Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Der hellblaue Himmel
Der hellblaue Himmel
Der hellblaue Himmel
Ebook690 pages10 hours

Der hellblaue Himmel

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Lina Neumann wächst mit fünf Geschwistern in einer deutschen Siedlung in Russland auf. Obwohl sie schon als Kind bittere Schicksalsschläge erleidet, ist sie ein tapferes und willensstarkes Mädchen, das gerade in schweren Stunden des Lebens über sich hinauswächst. Als sie siebzehn ist, beginnt der Zweite Weltkrieg, der ihr nicht nur ihre Heimat raubt, sondern auch ihre Geschwister und viele andere Angehörige. Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, eines Tages alle wiederzufinden. Und sie träumt von einer neuen Heimat, von einem richtigen Zuhause, in dem sie glücklich und zufrieden leben kann. Auch Robert Steinbach, der durch den Krieg seine Heimat verloren hat, hegt den Traum von einem glücklichen Zuhause. Doch der Weg dorthin, den Lina und Robert später gemeinsam beschreiten, ist sehr lang und voller Hürden - gespickt mit weiteren Schicksalsschlägen, aber auch mit wundervollen Überraschungen und Momenten des Glücks.
LanguageDeutsch
Release dateSep 5, 2017
ISBN9783744862516
Der hellblaue Himmel
Author

Lilija Plate

Lilija Plate wurde 1959 in der ehemaligen Sowjetrepublik Usbekistan geboren und lebt seit 1972 in Deutschland. Nach ihrer Ausbildung zur Technischen Zeichnerin übte sie bis 2015 diesen Beruf aus, ist seitdem Hausfrau und verwöhnt mit großer Freude ihr Enkelkind. Die Freude am Schreiben entdeckte sie erst im Alter von 51 Jahren. »Der hellblaue Himmel« ist ihr erster Roman, den sie veröffentlicht hat. Weitere sind in Planung.

Related to Der hellblaue Himmel

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Der hellblaue Himmel

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Der hellblaue Himmel - Lilija Plate

    Für meine Eltern, für meine Tante

    und für all diejenigen, deren Schicksal sich in

    diesem Roman widerspiegelt

    Dieser Roman basiert auf einer wahren Lebensgeschichte. Die Namen aller Personen, die darin vorkommen, wurden von der Autorin jedoch geändert beziehungsweise frei erfunden.

    Inhaltsverzeichnis

    Erster Teil

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Zweiter Teil

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Erster Teil

    1

    Der erste Sonntag im April 1931 bescherte den Bewohnern des Ural einen herrlichen Tag. Die Sonne lachte vom blauen Himmel herab und ließ das ganze Land in einem bezaubernden Licht erstrahlen. Die Luft fühlte sich angenehm warm an, die Vögel zwitscherten um die Wette, und an den kahlen Bäumen und Sträuchern zeigte sich das erste zarte Grün. Nun schien der Winter im Ural endgültig vorbei zu sein.

    Lina Neumann bedauerte es ein wenig, denn sie liebte die eisige Kälte und den weichen, kniehohen Schnee. Aber gleichzeitig freute sie sich darauf, bei sonnigem Wetter draußen mit anderen Kindern zu spielen. Heute jedoch, an diesem herrlichen Sonntag im April, hatte sie einen ganz anderen Grund zur Freude. Denn als sie und ihre Geschwister beim Frühstück festgestellt hatten, dass ihre Eltern offenbar nicht zu Hause waren, lächelte Oma Katharina geheimnisvoll und erklärte: »Eure Eltern sind drüben bei der Wendlers-Mutter. Ihr bekommt nämlich noch ein Geschwisterchen, Kinder!«

    Und seitdem war Lina ganz außer sich vor freudiger Erwartung. Wie eine Hummel schwirrte sie durch die Küche, rannte vom Fenster zu ihrer Großmutter und wieder zurück. Ihr blonder Zopf mit der hellblauen Schleife wippte dabei hin und her, ihre Augen schienen zu leuchten. Hin und wieder zupfte sie ihr Kleid zurecht, das ihr offensichtlich ein wenig zu groß war und sich wohl deshalb ständig verdrehte. Aber das störte sie nicht, denn das war sie gewohnt. Seitdem sie sich erinnern konnte, musste sie immer die Kleider auftragen, aus denen ihre ältere Schwester herausgewachsen war.

    Wieder am Fenster angelangt, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, presste ihre Wange gegen die Glasscheibe und sah erwartungsvoll hinaus. Die Augen zusammengekniffen, ließ sie den Blick über die schmale Dorfstraße gleiten, die in der Sonne glänzte und glitzerte, als hätte man sie mit Silber bestäubt. Doch ihre Eltern konnte sie dort nirgendwo entdecken. Stattdessen sah sie ihre Brüder Jakob und Fritz, die ausgelassen mit anderen Kindern herumtollten.

    Ein Lächeln huschte über Linas Gesicht. Sie überlegte, ob sie nicht auch hinausgehen sollte - aber diesen Gedanken verwarf sie sofort. Nein, kein Vergnügen der Welt konnte sie jetzt aus dem Haus locken! Sie musste hier bleiben, um ihre Eltern mit dem neuen Geschwisterchen ja nicht zu verpassen! Denn sie brannte schon darauf, das winzige Kind endlich betrachten und streicheln zu können.

    Einen Moment lang stand sie noch am Fenster, dann lief sie zu ihrer Großmutter, die strickend am Küchentisch saß.

    »Oma, wann kommen sie endlich?«, fragte sie ungeduldig.

    »Nun wart’s doch ab!«, erwiderte Oma Katharina. Mit einem Seufzer unterbrach sie ihre Strickarbeit und warf der Sechsjährigen einen Blick zu. »Warum spielst du bei dem schönen Wetter nicht draußen, Lina?«

    »Heute geht es nicht, Oma, das weißt du doch! Außerdem ist Klara mit Antonia und Paulchen auch noch hier.«

    »Fritz und Jakob sind aber draußen.«

    »Na und? Die interessieren sich auch nicht für kleine Kinder, Oma! Ist ja auch kein Wunder, die beiden sind schließlich Jungens! Aber Klara freut sich genauso wie ich. Hab ich recht, Klara? Du freust dich doch auch, nicht wahr?«

    »Natürlich!«, erwiderte Klara. Sie saß mit Paul und Antonia auf dem makellos sauberen Fußboden und lächelte Lina flüchtig zu. Mit ihren zehn Jahren war sie die älteste von den sechs Neumann-Geschwistern, und so war sie meist auch diejenige, die auf die beiden Kleinen aufpassen musste. Jetzt war sie damit beschäftigt, der dreijährigen Antonia ein rosa Bändchen in das hellblonde Haar zu flechten, während Paul, gerade mal ein Jahr alt, vergnügt mit einem Holzlöffel spielte.

    Lina setzte sich zu ihrer Großmutter an den Tisch und sah sie fragend an. »Wo wird das neue Kind eigentlich schlafen, Oma? Im Kinderbett schläft doch noch Paulchen. Oder kommt Paulchen jetzt etwa zu uns ins Bett? Aber ist er dafür nicht noch ein bisschen zu klein?«

    »Euer Vater hat für das Kind eine Wiege geschreinert«, erklärte Oma Katharina.

    Lina kräuselte verwundert die Stirn. »Aber wo ist diese Wiege jetzt? Ich habe hier nirgendwo eine gesehen.«

    »Sie ist bei Onkel Albert. Euer Vater holt sie dort später ab. Es soll eine Überraschung für eure Mutter sein.«

    »Oh, wirklich? Da wird sich Mama aber freuen! Die Wiege ist doch bestimmt sehr hübsch, oder? Alles, was Papa macht, ist wunderhübsch!«

    »Ja, Kind, da hast du recht. Euer Vater ist in der Tat ein sehr begabter Mann!« Oma Katharina lächelte stolz und blickte zu Antonia, die plötzlich an ihrem Ärmel zerrte. »Was ist denn los, Kleines?«

    »Ist Mama bald wieder da?«, fragte Antonia mit weinerlicher Stimme.

    Oma Katharina legte das Strickzeug beiseite und hob das zierliche, fast zerbrechlich wirkende Mädchen auf ihren Schoß. »Du musst nicht traurig sein, Kleines. Mama ist bestimmt bald wieder da.«

    Während Antonia sich an die Großmutter schmiegte, lächelte Lina ihr aufmunternd zu. »Es ist herrlich, bei Oma auf dem Schoß zu sitzen, nicht wahr? Das weiß ich noch von früher, als ich so klein war wie du, Antonia. Ich saß damals gerne bei Oma auf dem Schoß. Ich finde, sie fühlt sich so schön kuschelig und weich an.«

    Antonia kicherte, und Oma Katharina schüttelte den Kopf. »Na, das ist ja ein reizendes Kompliment!«

    Sie war eine kleine, rundliche Frau um die sechzig. Ihr Haar war bereits von silbernen Fäden durchzogen, in ihrem runden, rosigen Gesicht fand sich jedoch keine einzige Falte. Ihre Augen wirkten wach und lebendig und wiesen zudem eine Besonderheit auf: Sie waren eigentlich grün, doch wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass in einem davon ein kleiner brauner Fleck schimmerte.

    Lina fand diese Augen einfach nur faszinierend. Bei niemandem sonst hatte sie so etwas jemals gesehen. Ihr Vater sowie die meisten seiner Verwandten hatten zwar ebenfalls grüne Augen, aber keiner von ihnen hatte darin einen solchen Fleck. Und Lina selbst hatte die Augen ihrer Mutter. Sie waren braun und von langen, tiefschwarzen Wimpern umkränzt.

    Ihr Blick war jetzt auf Paulchen gerichtet, und ihre Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem er geboren wurde. An jenem Tag - es war am 1. April im letzten Jahr gewesen - hatte sie mit ihrer Großmutter und ihren Geschwistern Onkel Albert besucht. Als sie später wieder nach Hause kamen, wartete dort eine wunderbare Überraschung auf sie: ihr neues Brüderchen Paul. Stramm in ein Laken gewickelt, nur sein kleines, rötliches Gesichtchen guckte hervor, lag er bei der Mutter im Bett, während der Vater lächelnd davor saß. Außerdem war damals die Wendlers-Mutter im Haus gewesen, aber das schien ja nichts Ungewöhnliches zu sein. Lina begriff zwar bis heute nicht, was diese uralte Frau mit neugeborenen Kindern zu schaffen hatte, doch Klara hatte neulich gemeint, sie sei wohl jedes Mal dabei, wenn im Dorf gerade ein Kind geboren wurde. Lina beschlich deshalb schon der Verdacht, dass es die Wendlers-Mutter war, von der die Frauen kleine Kinder geschenkt bekamen.

    Sie hatte sich damals sehr über Paulchen gefreut. Als sie ihn zum ersten Mal auf dem Schoß halten durfte, erwachte in ihr das Verlangen, dieses winzige, nach süßer Milch duftende Wesen vor jeglichem Kummer und allem anderen Leid dieser Welt zu bewahren. Und dieses seltsame Verlangen verspürte sie seitdem ziemlich oft.

    Während sie noch verträumt den kleinen Paul betrachtete, drang aus dem Vorhaus ein Geräusch an ihre Ohren.

    »Sie sind da!«, rief sie freudestrahlend und lief in Richtung Tür. Doch sie erstarrte mitten im Lauf, als sie ihren Vater sah. Er stand reglos vor der Tür, hielt ein weißes, längliches Bündel in den Armen, und er sah aus wie ein alter, gebrochener Mann. Seine Augen waren sonderbar stumpf, sein Gesicht war kreidebleich und wirkte verkrampft. Zudem kam es Lina so vor, als würde er weinen. Sie vernahm zwar keine Laute, die beim Weinen normalerweise zu hören sind, aber sie konnte ganz deutlich sehen, wie seine Nasenflügel zuckten und bebten.

    Oma Katharina stand inzwischen vor ihrem Sohn. »Friedrich!«, stieß sie entsetzt hervor. »Um Himmels Willen, was ist denn passiert?«

    »Das Kind… Das Kind ist tot«, stammelte er.

    Sie nahm ihm vorsichtig das leblose Menschenbündel aus den Armen und drückte es an ihre Brust. »Wie geht es Rosa?«, fragte sie leise.

    »Sie ist sehr schwach«, erwiderte Friedrich, sichtlich um Fassung ringend. »Die Wendlers-Mutter meint, es sei besser, wenn Rosa bis morgen früh bei ihr bleibt - nur vorsichtshalber, falls noch etwas Schlimmes...« Seine Stimme brach schlagartig ab, als er Lina in der Nähe entdeckte. Er fuhr sich hastig mit der Hand über die Augen, straffte die Schultern und blickte wieder zu Oma Katharina. »Ich mach mich jetzt an die Arbeit, Mutter«, murmelte er. Mit schweren Schritten durchquerte er die Küche und verschwand in dem langen, flurähnlichen Abstellraum, der direkt in den Stall führte.

    Lina starrte ihm fassungslos nach. In ihrem Kopf hämmerte laut und unaufhörlich der grauenvolle Satz: Das Kind ist tot... Das Kind ist tot... Das Kind ist tot...

    Plötzlich schluchzte sie auf, lief in die Stube und warf sich auf das große Bett mit der weißen, aus feinem Garn gehäkelten Tagesdecke. Ihre Mutter mochte es nicht, wenn die Kinder sich tagsüber auf diesem Bett aufhielten. Ein Bett sei zum Schlafen da und ansonsten hätte man nichts darin zu suchen, erklärte sie oft. Normalerweise hielt sich Lina an diese Regel, doch jetzt war es ihr völlig egal. Wo sonst hätte sie sich hinwerfen sollen, um zu weinen, um zu grübeln, um den Schmerz in ihrem Innern herauszulassen?

    Ein paar Minuten später kam Klara in die Stube. Sie setzte sich zu Lina auf die Bettkante und strich ihr tröstend über das hellblonde Haar. »Weine nicht, Lina«, sagte sie mit ihrer sanften, ruhigen Stimme. »Oma hat mir mal erzählt, dass man in den Himmel kommt, wenn man tot ist. Und dort passen ganz viele kleine Engel auf einen auf.«

    Lina hob ruckartig den Kopf. »Wirklich, Klara? Meinst du solche Engel wie diese da?«

    Ihr Blick richtete sich auf das Bild über dem Bett ihrer Großmutter. Es war in einen goldfarbenen Rahmen eingesetzt und zeigte eine schöne, bunt blühende Wiese mit einem sanft dahinfließenden Bach mittendrin. Aber das Schönste an diesem Bild waren zweifellos die drei Engel in Kindergestalt, die über dem Bach zu schweben schienen. Alle drei hatten goldblonde Locken, strahlend blaue Augen und breite Flügel aus schneeweißen Federn.

    »Gibt es solche Engel wirklich?«, fragte Lina, nachdem sie das Bild eine Weile betrachtet hatte.

    »Ganz bestimmt«, erwiderte Klara und nickte überzeugt. »Wenn Oma das sagt, dann gibt es die wirklich!«

    »Und solche Engel passen jetzt auf das tote Kind auf?«

    »Ja. Wir brauchen uns also keine Sorgen zu machen.«

    Lina schlang die Arme um den Hals ihrer Schwester. »Oh, Klara«, flüsterte sie. »Ich bin so froh, dass du jetzt da bist.«

    In diesem Moment kam Oma Katharina herein. Sie trug den kleinen Paul auf dem Arm und zog behutsam Antonia hinter sich her. Im Schlepptau hatte sie außerdem den achtjährigen Fritz und den fünfjährigen Jakob.

    »Warum sollen wir jetzt reingehen, Oma?«, beschwerte sich Fritz. »Heute ist Sonntag, ich muss nicht in die Schule und hab endlich mal Zeit, draußen mit den Jungens zu spielen. Sollen wir bei dem schönen Wetter in der Stube hocken? Bitte, Oma, lass uns wenigstens noch ein bisschen draußen bleiben.«

    Doch Oma Katharina achtete nicht auf das Gejammer des Jungen. »Ihr bleibt jetzt alle hier und wartet, bis ich wieder zurück bin!«, sagte sie in einem strengen Ton. Dann drückte sie Klara den kleinen Paul auf den Schoß und ging eilig hinaus.

    Im Schuppen hinter dem Stall schreinerte Friedrich währenddessen einen kleinen Sarg. Bei dem Gedanken, dass er hier erst vor wenigen Tagen eine Wiege geschreinert hatte, wurde ihm noch schwerer ums Herz. Doch er bemühte sich trotzdem, die Sorgfalt und Geschicklichkeit walten zu lassen, mit der er seine Arbeit immer erledigte. Schließlich sollte auch dieser Sarg ein richtiges »Meisterwerk« werden.

    Er war ein hochgewachsener Mann mit kräftigen Schultern, grünen Augen und dichten, blonden Haaren. Über seinen Lippen wölbte sich ein Schnurrbart mit hochgezwirbelten Spitzen, der seinem Gesicht ein markantes Aussehen verlieh. Um sich richtig wohl zu fühlen, brauchte er harte körperliche Arbeit, denn auf der faulen Haut herumzuliegen, war absolut nicht sein Ding. Wenn er abends in der Küche saß, müde von der Arbeit auf dem Feld und genussvoll eine selbstgedrehte Zigarette rauchend, wenn er dabei seine schmerzenden Knochen und Muskeln spürte, dann war er mit sich selbst völlig im Einklang. Denn dann war er sich dessen bewusst, dass er den Tag nicht sinnlos hatte verstreichen lassen, und dieses Bewusstsein gab ihm ein Gefühl grenzenloser Zufriedenheit.

    Sein wahres Glück war aber seine Familie. Er liebte seine Frau und seine Kinder über alles und war stets darum bemüht, dass sie möglichst nichts entbehrten. Sonderlich viel konnte er ihnen allerdings nicht bieten - die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie lebten, ließen es ganz einfach nicht zu. Was die Erziehung seiner Kinder betraf, so war er manchmal sicherlich sehr streng - und dennoch wurde er von ihnen geradezu vergöttert. Denn im Grunde seines Herzens war er ein sehr gutmütiger und gerechter Mann, und das schienen seine Kinder instinktiv zu spüren.

    Mit dem Schreinern fertig geworden, klemmte er sich den Sarg unter den Arm und ging zurück ins Haus. Dort sah er seine Mutter regungslos am Küchentisch sitzen. Ihre Augen waren geschlossen, die Stirn auf die gefalteten Hände gestützt. Sie schien gerade zu beten. Auf dem Stuhl neben ihr lag das leblose Menschenbündel.

    »Mutter, ich bin jetzt soweit«, sagte Friedrich.

    Oma Katharina schreckte hoch und begann wie in Trance, ein frisches Leintuch in dem Sarg auszubreiten. Anschließend legte sie das tote Kind hinein, betrachtete es eine Weile und blickte dann fragend zu ihrem Sohn. »Was genau ist passiert, mein Junge? Kam der Kleine schon tot zur Welt?«

    Friedrich schüttelte den Kopf. »Es war eine sehr schwere Geburt«, erklärte er. »Ich kann von Glück sagen, dass Rosa überhaupt noch am Leben ist. Aber das Kind hat kaum geatmet. Es wurde geboren, um gerade mal fünf Minuten leben zu dürfen... Ist das nicht furchtbar, Mutter?«

    Sie nickte betroffen. »So etwas kommt leider sehr häufig vor, aber wir können es nicht ändern, mein Junge. Es liegt ganz allein in Gottes Hand.« Sie seufzte und betrachtete wieder das tote Kind. »Wo sollen wir den Kleinen aufbahren, Friedrich? Hier in der Küche vielleicht?«

    »Ich werde ihn sofort beerdigen«, erklärte Friedrich beklommen. Als er das bestürzte Gesicht seiner Mutter sah, trat er eilig auf sie zu und versuchte, seiner Stimme trotz würgender Tränen etwas Festigkeit zu verleihen. »Ich weiß sehr wohl, dass dir das nicht recht ist, Mutter! Mir widerstrebt diese Eile genauso, aber ich will nicht, dass die Kinder das alles mitbekommen: unsere Trauer, den ganzen Schmerz. Es würde sie nur unnötig belasten.«

    Oma Katharina legte ihm beschwörend die Hand auf den Arm. »Aber was ist denn mit Rosa? Sie will doch sicherlich Abschied nehmen von ihrem Jungen.«

    »Das hat sie bereits getan«, erwiderte Friedrich, »und das war schon schlimm genug für sie. Wozu soll sie sich noch länger quälen? Unseren Jungen bringt uns das auch nicht wieder zurück. Es ist besser für uns alle, wenn ich ihn sofort beerdige. Bitte, Mutter, glaube es mir!«

    Sie nickte kaum merklich. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie leise und beugte sich über den Sarg. »Ruhe sanft in Frieden, mein Kleines«, flüsterte sie, während ihre zitternde Hand ein Kreuz auf die Stirn des toten Kindes zeichnete.

    Nachdem sie mit betrübter Miene in der Stube verschwunden war, verschloss Friedrich den Sarg, trug ihn hinaus und stellte ihn auf eine Handkarre. Ein paar Sekunden lang starrte er stumm darauf, schien noch zu zögern. »Es ist wirklich besser so«, murmelte er schließlich. Den Blick auf das Haus der Wendlers-Mutter gerichtet, in Gedanken bei seiner Frau, fuhr er sich verstohlen über die tränennassen Augen und machte sich auf den Weg zum Friedhof.

    Dass ihre Mutter am nächsten Morgen wieder nach Hause kam, freute Lina sehr. Im Laufe des Tages gewann sie allerdings den Eindruck, dass die erwachsenen Neumanns das Geschehene vom Vortag bereits wieder vergessen hatten, denn weder ihre Eltern noch Oma Katharina verloren darüber auch nur ein einziges Wort. Ihre Mutter wirkte zwar sehr müde und völlig kraftlos, doch sie bemühte sich trotzdem, die Arbeit im Haus wie gewohnt zu erledigen. Ja, das Leben der Neumanns, so schien es, nahm wieder seinen gewohnten Lauf.

    Dies war sicherlich auch der Grund, weshalb Lina es nicht wagte, ihre Eltern oder die Großmutter auf das tote Kind anzusprechen. Dabei hätte sie so gerne gewusst, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen war, welchen Namen es wohl bekommen hätte und warum es überhaupt gestorben war. Aber wenigstens konnte sie mit Klara darüber reden. Wie so oft vertraute sie auch jetzt ihrer Schwester an, was ihr Herz so sehr bedrückte und worüber sie sich den Kopf zerbrach. Und wie so oft war sie froh, dass es Klara gab. Denn wann immer sie Kummer hatte oder einfach nur traurig war, wurde sie von der ruhigen, sanftmütigen Klara getröstet.

    Doch nach einigen Wochen hatte sie jenen Sonntag im April fast schon wieder vergessen. Es gab jetzt andere Dinge, die sie beschäftigten. Da es inzwischen Sommer war, spielte sie meistens draußen mit anderen Kindern. Manchmal saß sie auch mit ihrer Großmutter zusammen, die ihr das Häkeln und Stricken beibrachte. Am 23. Juni wurde sie außerdem sieben Jahre alt, und darauf war sie mächtig stolz, weil sie schon bald zur Schule gehen würde. Und nur wenige Tage nach ihrem Geburtstag sagte Oma Katharina zu ihr:

    »Ich habe vor, heute Nachmittag Darja zu besuchen. Willst du mich begleiten, Kind?«

    Lina war so überrascht, dass es ihr die Sprache verschlug. Sie kannte diese Darja doch gar nicht! Oma Katharina hatte sie vor kurzem in der Stadt auf dem Markt kennengelernt und danach ein paarmal besucht. Und diesmal sollte Lina sie begleiten?

    Endlich nickte sie, und ihr Gesicht strahlte vor Freude.

    Natürlich wollte sie ihre Großmutter begleiten! Sie war gern mit ihr zusammen - allein schon deshalb, weil sie so spannende Geschichten und Märchen erzählen konnte. Weil sie auch sonst jede Menge zu wissen schien, war Lina felsenfest davon überzeugt, dass ihre Oma eine sehr kluge Frau war.

    Kurz nach dem Mittagessen machten sie sich auf den Weg zu Darja. Es war ein sonniger Tag, und nur wenige weiße Wolken zogen langsam durch den hellblauen Himmel. Die goldgelben Halme auf den riesigen Weizenfeldern wiegten sich sanft im lauwarmen Wind und knisterten leise.

    Ja, Weizenfelder soweit das Auge reichte! Nichts anderes sah Lina seit geraumer Zeit. Etwas irritiert ging sie an der Hand ihrer Großmutter einen Feldweg entlang, den sie bisher noch gar nicht kannte. Aber das war auch kein Wunder. Aus ihrem Heimatdorf Alexandrowka war sie bisher nur dann herausgekommen, wenn sie ihre Verwandten in den Nachbardörfern besuchte. Woanders war sie bisher noch nie gewesen.

    »Oma, wann sind wir endlich da?«, fragte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Denn sie merkte nun doch, dass sie allmählich müde wurde.

    »Es ist nicht mehr weit«, erwiderte Oma Katharina. Die Augen gegen das grelle Sonnenlicht halb geschlossen, fügte sie nach ein paar Schritten hinzu: »Darja ist übrigens eine Russin. Sie wohnt in einem russischen Dorf, in dem die Leute alle nur Russisch sprechen.«

    Lina kräuselte verdutzt die Stirn. »Wie meinst du das, Oma? Sprechen diese Leute etwa anders als wir?«

    »Ja, Kind. Die russische Sprache hört sich ganz anders an als unsere deutsche.«

    »Aber warum sprechen diese Leute eine andere Sprache?«

    »Du weißt doch, dass das Land, in dem wir leben, Russland ist, nicht wahr?«

    »Natürlich weiß ich das!«, erwiderte Lina stolz. Da sie in der Ferne die ersten Häuser eines Dorfes auftauchen sah, seufzte sie erleichtert auf und fügte dann hinzu: »Dass es aber Leute gibt, die anders sprechen als wir, das wusste ich nicht, Oma. Das hast du mir noch nie erzählt.«

    »Eigentlich sind wir es, die anders sprechen«, erklärte Oma Katharina. »In Russland wird üblicherweise Russisch gesprochen. Es gibt hier zwar noch viele andere Völker, die ihre eigene Sprache sprechen, aber die Hauptsprache des Landes ist eben Russisch. Wir sprechen Deutsch, weil wir Deutsche sind, weil unsere Vorfahren aus Deutschland stammen... Aber wir sind gleich da, Kind. Da drüben wohnt Darja.« Sie deutete auf ein kleines, ziemlich verkommen wirkendes Haus und ergänzte: »Wenn du willst, erzähle ich dir ein anderes Mal die ganze Geschichte unserer Vorfahren.«

    Während sie auf das Häuschen zuschlenderten, ging knarrend die Holztür auf und eine alte, füllige Frau mit schneeweißen Haaren winkte ihnen freudig entgegen. Es kann nur diese Darja sein, dachte Lina und stellte mit Verwunderung fest, wie anders diese Frau doch gekleidet war. Die alten Frauen, die sie sonst kannte - auch ihre Großmutter zählte dazu -, trugen meist dunkle, hochgeschlossene Kleider. Darja hatte jedoch eine weiße Bluse an, die im Brustbereich bunt bestickt und am Ausschnitt sowie an den langen Puffärmeln mit Rüschen verziert war. Dazu trug sie einen weiten bunten Rock, unter dessen Saum ein anderer bunter Rock hervorguckte.

    »Dobrij Denj, Katjuscha!«, rief sie freudestrahlend. Nachdem sie Oma Katharina überschwänglich umarmt hatte, blickte sie zu Lina und fragte mit säuselnder Stimme: »Eto Linuschka, wascha Wnutschka?«

    »Da, eto Linuschka«, bestätigte Oma Katharina.

    »Krassiwaja Dewotschka«, meinte Darja. Sie tätschelte Linas rosige Wange und lächelte entzückt.

    Lina zog verdutzt die Augenbrauen zusammen, denn sie verstand kein einziges Wort. Das wird wohl dieses Russisch sein, überlegte sie. Hört sich irgendwie seltsam an...

    Darja führte ihre beiden Gäste ins Haus und ließ sie am Küchentisch Platz nehmen. Sie selbst band sich eine Schürze um, stand dann am Herd und hantierte mit einer Gusspfanne und einem dünnflüssigen Teig herum. Dabei erzählte sie pausenlos irgendetwas auf Russisch.

    Während Lina sie unter halb gesenkten Lidern beobachtete, fiel ihr auf, dass der Herd einen schmutzigen Eindruck machte. Überhaupt fand sie so ziemlich alles hier - nun ja, irgendwie schmutzig halt. Auf dem Tisch lagen Brotkrümel herum, über die sich schon mehrere Fliegen hergemacht hatten. Der Stuhl, auf dem sie saß, fühlte sich sonderbar klebrig an. Und Darjas Schürze, die früher mit Sicherheit weiß gewesen war, hatte jetzt einen undefinierbaren Grauton und war zudem voll grässlicher Flecken. Lina kannte so etwas nicht, denn bei ihnen zu Hause war immer alles sauber, ordentlich und gepflegt. Und so war es kein Wunder, dass sie sich hier, in dieser unsauberen Küche, alles andere als wohl oder behaglich fühlen konnte.

    Mit einem großen Teller, auf dem sich ein Berg von Pfannkuchen stapelte, kam Darja nach einer Weile zum Tisch.

    »Blini«, sagte sie. »Linuschka bitte essen.«

    Sie stellte den Teller auf den Tisch, bedachte Lina mit einem süßlichen Lächeln und setzte sich zu Oma Katharina, die kurz darauf mit Genuss einen Pfannkuchen verzehrte. Danach begannen die beiden Frauen ein lockeres Gespräch in russischer Sprache. Als Oma Katharina merkte, dass Lina mit argwöhnischen Blicken den Pfannkuchenberg betrachtete, schmunzelte sie und flüsterte ihr zu: »Du solltest wenigstens einen probieren, Kind. Die schmecken wirklich gut.«

    Sie glaubte zu wissen, was ihre Enkelin gerade dachte und empfand. Ihr selbst ging es ja manchmal genauso. Im Laufe ihres Lebens hatte sie schon viele Russen kennengelernt, und es war ihr nicht entgangen, dass einige von ihnen keinen Wert auf penible Sauberkeit legten. Dafür besaßen diese Leute ganz andere Eigenschaften. Sie waren fröhlich und hilfsbereit, und ihre Herzlichkeit war nahezu unübertroffen.

    Endlich nahm auch Lina einen Pfannkuchen. Langsam, mit sichtbarem Widerwillen, aß sie ihn schließlich auf. Im Nachhinein musste sie zwar zugeben, dass er ausgesprochen gut geschmeckt hatte, doch jetzt, in diesem Moment, empfand sie nur das seltsame Gefühl des Unbehagens.

    Als sie sich später auf dem Heimweg befanden, ging sie sehr still, wie in Gedanken versunken, neben ihrer Großmutter her. Erst kurz vor dem Haus fand sie die Sprache wieder.

    »Wie kommt es eigentlich, dass du Russisch kannst?«, fragte sie, den Blick bewundernd auf ihre Großmutter gerichtet.

    »Nun, ich hatte schon als Kind in der Schule etwas Russisch gelernt«, erklärte Oma Katharina. »Und später hatte ich oft mit Russen zu tun gehabt. Da ergibt es sich ganz automatisch, dass man deren Sprache mit der Zeit auch selber spricht. Ich halte es außerdem für wichtig, dass man die Sprache des Landes, in dem man lebt, wenigstens ein bisschen beherrscht. Auch du, Lina, wirst eines Tages Russisch sprechen.«

    »Meinst du wirklich? Ich kann mir das gar nicht vorstellen, Oma.« Lina blinzelte irritiert in die Sonne und wechselte dann das Thema. »Wann erzählst du mir die Geschichte, Oma? Ich meine die Geschichte, von der du unterwegs gesprochen hast. Wenn ich heute Nacht bei dir schlafen darf, dann könntest du sie mir heute erzählen.«

    Oma Katharina schüttelte lachend den Kopf. »Was bist du doch für ein ungeduldiges Mädchen, Lina! Aber du darfst natürlich heute Nacht bei mir schlafen. Und du bekommst auch die Geschichte erzählt.«

    Der kleine Paul schlief bereits in seinem Kinderbettchen, das im Schlafzimmer der Eltern stand. Die anderen Kinder waren noch dabei, sich fürs Bett fertig zu machen. Friedrich und Rosa saßen wie jeden Abend in der Küche, wo eine Petroleumlampe einen hellen Schein verbreitete. Rosa ließ leise die alte Nähmaschine rattern, die noch aus besseren Zeiten von ihrer inzwischen verstorbenen Mutter stammte. Aus einem verschlissenen Hemd ihres Mannes nähte sie ein kleineres Hemd für Jakob. Friedrich hatte sich behaglich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und rauchte eine Zigarette.

    In der Stube war es ziemlich dunkel, nur der Mond spendete durch das Fenster ein wenig Licht. Lina schlüpfte rasch in ihr langes Nachthemd und machte es sich im Bett ihrer Großmutter bequem. Es stand gegenüber dem großen Bett, in dem alle Neumann-Kinder außer Paulchen schliefen. Klara, Antonia, Jakob und Fritz - in dieser Reihenfolge lagen sie quer im Bett, alle dicht nebeneinander. Den Platz in der Mitte, wo Lina sonst schlief, hatte jetzt Jakob mit in Beschlag genommen. Die Füße von Klara und Fritz guckten halb unter der Decke hervor, und Lina musste bei diesem Anblick kichern. Die beiden sind schon viel zu groß für dieses Bett, dachte sie und vergrub ihr Gesicht noch tiefer in das weiche Kopfkissen ihrer Großmutter. Als diese wenig später neben ihr lag, kuschelte sie sich fest bei ihr ein und lauschte ihrer wohlklingenden Stimme.

    »Es ist schon sehr lange her«, begann Oma Katharina. »Zu jener Zeit lebte in Deutschland eine wunderschöne Prinzessin. Sie hieß Sophia, und sie war ein sehr kluges, ehrgeiziges Mädchen. Mit sechzehn Jahren heiratete sie einen russischen Zarewitsch, und von da an...«

    »Aber Oma!«, fiel Lina ihr verdutzt ins Wort. »Willst du mir etwa ein Märchen erzählen? Ich dachte eigentlich…«

    Oma Katharina lachte leise auf. »Das ist kein Märchen, Kind, auch wenn es sich vielleicht so anhören mag. Das ist eine wahre Geschichte. Ich will dir alles von Anfang an erzählen, damit du es besser verstehst.«

    »Ach so«, murmelte Lina, und Oma Katharina fuhr fort:

    »Nachdem die deutsche Prinzessin den Zarewitsch geheiratet hatte, lebte sie mit ihm und seiner Familie am Zarenhof im Russischen Reich. Doch der Zarewitsch war ein seltsamer junger Mann. Statt seinen Pflichten bei Hof nachzugehen, spielte er lieber mit seinen Zinnsoldaten. Und genauso kindisch benahm er sich später als Zar. Dass er damit den ganzen Zorn seines Volkes auf sich zog und letzten Endes umgebracht wurde, konnte also niemanden verwundern.«

    »Wurde er richtig umgebracht?«, fragte Lina entrüstet. »Ist das nicht schrecklich, Oma?«

    »Natürlich ist das schrecklich, Lina, aber so war das eben. Kurz nach seinem Tod wurde jedenfalls die deutsche Prinzessin zur Zarin von Russland ernannt... Ach, ich habe vergessen, etwas Wichtiges zu erwähnen: Seit ihrer Heirat hieß sie nicht mehr Sophia, sondern Katharina.«

    »Genauso wie du, Oma?«, fragte Lina erstaunt.

    »Ja, genauso wie ich - aber ich war damals noch gar nicht geboren... Nun, als Zarin herrschte sie über das Russische Reich, und weil sie so klug und so mächtig war, wurde sie von allen ›Katharina die Großegenannt. Weißt du, Lina, Russland ist ein riesiges Land. Manche behaupten sogar, dieses Land sei unendlich. Ein großer Teil davon lag damals aber noch brach. Es gab einfach nicht genug Menschen, die so viel Land hätten bewirtschaften können. Also kam die Zarin auf die Idee, ihre Landsleute aus Deutschland herkommen zu lassen. Sie versprach ihnen eigenes Land, eigene Häuser, Kirchen und noch vieles andere mehr. Zu der Zeit - es war im Jahre 1763 gewesen - waren die meisten Bauern in Deutschland verarmt, weil sie durch einen siebenjährigen Krieg ihren ganzen Besitz verloren hatten. Was die Zarin versprach, klang für sie sehr verlockend, und so wanderten viele von ihnen nach Russland aus. Aber dort erlebten sie zunächst eine böse Überraschung: Sie bekamen zwar ein Stück Land, doch dieses Land war völlig unbewohnt. Es gab dort keine Häuser, keine befestigten Wege - nichts, absolut gar nichts! Also mussten sie aus eigener Kraft alles neu aufbauen. Als der Winter kam, gab es immer noch nicht genug Häuser für alle, und weil sie nur wenig zu essen und kaum warme Kleidung hatten, sind viele von ihnen gestorben. Trotzdem wanderten immer mehr Deutsche nach Russland aus, und so entstanden hier überall deutsche Siedlungen - früher sagte man ›Koloniendazu. Auch meine Großeltern, Lina, die ja auch deine Vorfahren sind, kamen irgendwann aus Deutschland hierher. Wann genau das war, kann ich leider nicht sagen, aber sie müssen noch sehr jung gewesen sein. Sie hatten sich damals in der Ukraine angesiedelt.«

    »Wo ist denn das?«, fragte Lina mit schläfriger Stimme.

    »Viel zu weit von hier entfernt«, sagte Oma Katharina, und ihr Gesicht nahm einen wehmütigen Ausdruck an. »Ich bin in der Ukraine geboren und habe dort viele Jahre meines Lebens verbracht. Es war meine Heimat, ich lebte wirklich sehr gerne dort. Doch eines Tages mussten wir die Ukraine leider verlassen...« Sie seufzte, dann lächelte sie plötzlich und fuhr fort: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich dir alles der Reihe nach erzähle, Kind... Die Deutschen lebten also in ihren Siedlungen, bearbeiteten fleißig ihr Land, und viele von ihnen wurden im Laufe der Zeit richtig reich. Doch dann kam es in Russland zu einem Volksaufstand. Weil das russische Volk in großer Armut lebte und deshalb sehr unzufrieden war, begann es, gegen die Reichen im Land zu kämpfen. Da auch die Deutschen bereits zu den Reichen zählten, wurden ihre Siedlungen angegriffen und manche komplett zerstört...«

    Sie hielt plötzlich inne, weil ihr aufgefallen war, dass Lina verdächtig ruhig neben ihr lag. »Lina, bist du überhaupt noch wach?«, fragte sie leise in die Dunkelheit hinein.

    Doch Lina rührte sich nicht. Sie war bereits eingeschlafen.

    Oma Katharina lag aber lange wach an diesem Abend.

    Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Erinnerungen an jenen Herbst 1905, als ihr Dorf in der Ukraine auf eine grauenvolle Weise zerstört worden war. Erinnerungen an die schreckliche Zeit danach, als sie mit ihrem Mann und ihren acht Kindern auf der Flucht war - zusammen mit vielen anderen Deutschen aus der Umgebung. Nur ein paar Pferdewagen führten sie mit sich. Darauf waren die wenigen Habseligkeiten verstaut, die sie in aller Hast hatten zusammenraffen können, und dazwischen saßen kleine Kinder und alte Leute. Alle anderen gingen zu Fuß. Sie gingen Richtung Nordost - in der Hoffnung, irgendwo ein kleines Fleckchen Erde zu finden, auf dem sie in Sicherheit leben konnten. Monate waren sie unterwegs gewesen, hatten sich nur von trockenem Brot ernährt und selbst bei eisiger Kälte unter freiem Himmel übernachtet. Viele von ihnen mussten auf diesem steinigen Weg ihr Leben lassen.

    Völlig erschöpft und halb verhungert kamen sie schließlich im Ural an. Und hier, in der Nähe der Stadt Ufa, bekamen sie die Möglichkeit, auf einem brachliegenden Stück Land ihre eigene Siedlung aufzubauen. Leicht war das nicht, gar keine Frage, aber dank ihrer eisernen Willenskraft hatten sie es letztendlich geschafft. Mit viel Fleiß und Ausdauer bewirtschafteten sie in den folgenden Jahren ihr Land, so dass sie ganz gute Erträge erzielen konnten. Ja, in all den Jahren ging es ihnen wirklich sehr gut. Vor etwa vier Jahren wurden sie jedoch enteignet und mussten sich, wie fast alle Bauern in Russland, einer Kolchose anschließen - und seitdem konnte man buchstäblich zusehen, wie sie mehr und mehr verarmten. Jede Familie besaß zwar noch ein eigenes Haus, ein kleines Grundstück und etwas Vieh zur Eigenversorgung, doch alles andere war im Besitz der Kolchose. Die Feldarbeiter bekamen als Lohn nur eine bestimmte Menge an Getreide und etwas Geld - gerade mal so viel, um sich und ihre Familien halbwegs ernähren zu können. Große Sprünge konnte jedenfalls keiner von ihnen machen.

    Oma Katharina war aber dennoch zufrieden. Sie hatte ihre Kinder und Enkelkinder in ihrer Nähe, und das war für sie der größte Reichtum der Welt. Seit dem Tod ihres Mannes vor etwa sieben Jahren wohnte sie bei Friedrich, ihrem zweitjüngsten Sohn, in dem kleinen Dorf Alexandrowka. Hier wohnte auch ihr jüngster Sohn Albert mit seiner Familie, während ihre anderen Söhne und Töchter in dem Nachbardorf Alexejewka wohnten.

    Ja, sie war eine zufriedene Frau. Das Einzige, was ihr sehr zu schaffen machte, waren die eiskalten Winter hier im Ural. Obwohl dieses Land seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren ihre Heimat war, hatte sie sich noch nicht an diese Kälte gewöhnt. Und so träumte sie immer noch davon, eines Tages wieder in der Ukraine zu leben.

    2

    Rosa Neumann saß mit Paulchen und Antonia auf der weißen Holzbank draußen vor dem Haus. Gleich musste sie zwar zurück in die Küche, wo unter anderem ein Korb voll Bügelwäsche auf sie wartete, aber vorher gönnte sie sich ausnahmsweise mal eine kurze Verschnaufpause. An diesem Spätsommertag Ende August fühlte sie sich erstaunlich gut. Sie hatte lange gebraucht, um den Schmerz über den Tod ihres Neugeborenen halbwegs überwinden zu können. Auch jetzt noch überfiel sie manchmal tiefe Trauer, doch sie riss sich jedes Mal zusammen und versuchte, ihre Arbeit im Haus und im Garten wie gewohnt zu erledigen. Ihre Kinder sollten schließlich nicht merken, wie sehr sie in Wirklichkeit litt. Denn genau wie ihr Mann achtete sie stets darauf, alles Unangenehme, das die Kinder nur unnötig belasten würde, von ihnen möglichst fern zu halten.

    Sie war eine bildhübsche Frau mit sanften braunen Augen und einer glatten, samtig schimmernden Haut. Ihr dunkelbraunes Haar trug sie wie die meisten Frauen der deutschen Siedlung: sorgfältig geflochten und am Hinterkopf mit zig Haarnadeln zu einer Art Schnecke festgesteckt. Dunkelbraunes Haar hatten übrigens auch Klara, Jakob und Fritz, während Lina, Antonia und Paul das blonde Haar ihres Vaters hatten. Eines hatten aber alle Neumann-Kinder gemeinsam: alle sechs hatten die sanften braunen Augen ihrer Mutter.

    Rosa war zweiunddreißig Jahre alt, einen Kopf kleiner als ihr Mann und so schlank wie ein junges Mädchen. Früher war sie etwas kräftiger gewesen, doch seit einiger Zeit ließ ihr Gesundheitszustand sehr zu wünschen übrig - und seitdem war sie immer schlanker geworden. An manchen Tagen fühlte sie sich kraftlos und völlig niedergeschlagen, aber heute… Ja, heute fühlte sie sich stark und voller Lebensfreude!

    Paulchen saß brabbelnd auf ihrem Schoß und fuchtelte mit einem Holzlöffel herum. Dieser Holzlöffel war sein absolutes Lieblingsspielzeug, alles andere lehnte er kategorisch ab. Aber na ja, wenn er mit diesem einfachen Ding zufrieden war, umso besser. Teure Spielsachen, die es in der Stadt zu kaufen gab, konnten sie sich ohnehin nicht leisten.

    Antonia saß dicht neben ihr auf der Bank und spielte mit einer Puppe, die aus bunter Wolle gehäkelt und mit Watte ausgestopft war. Dabei summte sie vor sich hin, schien also ebenfalls zufrieden zu sein.

    Von der Straße drang lautes Getöse und fröhliches Kinderlachen herüber. Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, und die größeren Kinder, die sonst zur Schule gingen, nutzten ihre letzten freien Tage, um mit den kleineren an der frischen Luft herumzutollen. Auf einmal kam Lina in den Hof gestürzt. Ihre Wangen schienen zu glühen, aus ihrem Zopf hatte sich die hellblaue Schleife gelöst.

    »Puh«, keuchte sie, während sie sich auf die Bank fallen ließ. »Jetzt muss ich mich erst ein bisschen ausruhen!«

    Paulchen krabbelte sofort auf ihren Schoß, und sie begannen, miteinander zu schmusen. Rosa lächelte gerührt.

    »Ihr zwei liebt euch ja heiß und innig«, sagte sie. Dann stand sie auf und wandte sich Antonia zu. »Komm, Kleines, wir machen einen Spaziergang durch den Garten.«

    Antonia rutschte von der Bank, presste mit einer Hand die Puppe an die Brust und schob die andere Hand in die Hand ihrer Mutter. Langsam gingen sie den schmalen Weg entlang, der durch den Garten führte, blieben auf einmal stehen. Rosa ließ den Blick über den Garten schweifen, in dem sie Jahr für Jahr all das Gemüse anpflanzte: Kartoffeln und Zwiebeln, Weißkohl und rote Beete, Möhren, Bohnen und vieles andere mehr. Ein eigentümliches Gefühl machte sich in ihr plötzlich breit. War es Sehnsucht? Oder war es einfach nur Träumen?

    Wie gern hätte sie Blumen in ihrem Garten gehabt. Bunte, herrlich duftende Blumen - Rosen vielleicht? Vor ihrem inneren Auge tauchte das Haus in der Ukraine auf, wo sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern und ihren Geschwistern gelebt hatte. Ganz deutlich, als wären sie jetzt wirklich vor ihr, sah sie die prachtvollen Rosen, die in allen möglichen Farben direkt vor dem Haus geblüht hatten. Ihre Mutter liebte diese Rosen über alles, und sie pflegte sie mit einer solchen Hingabe, dass sie alles andere um sich herum zu vergessen schien. Ja, dachte Rosa, sie liebte diese Blumen so sehr, dass sie mich, ihre jüngste Tochter, nach ihnen benannt hatte.

    »Mama, lass uns jetzt endlich weiter gehen«, hörte sie plötzlich Antonia sagen. Sie erwachte aus ihren schwebenden Gedanken und strich sich zerstreut über das dunkelblaue Kleid. »Ja, Kleines, natürlich gehen wir jetzt weiter.«

    Sie nahmen ihren Spaziergang wieder auf - durch den Garten, der mit Gemüse regelrecht vollgestopft war. Nur im hinteren Bereich wucherten ein paar Pflanzen, aus deren Blättern Friedrich den Tabak für seine Zigaretten herstellte. Und seitlich davon standen zwei Johannisbeersträucher, deren Früchte schon reif waren und darauf warteten, zur Marmelade verarbeitet zu werden. Für Blumen gab es hier keinen Platz. Das Gemüse war eben wichtiger als Blumen, denn es galt - abgesehen vom täglichen Brot und gelegentlich etwas Fleisch - als das Hauptnahrungsmittel für die ganze Familie.

    Nach einer Weile kehrten sie zurück zu der Bank. Rosa nahm Lina vorsichtig den kleinen Paul ab, der inzwischen auf deren Schoß eingeschlafen war, und setzte sich. Antonia nahm wie selbstverständlich neben ihr Platz, während Lina sich erhob.

    »Dann kann ich jetzt wieder mit den anderen spielen«, sagte sie und hüpfte lachend davon.

    Rosa blickte ihr mit einem wehmütigen Lächeln hinterher. Nun geht auch Lina bald zur Schule, dachte sie. Wie schnell sie doch alle wachsen! Man hat schon viel Arbeit mit sechs Kindern, und das Geld reicht vorne und hinten nicht aus - aber dennoch… Missen möchte ich keinen von ihnen!

    Sie strich Antonia zärtlich über das Haar und drückte den kleinen Paul etwas fester an sich. Für einen Moment vergaß sie all ihre Sorgen, die vielen Entbehrungen und die ganze Plackerei. In diesem Moment war sie einfach nur glücklich.

    Am Morgen ihres ersten Schultages war Lina so aufgeregt, dass sie nur mit Mühe eine Scheibe Brot mit Butter und Marmelade herunter bekam. Als ihre Mutter ihr nach dem Frühstück ein neues Kleid zum Anziehen gab, glaubte sie zu träumen. Denn bisher musste sie immer die Kleider auftragen, aus denen Klara herausgewachsen war.

    »Ist das Kleid wirklich für mich?«, fragte sie ungläubig.

    »Ja, Kind, natürlich ist es für dich«, erwiderte Rosa.

    Lina strahlte über das ganze Gesicht. »Oh, Mama! Es sieht ja genauso aus wie das Kleid, das du im Frühling für Elisabeth genäht hast! Ich habe mir damals so sehr gewünscht, du würdest auch für mich so ein Kleid nähen - und jetzt habe ich es wirklich bekommen!«

    »Ja, manche Wünsche gehen sogar in Erfüllung«, sagte Rosa und seufzte.

    Dass sie den Stoff für dieses Kleidchen in ihrer Wäschetruhe liegen hatte, war nur Zufall gewesen. Ihr Schwager Gustav hatte den hellblauen Stoff mit den weißen Punkten vor drei Monaten in der Stadt gekauft und sie gebeten, ein Kleid für seine sechzehnjährige Tochter Elisabeth zu nähen. Und von diesem Stoff war damals etwas übrig geblieben.

    »Das Kleid ist wunderschön!«, schwärmte Lina. »Und es ist auch noch hellblau, wie der Himmel! Du weißt doch, Mama, dass Hellblau meine Lieblingsfarbe ist.«

    »Wer weiß das nicht?«, mischte Fritz sich grinsend ein. »Du erzählst das ja jedem! Ganz gleich, ob er das hören will oder nicht!«

    »Na und? Dafür erzählst du jedem, wie stark und mutig du bist!«

    »Das bin ich ja auch!«

    »Ha-ha-ha«, machte Lina.

    »Jetzt ist Schluss, ihr zwei!«, sagte Rosa in einem tadelnden Ton. »Beeilt euch lieber! Ihr müsst gleich los!«

    Kurz darauf marschierte Lina mit Klara und Fritz durch das Dorf in Richtung Schule. Hin und wieder blickte sie an sich herunter, als wollte sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich ein neues Kleid anhatte. In der Hand trug sie eine Schultasche aus Schweinsleder, die ihr Vater eigens für sie gemacht hatte und die genauso aussah wie die von Klara und die von Fritz. Ganz stolz schritt sie daher, und sie fühlte sich so richtig groß, wenn nicht gar so richtig erwachsen!

    Nachdem sie den Hügel mit der Windmühle hinter sich gelassen hatten, kam die Schule zum Vorschein. Und je mehr sie sich dem weißen Gebäude mit den vielen Fenstern näherten, desto heftiger klopfte Linas Herz. Als sie den Schulhof erreichten, deutete Klara auf eine junge, hübsche Frau.

    »Das ist Frau Gruber, deine Lehrerin, Lina«, erklärte sie. »Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen, sie ist wirklich sehr nett. Ich wünsche dir jedenfalls viel Spaß im Unterricht!«

    »Und halt die Ohren steif!«, ergänzte Fritz, bevor er mit Klara im Schulgebäude verschwand.

    Lina trat zögernd auf die junge Lehrerin zu, um die sich bereits eine Schar von Kindern versammelt hatte. Frau Gruber begrüßte die kleinen Schüler mit einem freundlichen Lächeln, führte sie in den Klassenraum, wies ihnen dort ihre Plätze zu und wartete geduldig, bis das aufgeregte Stimmengewirr endlich verstummte. Danach begann sie, eine lustige Geschichte vorzulesen, die von einem schlauen Fuchs und einem dummen, ängstlichen Hasen handelte.

    »Hat euch die Geschichte gefallen, Kinder?«, fragte sie anschließend.

    »Jaaa!«, riefen sie alle im Chor.

    »Das freut mich«, sagte Frau Gruber. »Für heute machen wir aber Schluss mit dem Unterricht. Ihr bekommt jetzt noch Bücher und Hefte von mir, dann könnt ihr wieder nach Hause gehen. Und morgen, Kinder, bringe ich euch die ersten Zahlen und Buchstaben bei.«

    Gutgelaunt machte Lina sich auf den Heimweg. Da sie noch nie allein unterwegs gewesen war, beschloss sie, die Gelegenheit jetzt auszunutzen. Sorgsam auf ihr neues Kleid achtend, stieg sie den steilen Pfad hinauf zu dem Hügel, auf dem die Windmühle stand. Von hier aus konnte man alles überblicken, was Alexandrowka zu bieten hatte. Sonderlich viel war das allerdings nicht. Außer den kleinen, weißgekalkten Häusern mit den Gemüsegärten davor gab es hier einen Dorfladen, in dem man Seife, Zahnpulver und andere Dinge für den täglichen Gebrauch kaufen konnte. Etwa hundert Meter davon entfernt befand sich der Wasserbrunnen, und am Ende des Dorfes lag die Schmiede mit der angrenzenden Fuhrwerk-Station. Am anderen Ende lag der Friedhof, und seitlich davon erstreckte sich ein Fichtenwald. Bei dessen Anblick machte sich in Lina ein sehr mulmiges Gefühl bemerkbar. Durch diesen finsteren Wald mussten sie immer gehen, wenn sie die Geschwister ihrer Mutter in den dahinter liegenden Dörfern besuchten. Die raschelnden und knackenden Geräusche, die dort überall zu hören waren, wirkten auf Lina so unheimlich, dass sie sich jedes Mal fast zu Tode fürchtete.

    Nachdem sie alles gesehen hatte, lief sie den Hügel wieder herunter und ging gemächlich durch das Dorf. Als sie am Haus der Wendlers-Mutter vorbeikam, trat diese gerade heraus. Wie immer trug sie ein schwarzes, knöchellanges Kleid mit einer schwarzen Strickjacke darüber. Ein dickes Kopftuch, ebenfalls schwarz, umrahmte ihr hageres, von tiefen Falten und Furchen durchzogenes Gesicht. Diese uralte Frau, die mit Nachnamen Wendler hieß, fungierte in Alexandrowka als Medizinfrau. Mit selbstgemixten Arzneien behandelte sie sämtliche Wehwehchen der Dorfbewohner, spendete den Kranken bei Bedarf ein wenig Trost und leistete vor allem als Hebamme ihre Dienste.

    Nach einer geschlagenen Stunde kam Lina endlich zu Hause an. Der kleine Paul rannte hier auf seinen dünnen, wackeligen Beinchen durch die Küche und versuchte, Antonia zu fangen. Die beiden quietschten vergnügt. Oma Katharina saß am Tisch und lächelte Lina entgegen.

    »Na, Kind, wie war dein erster Schultag?«, fragte sie.

    »Ganz gut«, erwiderte Lina, während sie die Stube ansteuerte. »Ich erzähle dir aber später davon. Jetzt muss ich mich erst umziehen, damit mein neues Kleid nicht schmutzig wird.«

    In der Stube zog sie das neue, hübsche Kleid aus, faltete es sorgfältig zusammen und verstaute es in der Wäschetruhe, die ihr Vater selbst geschreinert und mit wunderschönem Schnitzwerk verziert hatte. Nachdem sie in ihr Alltagskleid geschlüpft war, ging sie zurück in die Küche, setzte sich zu ihrer Großmutter an den Tisch und begann zu berichten. In allen Einzelheiten beschrieb sie den Klassenraum, erzählte schwärmerisch von der netten Frau Gruber und gab in etwa die Geschichte wieder, die sie ihnen vorgelesen hatte. Auch Paulchen und Antonia, die jetzt in ihrer Nähe auf dem Fußboden saßen, hörten ihr aufmerksam zu.

    Kurz nachdem sie alles berichtet hatte, kam Rosa von draußen herein. Sie streifte hastig ihre Gartenschürze ab, wusch sich gründlich die Hände und warf dann Lina einen flüchtigen Blick zu. »Na, wie war’s in der Schule, Kind?«, fragte sie, während sie sich am Kochherd zu schaffen machte.

    »Ganz gut«, erwiderte Lina. »Mit dem eigentlichen Unterricht fangen wir aber erst morgen an. Darf ich jetzt noch ein bisschen nach draußen, Mama?«

    »Ja, meinetwegen. Bis das Essen fertig ist, dauert ohnehin noch ein Weilchen. Aber…« Rosa drehte sich um und sah ihre Tochter bittend an. »Würdest du mir vorher Kartoffeln aus dem Keller holen, Kind?«

    »Na klar!«, erwiderte Lina grinsend.

    Rosa öffnete die Klapptür, die hier in der Küche im Holzfußboden eingelassen war. Während sie mit einer Petroleumlampe nach unten leuchtete, stieg Lina über die Sprossenleiter in den niedrigen Keller. Hier wurden diverse Lebensmittel wie Butter, Milch, Kartoffeln und Fleisch aufbewahrt - doch manchmal gab es hier auch Mäuse. Diese ungebetenen kleinen Gäste jagten sowohl Rosa als auch Klara panische Angst ein. Allein schon deren Anblick ließ die beiden hysterisch aufkreischen und anschließend wie zu Stein erstarren. Deshalb war Rosa froh, dass Lina keine Angst vor Mäusen hatte.

    »Ist da unten alles in Ordnung?«, fragte sie jetzt besorgt.

    »Ja«, erwiderte Lina. »Ich sehe hier keine einzige Maus. Wie viele Kartoffeln brauchen wir denn?«

    »Zehn. Für für uns alle jeweils eine und für Papa zwei.«

    Glücklicherweise konnte Lina schon bis zehn zählen. Klara hatte es ihr beigebracht. Also legte sie zehn Kartoffeln in eine Blechschüssel, reichte sie ihrer Mutter nach oben und stieg aus dem Keller.

    »Sind das auch wirklich zehn, Mama? Hab ich mich nicht verzählt?«, fragte sie, kaum dass sie oben war. Dabei sah sie ihre Mutter so sehnsüchtig an, als erwarte sie ein paar lobende Worte von ihr.

    Doch Rosa war schon wieder viel zu beschäftigt, um dieses versteckte Betteln nach Lob erkennen zu können. »Ja, Lina, es sind genau zehn«, sagte sie nur. Dann machte sie die Klapptür wieder zu und ging zum Tisch, wo sie mit dem Kartoffelschälen begann.

    Lina wirkte ein wenig enttäuscht. Doch als das fröhliche Lachen ihrer kleinen Geschwister an ihre Ohren drang, lächelte sie und fragte: »Mama, dürfen Antonia und Paulchen mit nach draußen?«

    »Ja, natürlich«, erwiderte Rosa über die Schulter hinweg.

    Antonia an der einen Hand und Paulchen an der anderen, verließ Lina die Küche. Auf dem Weg zur Haustür überlegte sie, was sie mit den beiden gleich spielen sollte - Verstecken oder Fangen vielleicht? In ihrer Phantasie sah sie jedoch, wie sie mit den beiden draußen auf der weißen Holzbank sitzt und ihnen eine Geschichte vorliest - die von dem schlauen Fuchs und dem dummen Hasen vielleicht?

    »Pass gut auf die beiden auf, Lina!«, hörte sie plötzlich ihre Mutter rufen. Sie zuckte leicht zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Mit dem Vorlesen werde ich noch etwas warten müssen, dachte sie voller Bedauern. Dann schnappte sie sich den Ball, der im Vorhaus auf dem großen Holzhaufen lag, und ging mit Paulchen und Antonia hinaus.

    An den folgenden Tagen übte sie fleißig all die Buchstaben und Zahlen, die sie von Frau Gruber beigebracht bekam. Schon bald konnte sie ihren eigenen Namen und sogar die Namen ihrer Geschwister schreiben. Das Lernen bereitete ihr sehr viel Vergnügen, doch dann musste sie bitter erfahren, dass dieses Vergnügen nicht von langer Dauer sein sollte.

    Es war Anfang Oktober, als sie eines Morgens merkte, wie kalt es schon war. Nun stand der nächste Winter vor der Tür, und Lina sah ein Problem auf sich zukommen. Es war nämlich so, dass sie sich mit Klara und Fritz ein Paar Filzstiefel teilte. Wenn sie in diese Stiefel schlüpfte, um draußen im Schnee herumzutoben, musste sie sich zunächst ein paar Lappen um die Füße wickeln, damit sie ihr einigermaßen passten. Im letzten Winter hatte sie allerdings nur sonntags die Möglichkeit dazu, denn an den anderen Wochentagen wurden die Stiefel von Klara und Fritz gebraucht. Klara ging morgens in den Stiefeln zur Schule, und wenn sie mittags wieder zurück war, zog Fritz die Stiefel an und ging zum Nachmittagsunterricht.

    Ja, so war es im letzten Winter gewesen - aber wie sollte es in diesem Winter sein? Den ganzen Tag über beschäftigte sich Lina mit dieser Frage, und abends, als die Familie beim Abendbrot saß, nutzte sie die Gelegenheit, um es endlich zu klären.

    »Es wird Zeit, dass ich eigene Stiefel bekomme«, sagte sie, den Blick auf ihren Vater gerichtet. »Wir haben schließlich bald Winter.«

    »Weißt du, Lina«, begann Friedrich zögernd, »wir haben kein Geld für neue Stiefel, und deshalb…«

    »Aber wir brauchen neue Stiefel!«, fiel Lina ihm ins Wort. »Wie soll ich im Winter sonst zur Schule gehen? Ich muss eigene Stiefel haben!«

    Sie hatte es in solch einem fordernden Ton gesagt, der für die Neumann-Kinder ganz und gar unüblich war. Entsprechend streng war der Blick ihres Vaters, und genauso streng klang seine Stimme.

    »Lass mich ausreden, Lina! Oder hast du vergessen, was ich dir beigebracht habe? Es gehört sich nicht, Erwachsene zu unterbrechen - und schon gar nicht in diesem Ton!« Friedrich atmete tief durch, und als er weiter sprach, klang seine Stimme etwas ruhiger. »Es tut mir leid, Lina, aber du musst wieder zu Hause bleiben, sobald wir den ersten Schnee bekommen haben. Anders geht es nun mal nicht.«

    Lina riss die Augen auf und starrte ihn sprachlos an. »Aber warum denn ausgerechnet ich?«, stammelte sie endlich.

    »Weil Klara und Fritz nun mal älter sind, also haben die beiden Vorrang. Du kannst nächstes Jahr wieder zur Schule gehen, Lina! Sie läuft dir schon nicht weg!«

    Mit trotziger Miene erwiderte Lina den Blick ihres Vaters. Aus ihren sanften braunen

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1