 1990 - Jiří Gruša

    Zimmermann

    Václav Havels Theatrum Mundi

    (1990)

    Noch an der Schwelle der Fernsehzeit und der endgültig gerechten Zukunft für die Nachkriegskinder zogen die letzten Puppenspieler durch Böhmen mit Stücken aus jener skurrilen Zeit, in der die Seele des Menschen Gott und Teufel noch so viel wert gewesen ist, dass sie darum ihre dramatischen Wetten abgeschlossen haben.

    Mit dem Verbot der alten Märchen hat das Neue Einzug in die Gemüter der Generation gehalten, der Havel angehört und die durch diesen seltsamen Raub geprägt worden ist. Er warf ein schiefes Licht auf die Pläne der Erneuerer und auf ihr Wissen, das den guten Kasperl nicht vertrug. Im Glauben, die geschichtliche Dynamik entdeckt zu haben, selektierten die »Retter« – um jenen Namen für sie zu finden, den Havel ihnen später gab – zwischen »morsch« und »brav«, bis man nur noch das Brave hatte, beherrschbar, eine Puppenwelt, ein Paradies der Starre.

    Man folgte eigentlich nicht dem Gesetz der Geschichte, sondern dem der Entropie. Man verwaltete sie. Und man tat das so perfekt, dass es für ewig zu sein schien, hätte nicht der Zerfall auch die Sprache der Retter erfasst. Und hätten sie schließlich nicht mehr das Gewollte bezeichnet und verstanden.

    In ihrer Sprache waren sie zu knacken. Und eben da fing Havel an. Nicht die Kritik an der schlechten Praxis einer richtigen Idee interessierte ihn. Das überließ er den jüngeren Mitmachern der Nachkriegsutopie, die dann enttäuscht und mit Schuldgefühlen den Reformversuch anno 1968 wagten. Nicht die Bissigkeit und Götterdämmerungsallüren der Verlierer von 1948 lockten ihn. Er sah darin eher das Abbild des gegnerischen Glaubens – nur dass hier die berühmte Einsicht in die Notwendigkeit zu jenem Fatalismus wurde, mit dem die Niederlage weggewischt werden konnte. Nein, Havel hörte der Sprache zu. Er untersuchte das Verhältnis zwischen Welt und Wort. Anders gesagt: ob das Wort, wenn ich es so sagen darf, »bildet«, »abbildet«. Denn Wort war ihm auch Bild – und dadurch Tatsache. So entdeckte er zuerst die »Machtlosigkeit der Mächtigen« – indem er die Herrscher als Schwätzer entzauberte. Als Verfechter des »Ptydepe«, der inhaltlosen Rede.

    Die Stücke seiner ersten Schaffensperiode nutzten die Poetik des absurden Theaters, die auf den Zerfall des Zwischenmenschlichen zielte und das groteske Zerbröckeln jeder Kommunikation zum Ausdruck brachte. Doch in der Welt der Wissenden war die »morsche« Sprache das Medium schlechthin und die Absurdität kein Ergebnis der inneren Krise, sondern ihr Ziel. Sie war realistisch hoch zwei, stur und variabel zugleich. Sie mimte die Zuckungen des zu tötenden Lebens. So konnte man die Zyklen der »Lockerer« und der »Verhärter« ausmachen – das einzig Zeitliche in dem zeitlosen Gesicht der Tyrannei.

    In jener lockeren Periode des Chruschtschowismus sah Havel es so und hat es zum ersten Mal beschrieben. Er glaubte weder an eine Weltliteratur im goetheschen Sinne, noch suchte er etwas Kalkulierbares. Wenn er dennoch bereits damals ein breites Echo fand, lag es daran, dass sein »logischer Ansatz« das Ido der Entropie traf – das Blabla der Genossen. Nichts aber hatten die weniger gern als Ironie und einen Spiegel ihrer tatsächlichen Schwäche.

    Sie rafften sich bald zusammen. In die zyklische Wiederkehr des Immergleichen strahlte »die menschliche Fackel Jan Palachs« – und deutete unmissverständlich an, dass auch die Worte der Kritiker auf ihren Gehalt hin geprüft werden sollten.

    Das Alte war dennoch neu. Zumindest für Havel und seine Altersgenossen, die eben die erste erreichte Stufe der besseren Zukunft verkörperten. Unbeeindruckt griff die Macht nun auch nach den Kehlen der Enkel. Verlangte von ihnen mitzuschwätzen – das alte Mitschweigen reichte nicht aus. Es ging nicht mehr nur um den Glauben an die Utopie, an das Potemkin’sche Dorf in der Ferne, sondern darum, darin auch Leben vorzutäuschen.

    Der zweite Abschnitt des Schaffens kündigte sich bei Havel als schmerzlicher Verlust der Distanz eines Ironikers an. Er wählte eine der riskantesten Lösungen, um seinem »logischen Ansatz« treu zu bleiben: Er setzte sich selbst ein und machte die Identität des Menschen zum Thema.

    Ein Bühnenautor ohne Bühne ist wie ein Briefschreiber ohne Post. In einer Gesellschaft der totalen Macht ist nur eine Adresse frei – die der Macht selbst. Die Herrscher können sich gegen eine unannehmbare Nachricht nur so lange schützen, solange der Absender nicht das, was er zu sagen hat, durch sein Leben bestätigt. So wurden sie zu Havels Publikum.

    Oft auch in Briefen, die seine Erfahrung mit dieser neuen »Öffentlichkeit« verarbeiteten. Ein Live-Theater ohnegleichen. Nach der Ohnmacht der Mächtigen entdeckte er die Macht der Machtlosen. Die Macht des Benennens. Er wusste, dass jede Aussage ihre Relevanz in sich trägt, dass ihr Sinn nicht von Ablehnung oder Zustimmung abhängt, wie das die Herrscher gern glauben in der Einbildung, dass sie auch die Kunst der Sinngebung beherrschten.

    Havel setzte sich selbst ein – und starb beinahe, als ihn sein Mut an die Grenze des Physischen brachte. Die heutige Euphorie verschleiert ein wenig den wahren Preis, den die Macht des Wortes gekostet hat. Das Sichtbare, ja Theaterartige an diesem Schicksal ist ohne Requisiten über die Bühne gegangen, die Toten konnten sich, nachdem der Vorhang gefallen war, nicht mehr erheben – und diese einzigartige Geschichte eines Dramatikers mitten in Europa führt eigentlich das Wunder des Lebens vor Augen: Vita activa und Theatrum Mundi zugleich.

    Zurückgekehrt aus dem Kerker, genas er langsam und staunte darüber, dass er sich selbst nicht mehr gehörte. Man verlangte von einem, der seine Identität bewahrt hatte, auch die der anderen zu schützen – obwohl er bereits erfahren hatte, wie beschränkt jede Einzelgarantie rein körperlich zu sein vermag. Und dass man nach wie vor nur die Wahl zwischen »richtig« und »falsch« hat. Gerufen von vielen, wehrte er sich dagegen: erstens, um die für jedes Schreiben lebensnotwendige Distanz zu retten; und zweitens in der Befürchtung, auf eine ungeahnte Weise verpflichtet zu werden, und zwar in einem Bereich, der ihm am suspektesten war.

    Er unternahm noch einen Versuch, sein Dilemma zu literarisieren. Noch einmal ließ er seine Hard- und Softliner des »Ptydepe« die Bühne passieren – doch sie waren plötzlich zu traurigen Kasperln geworden, verkümmert im teuflischen Grau einer Puppenwelt, die in der Tat eine Wachspuppe in ihrem Mausoleum verehrte. Als würde ihn diesmal die Macht dieser Macht interessieren.

    In seinen Texten taucht ein neues Wort auf: Verantwortung. Ein Begriff, der die distanzierte Nähe des Literarischen sprengt, weil man die Tatsachen nicht nur bezeichnen, sondern auch schaffen will. Indes – derjenige, der die Tatsachen schafft, schreibt keine Geschichten mehr, er wird zur Geschichte. Wird zur Figur eines Theaters, das keiner Autoren bedarf – außer der alten, meinetwegen göttlichen. Die Wahrheit des Stückes liegt nicht mehr in den Händen des Einzelnen. Nicht einmal das, was er hinter sich gebracht hat, seine Biografie – bislang der Beweis für die Gleichheit von Wort und Wert –, bleibt dem Helden des Geschehens. Der Verkünder der Identität des Menschen steht vor der Absurdität: sich selbst als Objekt einer Biografie erdulden zu müssen, die er als Autor höchstwahrscheinlich ganz anders geschrieben hätte – verfremdet, vieldeutig, jenem Tanz gleich, in den doch so viele Havel’sche Stücke münden. Wie ich ihn kenne, kann er diese größte Ironie seines Lebens nur so mit Fassung tragen, dass er an das Wechselspiel vieler solcher nichtbestellter Lebensbilder glaubt, aus denen sich vielleicht einst das Bild des Lebens ergibt. Kein Denkmal, keine Hagiografie – aber eine Flamme, die flackert, von vielen Quellen gespeist, um die Wahrheit sehen zu lassen, die, wie man gelernt hat, das Sein erblicken lässt. Auf diese Weise bleibt das Geheimnis Havels dennoch erhalten, denn die Wahrheit der wirklichen Dinge erscheint dem Menschen immer nur fragmentarisch. Im Unterschied aber zu dem Wissen der Wisser, die Václav Havel so verabscheut, wird klar, dass hier das nicht zu Durchdringende ein Bestandteil jeden Verstehens bleibt.

    Einmal hatten die Havels Besuch. Hinterher äußerte der kleine Václav seine Verwunderung über den Besucher, warum er nicht bucklig sei. »Aber warum denn?«, wollte die Mutter wissen. – »Er hat ein Gesicht wie ein Buckliger.« Für die Mutter war das ein Anlass, ihren Kindern eine Predigt zu halten. Sie machte ihnen klar, welch grausames Schicksal die Natur den Buckligen bereitet und wie traurig eine Mutter ist, die ein buckliges Kind hat. »Ja«, erwiderte Vašek, »und eine Kamelmutter ist traurig, wenn sie ein Kind bekommt, das keine Höcker hat.«

    Fröhliche Nützlichkeit

    (1990)

    Es gibt einen uralten Fluch der tschechischen Schreiber, von Kafka in seinem Tagebuch (1911) notiert und in dem tschechischen Böhmen nie richtig wahrgenommen: »Fröhliche Nützlichkeit«.

    Sie war Resultat der neueren Geschichte des Landes, als der Tscheche auf seine einst vorwiegend protestantische Oberschicht verzichten musste. Die ist während des Dreißigjährigen Kriegs verschwunden, und die übrig gebliebenen Kleinbürger, Bauern und diversen Dienstleute, nun alle schön katholisch, haben ihr höheres Streben von dem untersten Unten an begonnen. Samt der schreibenden Zunft, versteht sich. Man hat sie schlecht ernährt, doch irgendwie gemocht – als eine Spinnerei im »böhmischen Dorf«.

    Mit dem Ausdruck »etwas ist jemandem böhmische Dörfer« belegt das deutsche Idiom die pure Unverständlichkeit. Diese Wendung – er hat sie in Böhmen am eigenen Körper erlebt –, hat Kafka gute Dienste geleistet, als er »Das Schloss« schrieb, diese nie zu beendende Kartografie des Herumirrens eines Fremdlings zwischen dem Unverständlichen und dem Uneinnehmbaren, zwischen Dorf und Schloss.

    Übrigens, die Tschechen nennen »böhmische Dörfer« – »spanische Dörfer«.

    Man könnte sogar in der modernen tschechischen Geschichte die hartnäckige und allmähliche Eroberung des auf Deutsch parlierenden Schlosses der Gegenreformation durch das böhmisch brabbelnde Dorf sehen. Die Sprachmeister des Dorfes, die Literaten, waren dabei die gern gesehenen Fahnenschwinger. Bewährte man sich in diesem Beruf, stieß man auf Anerkennung und Vorteile, wie sie so trefflich der große jüdische Prager formuliert hat: »Alles geschieht in der ehrlichen Weise, nur dass innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird, die sich niemals löst … und durch das SichHeben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet.«

    Also die Nähe an der Sache des immer gemeinsam zu bestimmenden Volksbewusstseins, der Hang zur Politik, mit dem wiederum eine beinahe komische Überschätzung der Literatur – gar nicht so paradox – einhergeht. Der tschechische Literat als ewiger Hilfslehrer der Nation! Nur eine Minderheit hat hierdurch einen Strich gezogen – und ist immer kläglich an dem jeweils gegebenen Spielschema des engen Raumes gescheitert. Es ist nicht verwunderlich, dass die wahre Kontinuität der Literatur eigentlich die Ausgestoßenen repräsentieren. Bis zu den dreißig Jahren der literarischen Ungnade für Havel, den siebenmonatigen Staatspräsidenten von heute.

    Nun, als Kafka seine Bemerkungen niederschrieb, sah es zum ersten Mal so aus, als ob sich die Literatur der alten Last bald entledigen könnte. Manche hätten damals schon geschworen, es wäre so weit. Das Schloss fiel kurz darauf in tschechische Hände, und der dorthin eingezogene neue Herr war – ein Literat. Ein Philosoph von Berufs wegen, vielleicht der erste seit Plato, dem es gelungen war, einen Staat nicht nur zu ersinnen, sondern auch zu schaffen. Eigentlich keine schlechte Leistung im Vergleich mit dem Urvater dieser Idee, der mit seiner Weltklugheit dreimal an einem ziemlich unbeholfenen Tyrannen gescheitert ist.

    Masaryk war schließlich ein mit platonischem Gedankengut ausgerüsteter Weiser, dessen Originalität eher in der Erschaffung dieses Staates beruhte, als im reinen Grübeln nach dem deutschen Muster eines Philosophen. Sein Staat war eine Demokratie, ein wenig oligarchisch, doch die einzige der Region.

    Den Literaten ging es darin gut, vielleicht wurden sie deswegen so sehr gehasst – jedenfalls die meisten von ihnen: die Avantgarde und ihre Sympathisanten, die sich für weltoffen hielten und sich lieber Impotenz vorwerfen ließen als Unfortschrittlichkeit. Die wenigen, denen dieser Vorwurf nichts ausmachte, waren entweder dem guten Staat zu nahe und somit voll gutmütigen Lobes, oder zu fern und somit grimmig. Alle werden später versöhnlicher, ja reumütig – nach dem Motto von Seifert: Wir waren glücklich, ohne es zu wissen.

    Die Zeit des In-Sich-Ruhens war zu kurz und die Chance, auf die Hilfslehrer des Volkes zu pfeifen, zu klein. Die historische Lücke, in der sich ein Philosoph herrschaftlich einrichten konnte, füllte ein anderer Mitteleuropäer aus, halb Maler, halb Schmock. Er hatte die Vision eines rein völkischen Glücks, und in seinem nationalen Sozialismus gab es für Tschechen, Juden und Mischlinge keinen Platz. Herr Hitler, fast ein Landsmann, zwang also die tschechischen Autoren wieder in den Schützengraben. Diesmal eher widerwillig, haben sie sich hineinbegeben, und viele, allzu viele für so ein kleines Volk, sind auch darin umgekommen. Wieder emporgetaucht, kehrten sie wie Helden zurück – doch fast jeder in irgendeiner Uniform.

    Und was noch schlimmer war: Man konnte jetzt die nie ganz erloschenen Tugenden der kleinen Literatur wie in einem Treibhaus wachsen lassen. Die tschechische Avantgarde, international getrimmt, ergötzte sich an einem Sozialismus, der sich »internationalistisch« nannte, und veranstaltete dabei wahre Orgien des engen Literatentums. Nun, da die Welt, rein technisch gesehen, zu einem globalen Dorf geworden ist, ist diese Erfahrung und Züchtung plötzlich global geworden. Und vielleicht, so fürchte ich manchmal, wird sie langsam zur Weltpraxis.

    Selten hat ein Staat der Literatur so viel Verlockendes geboten wie die Tschechoslowakei der Nachkriegszeit. Und selten sind so viele Literaten der Macht dermaßen auf den Leim gegangen. Aus den aufmüpfigen Ironikern oder anarchistischen Rebellen sind Genossen des tierischen Ernstes und Staatssekretäre geworden. Man holte sich den Stalinismus ins Haus wie eine Kavalierskrankheit. Erst wenn Blut floss, und zwar auch das der eigenen Leute, wurde man nüchterner und dachte nach, wie aus der Patsche herauszukommen sei.

    Die Idee hieß »Reform« – und endete im Staunen darüber, dass das Formlose nicht zu reformieren ist.

    Man schrieb 1968, die russischen Panzer verließen Prag, und manchem schien es, als hätte diese Stadt auch jene »fröhliche Nützlichkeit« verlassen, der alte Ulk. Die Literatur war doch unnütz. Das neu-alte Regime sprach aufrichtig, es brauchte keine Literatur, höchstens hatte es ein Werbebüro nötig, mit Texteschreibern zum Anpreisen des einzig »Wahren«. Diese Ware aber war so offensichtlich schäbig, sodass sich nur Schäbige fanden, um sie zu besingen.

    Und dennoch hat die Macht auch dann die Literatur in Bann gehalten. Es entstand zwar eine breite Zone leiser und lauter Verweigerer, doch um sich Lebensraum zu schaffen, schufen sie ein Ghetto. Darf man aber, um frei zu sein, so intim mit denen leben, die einen gefangen halten? Und die Literatur, die kämpft, um wieder zu sich selbst zu finden – ist sie nicht immer ein wenig taub für die kleinen Geräusche, für ihr eigenstes Handwerk? Denn die Musen, wie bekannt, vertragen bestimmte Klänge nicht.

    Der wundersame Widerstand der Machtlosen hat sie mächtig gemacht – und ihr Wort zweckgebunden. Zum Zweck der Freiheit, wohlgemerkt, doch eben nicht so zweckfrei, wie bei Kafka und den wahren Freien.

    »Die Macht der Machtlosen« ist zur Macht geworden, sehr eindrucksvoll, fast bibelartig … Ich selber habe vor Freude geweint. Ich kenne kein anderes Land, in dem sich so viele Literaten so staatstragend in einem Boot eingefunden hätten, um die Schleuse der Geschichte zu befahren … Mich fröstelt grausig, denn ich ertappe mich dabei, dass ich ihnen die Daumen halte. Zum ersten Mal in meinem Leben – einer politischen Macht!

    Schrecklich – weil der Preis, der literarische, unverkennbar hoch ist, und weil Kafka damals schwarzprophetisch gemeint hat: Es ist schwer, sich zu ändern, wenn man dieses nützliche fröhliche Leben in allen Gliedern gefühlt hat.

    Die deutsche Einheit

    oder:

    Hilfe zur Selbsthilfe

    (1991)

    Als ich unlängst einer der typischen Debatten unserer Tage beiwohnte, die sich, wie üblich, mit dem Selbstbild der Deutschen beschäftigte, rief ein kluger Journalist, der sonst gar nicht für emotionelle Sprüche bekannt ist, aus: »Wann endlich begreift ihr? Wir leben im Jahre zwei der deutschen Einheit!« Weil niemand das Faktum vorher bezweifelt hatte und nachher auf diesen Ruf reagierte, wurde ich nachdenklich und habe mich beinahe zu Wort gemeldet.

    Wegen der leidigen Pflicht, nicht immer das sagen zu dürfen, was ich will, konnte ich damals aber nur einen Treppenwitz in die Bonner Abendluft hineinsagen. Ein l’esprit d’escalier, wie es ursprünglich so schön heißt, obwohl dahinter eine sehr tschechische Erfahrung steckt. L’escalier du Prague – möchte man sagen. Zumindest was das Selbstempfinden betrifft. In unserem Saeculum der Identitätssuche europäischer Völker haben wir Tschechen Treppenwitzwahrheiten auf Vorrat gesammelt – ungeachtet dessen, dass wir im Tschechischen kein solches Wortbild anbieten können.

    Jetzt aber, wo ich mich selbst auf der schwankenden historischen Escalier befinde und das tschechoslowakische Haus verlassen habe, um das böhmische zu be- und vertreten, darf ich in die patriotische Schatzkammer der Wegwerfwarnungen meines Landes greifen und die Antwort wagen, die ich damals nicht geben konnte: »Warum, mein lieber Freund, hast du nicht gesagt: Vergesst nicht, wir leben im Jahre zweiundvierzig der deutschen Demokratie?« Ich wäre wesentlich ruhiger nach Hause gegangen.

    Der Satz wäre nämlich dem wahrlich revolutionären Markstein einer neuen Ära gerecht geworden. Wenngleich er so spießig-chronologisch-nüchtern klingt – denn etwas schon Geeintes braucht wohl kaum seine Einheit zu berechnen, braucht keine Nulljahre kurzatmiger Zeitrechnungen. Man gibt sich bescheiden – aus lauter Stolz, dass man hat, was man hat. Vielleicht ist das die wichtigste Übung von heute. Zahlreiche Europäer suchen schon wieder ihre Identität – in der Annahme, sie fänden etwas Anderes als das, was sie schon haben. Ein Fundament für ferne Firmamente. Als ob nichts so direkt disponibel wäre, wie eben das, was wir in der Tat sind! Als ob nicht jede Fliege, jede Maus ihre Identität hätte: Das Eins-Sein mit sich selbst! Warum also der sakrale Ton bei so einem Miniwort? Die menschliche Frage – und also keine Fliegen- oder Mausefrage – wäre wohl die: Warum sind wir so ungern, was wir eben sind?

    Aber es ist ja wirklich schwer, sich mit dem zufriedenzugeben, was uns zwar immer zur Verfügung steht – aber gewissermaßen als Flamme. Nicht greifbar also, stets unidentisch mit dem, der sich daran nur erwärmen will, aber nicht bereit ist, sie zu nähren – mit seinem eigenen Talg und Balg. Nicht Identität erstreben wir, es geht uns um Identifikationen. Etwas Festeres soll her! Ein Fundament – auf dem die Fundamentalismen gründen. Und diese wiederum versprechen uns zwar die Erneuerung der Werte, die Entfesselung neuer Kräfte – aber dahinter verbirgt sich die alte Fratze unseres Jahrhunderts: das europäische Gewaltpotential, die Utopie. Im Rekurs auf all die heiligen Sprachen und Schriften suchen die sich für auserwählt haltenden Völker Europas, einen Exklusivvertrag mit Jahwe abzuschließen, für den Fall, dass dieser für tot erklärte Gott doch noch leben sollte. Aber heißt der nicht ICH-BIN-DER-ICH-BIN, also der Identische? Und ist das nicht vermessen, ihm gleichen zu wollen? Das alte Angebot der Schlange: »Ihr werdet sein wie Gott«? Als wäre ein Gott durch die Art der Anrede zu korrumpieren. Oder weniger exaltiert: als wäre die gewünschte Zukunft dadurch zu erzielen, dass man sie will! An den Utopien ist ja weniger das Gewollte so kläglich als vielmehr die Art des Wollens.

    Die Art des Wollens – diese Auffassung von Zeit, diese Schnurstracksmasche aller Kleinpropheten. Sie reden nur herbei, was sie schon kennen – und so finden sie im Zeitgewebe nicht das Neue, sondern nur das Alte: die »Zukunft der Vergangenheit«. Nach dem Desaster der Kommunisten, die das Fundament ins Firmament verpflanzt und sich so entwurzelt haben, kommen jetzt die Wurzel-Fundamentalisten, und das ganze Europa bebt unter ihren Paukenschlägen. Ich meine da nicht speziell die deutschen Trommelschläger. Ich weiß, es gibt sie überall – und nicht weniger laut. Doch andernorts hat man freilich nur selten diese Gewohnheit, die »Gegenwart der Gegenwart« zu verkürzen, wie das der Mann tat, der nach dem Zeitalter der deutschen Einheit gerufen hat. Keine Tradition hat Zukunft, die das Leben in der Zeitlichkeit unterschätzt und das Heute nur für die Schulstube des Morgen hält. Zugegeben, es hat mich überrascht, dass sich der ewig Werdende, der Romantiker, der Deutsche pur, hier wieder zu Wort gemeldet hat.

    Denn die »Gegenwart der Gegenwart« ist die Sache selbst. Und sollte sich ihre Missachtung noch steigern, könnten die Paukenschläge die immer auf leisen Sohlen schreitende »Gegenwart der Zukunft« übertönen. Könnte die alte Krankheit Deutschlands herausgepaukt werden, die Zwitterhaftigkeit der deutschen Vorzüge. Jene Hybridität, die gern zur Hybris wird – und die die Götter bekanntlich strafen. Man war in Deutschland griechisch gut belesen, hielt sich für das neue Hellas, baute im Norden dorisch und ionisch. Aber die Hybris als die Hauptsünde des Menschen – wie sie die Alten genannt haben – zu verstehen, das tat man nicht. Wie kann es sein, dass sich Deutschland eigentlich erst heute aus seiner Trampelei im europäischen Porzellanladen zwischen 1870 und 1914 Gewinn erhofft? Schon damals war der deutsche Nationalstaat zwar der jüngste und vielleicht auch der strahlendste unter den Kraftprotzen des Kontinents – aber doch irgendwie ohne Abitur: Er hatte schwer daran zu kauen, per Zufall zustande gekommen zu sein. So suchte er nach Gründen: Das Entlegenste sollte für das herhalten, was das Naheliegende nicht ergab.

    Hohenzollern im Barbarossa-Look. Bismarck als Hermann der Cherusker. Zweckgeschichte sollte darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Einheit eigentlich hinkt. Dass die Anläufe zu ihr bereits von den Glaubenskriegen dahingerafft wurden. Dass der Fall der Bastille die halbwegs von den Blessuren dieser Kriege genesenen Deutschen auf dem linken Fuß erwischt und ihnen nicht nur das Vorbild für das Wir-Gefühl, sondern auch den Erbfeind gebracht hatte. Dieses Frankreich, dem die Deutschen nicht zuletzt ihre Kleinstaaterei unter den Duodezfürsten zu verdanken hatten, war wieder einmal vorne. Und ausgerechnet Frankreich empfahl jetzt eine Kur gegen die Willkür der Fürsten! »La Nation« hieß die Formel, die auf den Gebieten so vieler Teilungen mehr als konträr wirkte. Sie weckte den Wunsch, deutsch zu sein, und zerstörte zugleich das alte Reich, in dem dieser Wunsch wertfrei gewesen wäre. Sie bedrohte die Fürsten, und brachte sie zugleich zurück. Und hatten sie vorher lieber französisch parliert, sprachen sie nun deutsch, die Konstrukteure einer Nation, in der Philologie gefragt war, der Code civil aber nicht. So entstand etwas, was lieber »ethnos«, »Volk« genannt werden sollte als »Nation«.

    Ein Stammvolk. Eine Bevölkerung und ihre Herren. Sie schätzten die militärische Mobilität des Neuen, dafür aber hassten sie dessen Legalismus. Die Fürsten des »ethnos« waren zum Guten bereit, solange sich die Deutschen höchstens als Kulturbürger verstehen wollten, nicht aber als »demos« als Bürger der Polis. Doch ohne »demos« keine Demokratie. Statt Bürger – Beamte. Man lobte den staatlichen Willen, der die Interessengruppen sprengt, die Parteien in die Schranken weist, um sie an den Ursprung zu erinnern – im Wertvollsten, im Reinen, in der Sprache, dem Blut: in der Volksgemeinschaft. Philosophisch perfekt geschult, kreierte man im Deutschland jener Jahre eine Theorie, die das Gefühl der Zwitterhaftigkeit thematisierte. Etwas Dennoch-Unvereinbares zu haben, frustriert. Man ahnte: Der Heftstich meiner Turnhose lässt noch keine Sprünge zu. Und dabei verlangt die Zeit nach ihnen – macht selber ungeahnte Sätze. Etwas Dennoch-Unvereinbares zusammenzuhalten, macht nervös. Man möchte es beseitigen – und behalten zugleich. Das politisch Hybride wurde zur Dialektik. Sie sollte nicht mehr bloß rhetorische Überzeugungskunst bleiben. Von nun an sollte sie gleichsam wie eine theologische Triade jeden Gegensatz schöpferisch vereinen, ihn aufheben, ihm zu einer Einheit verhelfen. So würden die Vorteile des Nachteils anerkannt und geehrt zugleich. Man dachte, dies den geschichtlichen Sprüngen entlockt zu haben – nicht ganz falsch abgeguckt. Das Wort »Geschichte« meint doch selbst schon »Sprünge« – im Tschechischen kann man seine Etymologie noch recht gut heraushören: »Skok« bedeutet »Hopser«. Kein Schichten nach irgendeinem Bauplan. Auch kein Sprung in abgeklärte Gegenden, kein Bespringen von ausgewählten Wesen. Bloß ein Ereignis, zu dem eventuell auch wir noch werden könnten, wenn wir mutig und willig aus der »Gegenwart der Gegenwart« die »Gegenwart der Zukunft« wählen! Die Dialektik meint, das Ziel zu wissen. Wie erhaben, zum Werkzeug des Sinns zu werden! Die Meinung des Seins zu sein, das mich meint! Und meinen Stamm zum Stammbaum jeden Werdens macht! Und Mitteleuropa zur Weltmitte.

    Die schnellen Siege bei Sadowa und vor Paris haben selbst die nüchterneren Deutschen zu ähnlichen Schlüssen verleitet. Man hat die flache Sachlichkeit der Anglosachsen entdeckt. Auf einmal schien sie der Oberflächlichkeit und Dekadenz der geschlagenen Franzosen zu gleichen. Ein tieferes Gemüt kann sich an solcher Seinsvergessenheit nie ergötzen. Es hat seine Heimat in der Ursprünglichkeit, die dem Anprall der Versachlichung trotzt. Was übrig bleibt, so verkündete man, ist, nach der äußeren Einheit die innere zu schaffen – so klang es dazumal. Manchmal kommt es mir vor, als hätten die heutigen Mahner des schnellen »Wir-Sind-Wieder-Da« Abschreibekurse in den Zeitungen der Bismarckära absolviert.

    Als möchte man wieder diese Einheit, die aus so vielen Uneinheitlichkeiten erwachen soll, mit einer Rapidität herbeifinanzieren, die nicht wissen will, dass es Wachstumsarten gibt, die sich verselbständigen. Die die geplanten Schwingungskurven des Gedeihens verlassen, um in die unbeeinflussbaren Landschaften des Kippens zu entgleisen. Der Chaos-Theoretiker würde sagen – die von der Zahl »Phi« zur Zahl »Delta« wechseln.

    Friedrich Naumann, der liberale Preuße, dachte bei seinem Projekt »Mittel-Europa« an behutsamere Geschwindigkeiten. Statt einer utopischen Nation schwebte ihm am Anfang des Jahrhunderts das real kooperierende Wirtschaftsvolk der europäischen Mitte vor. Er sah sogar den Grund des ersten Krieges ganz modern darin, dass Deutschland zu rapid gedieh. Ob es so war? Vielleicht.

    Ich glaube an keine Pädagogik der Geschichte, ich will sie demnach nicht betreiben. Sicher ist, dass der Wilhelminismus, als er sich ebenfalls für die schöpferische Negation des Gegebenen entschlossen hatte, ein anderes Mitteleuropa schuf. Ein Mitteleuropa als Omen der Mittellage und die Mittellage als Signum der Niederlage. So sprach 1918 der sogenannte Weltgeist. Ein »vergrößerter Balkan« – bemerkte Naumann dazu – »wohin man nur schaut«.

    Die Epochentänze allerdings fingen nun erst recht an.

    Das Proletariat, der »ethnos« der Arbeit, hat in den Stabreimen der Dialektik seine »Diktatur« über die »Diskussion« gestellt. »Kommunismus« hob »Kapitalismus« auf. Komischerweise in einem Lande, wo man kein Proletariat hatte – aber was ist das schon für die Dialektik, in der das Nichts ein Nicht-Nichts setzt. Dies im Unterschied zu den numerischen Künsten der nivellierenden Sachlichkeit der Anglosachsen oder Amis – für die zwei Nullen keine Eins ergeben. »Während im Westen die indirekten Mächte der Sachlichkeit den Staat zum Betrieb erstarren lassen, konstituiert sich im Osten das Proletariat als neues Subjekt des Politischen. Hegel ist über Marx zu Lenin nach Moskau gewandert.« Gut gesehen, die Wanderung der »thesis«. In dem plombierten Waggon des deutschen Generalstabs fuhr man ostwärts, durchquerte – feindlich befreundet oder freundlich verfeindet – die Fronten, wurde zur »antithesis«, machte aus Petersburg Sankt Leningrad …

    Und von Hitler neidisch negiert, brachte sie in einer unplombierten Staatskarosse als das Höhere Ulbricht zurück, den Dialektiker des sächsischen Dialekts und damit gleich den zweiten Mitteleuropäer für Berlin. Mitteleuropa ist zu Osteuropa geworden, und alle die wegnegierten, wegselektierten und weggesäuberten Leute begriffen langsam seine Dialektik als das, was sie praktisch war: als rabiate Rhetorik der Willenspolitik, als Tötungsdispens der Machthaber. Es kamen also 1945 nüchterne numerische Nivellierer in das Land der Innerlichkeit, die beim Namen Marx nicht allzu viel verinnerlichen konnten – außer vielleicht Marx Brothers oder Marx Spencer. Die Paradoxie hatte die Dialektik besiegt. Nicht der zu vernichtende Gegen-Satz, sondern der zu duldende Wider-Spruch, eine nicht immer nur sich selbst meinende Meinung, das Leben selbst, hat widersprochen. Das Naumann’sche Wirtschaftsvolk hatte sich herausgebildet, westlich der europäischen Mitte.

    Das Wesen sei ortlos, hört man. Seine unerwarteten Niederlassungen sollen uns nicht überraschen. Überall tastet es das Seine ab, wählt blindlings und schreitet fort – nicht nach der Vorschrift des Fortschritts. Es hat keine – so möchte man es sagen – »Gerichtetheit« und kein Gericht, obwohl es in dem Sinne ur-teilt, dass es mehr und mehr Teile verschlüsselt und verwebt. Im Geiste der Paradoxie, nicht also als »ethnos« des Weltgeistes oder der Träger der Vorsehung – als »Wirtschaftsvolk« gewann Deutschland erneut seine Größe. Im Geiste der Paradoxie, als Nation, als Land der Bürger, konnten die Deutschen auch diejenigen aufnehmen, die begeistert riefen: »Wir sind das Volk!« Und in der Tat, man hat sich nicht geirrt. Man war nicht wesentlich mehr: in Dresden, in Prag, in Bukarest … Auch ich habe geklatscht. Mit Recht. Und erst, als so viele dann vom Ende Osteuropas sprachen, vom Neuanfang des Zentrums, ja von einer dritten Revolution, die nach 1918 und 1945, jeweils nach einem heißen Krieg, jetzt nach dem kalten Krieg stattfände, hielt ich inne und wurde stutzig.

    Noch eine dialektische Triade, die nach zwei Niederlagen die ursprüngliche Setzung reifer setzt? »Man sagt gern«, las ich bei einem Amerikaner, »die Länder Mitteleuropas wären bemüht, zu Westeuropa zu werden, ja, sogar zu so etwas wie zu den Vereinigten Staaten, das heißt nicht nur zu einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch zu liberalen Demokratien mit Kapitalismus … Doch es ist vielleicht nur die Frage der Zeit, wann diese Völker, genauso überzeugt, wie sie das Extrem des staatlichen Sozialismus abgelehnt haben, auch den liberalen Kapitalismus ablehnen werden, der ihnen ebenfalls extrem vorkommt,

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