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1988: Roman
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1988: Roman

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In Westberlin wird noch der "Revolutionäre 1. Mai" begangen, in Polen beginnen die Frühjahrsstreiks der Solidarność, und Schriftsteller aus Ost und West diskutieren über den "Traum von Europa": Mai 1988. Da lernen sich in einer Kreuzberger Hinterhofkneipe Jan und Wiola kennen. Er, ein Revolutionsromantiker aus diesem Westberlin, sie Doktorandin aus Krakau. Was weiß er über Polen? Nichts. Was weiß sie über Deutschland? Eine Menge. Sie verlieben sich, es ist der Beginn einer amour fou, einer umkämpften, platonischen Liebe. Doch eine platonische Liebe ist und bleibt eine Liebe. An all das erinnert sich Jan, fast dreißig Jahre später, als er von Wiola einen Brief bekommt. Ohne zu überlegen fährt Jan los. Ein zweites Mal von Berlin nach Krakau. Ein zweites Mal die Reise nach Polen, die für Jan und Wiola zu einer Schicksalsreise wurde im November 1988.
LanguageDeutsch
Release dateSep 8, 2017
ISBN9783940524690
1988: Roman

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    1988 - Uwe Rada

    Endlich.

    KREUZBERG

    Warum nur hat sie Sie geschrieben? Hatte sie mich überhaupt einmal mit Sie angesprochen? Was ist bloß in sie gefahren? Auf dem Beifahrersitz liegt der Brief. Ihr Brief. Ich drücke leicht aufs Bremspedal, schalte in den vierten Gang zurück, greife nach dem Umschlag. Auf der Vorderseite steht mein Name, ihrer, in kleinen Buchstaben geschrieben, auf der Rückseite. Dazwischen zwei eng beschriebene Seiten. Habe ich eine Stelle übersehen, irgendein Zeichen, das mir verraten hätte, warum sie ausgerechnet jetzt schrieb, nach so langer Zeit? Lieber Jan, erinnern Sie sich? Lieber Jan, zwei Worte, die mich ohne Vorwarnung trafen und augenblicklich ihr süßes Gift verbreiteten. Und dann, gewissermaßen als Gegengift, dieses Sie. Ich lege den Umschlag zurück auf den Beifahrersitz und schalte wieder hoch. Wie kann sie glauben, ich würde mich nicht mehr erinnern? Und wozu braucht sie die Distanz durch das Sie? Hat nicht die Zeit genügend Abstand geschaffen?

    In einer Viertelstunde werde ich an der Grenze sein. Eben sind einige Schneeflocken auf die Windschutzscheibe gesegelt. Dicke, tanzende Flocken, die sich, kaum berühren sie die Scheibe, in Dreckwasser verwandeln, das der Scheibenwischer wegschnalzt. Was ist unsere wirkliche Gestalt, hatte sie mich einmal gefragt und von einem gut aussehenden jungen Mann erzählt, dessen Gesicht nach einer schweren Krankheit von Narben entstellt war. Zuvor seien die Frauen auf ihn geflogen, hatte sie erklärt. Was haben sie gesucht? Seine markante Stirn? Oder das, was sich hinter dieser Stirn verbarg? Aber das wusste er vielleicht selbst nicht, weil bis dahin alles so glatt gegangen war. Und plötzlich erkannten ihn seine Freunde nicht wieder, hatte sie gesagt. Und er sich selbst auch nicht.

    Lieber Jan, erinnern Sie sich? Was für eine Frage. Muss man solche Fragen beantworten? Fast dreißig Jahre sind vergangen seit jenem Jahr. Unserem Jahr in Westberlin. Woher sollte sie die Gewissheit nehmen, dass ich mich tatsächlich an all das, was geschehen war, erinnere? Würde ich sie überhaupt wiedererkennen? Ihre Stimme, ihr geheimnisvolles Lächeln, das so schnell umschlagen konnte wie das Wetter in diesem Sommer? Vielleicht hatte auch sie eine Häutung durchgemacht wie der junge Mann, den sie damals erwähnte. Aber wer wäre sie dann? So viele Jahre später? Natürlich bin auch ich ein anderer geworden in diesen Jahren, vielleicht sogar einer, den man besser siezt als duzt.

    Letzte Tankstelle vor der Grenze. Keiner fährt raus. Die Schneeflocken jetzt Flockenregen. Ich stelle den Scheibenwischer auf Intervall. Nun schnalzt es im Fünf-Sekunden-Takt. Vielleicht hätte ich an der Tankstelle neue Wischerblätter besorgen sollen. Einmal hatte sie erzählt, wie sie von ihrer Dozentin, einer eigenwilligen Literaturwissenschaftlerin, im Auto mitgenommen wurde. Was ihr die Dozentin berichtet habe, habe vieles von dem, was sie zuvor geglaubt hatte, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Jeder Satz von ihr war wie ein Scheibenwischer gewesen, der nach und nach meine Gewissheiten beiseite schob, hatte sie gesagt. So war sie. Immer für ein hübsches Bild zu haben. Metaphern, hinter denen sie sich lächelnd versteckte.

    Vielleicht hört der Flockenregen bald auf. Sie ist nicht mehr dieselbe wie damals, ich bin nicht mehr derselbe. Aber ist das ein Grund, einen Brief zu schreiben? Als wäre nichts geschehen? Aber hatte sie sich jemals um Gründe geschert? Was verbarg sich hinter Wiolas Stirn? Wiola, würde ich es je schaffen, dich zu siezen?

    An der Grenze kontrolliert keiner mehr. Damals, als unser Jahr dem Ende entgegen gegangen war, war die Grenze schwer gesichert. Strenge Blicke, in den Pass, in die Pupillen. Aussteigen. Auspacken. Beine breit. Hände aufs Autodach. Wenn das eine Brudergrenze ist, flüsterte ich, dann frage ich mich, wer hier Kain ist und wer Abel. Wiola warf mir einen bösen Blick zu. Ich merkte sofort, dass sie ebenso nervös war wie ich. Hatte sie etwas zu verbergen? Was hatte ich eigentlich von ihr gewusst? Selbst bei dem, was sie preisgegeben hatte, konnte ich nicht sicher sein, dass es stimmte. Wiola, das hätte ich ihr später gerne noch hinterher gerufen, du bist flüchtig. Du bist nicht zu fassen, egal, ob du auf der Flucht bist oder dich von deinen Fluchten ausruhst. Wiola hatte den Grenzer angelächelt und ihm irgendeine Geschichte erzählt. Ein paar Minuten später hatten wir die Pässe zurück.

    Heute ist diese Grenze nichts weiter als eine Brücke, die ein Flusstal überspannt. Man muss den Fuß vom Gaspedal nehmen, damit einen der Seitenwind nicht bedrängt, das ist alles. In den Grenzgebäuden hinterm Fluss ermittelt eine deutsch-polnische Einheit der Polizei. Was würde Wiola sagen, wenn wir, jetzt, in diesem Moment, zusammen über den Fluss fahren würden? Würde sie sich freuen über die neue Freiheit in Europa? Dass der Traum endlich Wirklichkeit geworden war? Oder würde sie darauf hinweisen, dass sich die Grenzen nur verschoben hätten? Dass Menschen überall, wo sie den Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht haben, Grenzen ziehen, die somit etwas völlig Menschliches seien? Mach dir doch nichts vor, würde sie vielleicht sagen, jeder von uns ist in seinem Innersten ein Grenzsoldat. Verdammt, ich fange schon wieder an, in Gedanken mit ihr zu reden.

    Lieber Jan. Und du, Wiola? Liebe Wiola? Was hat die Zeit aus dir gemacht? Aus Ihnen, Wiola? Liebe Wiola, selbst dieses liebe Wiola geht mir nicht über die Lippen. Auch nicht im Auto, wo mich keiner hören würde, selbst wenn ich plötzlich anfangen würde zu brüllen: Liebe Wiola? Das würde dir gefallen, was? So zu tun, als würden wir diese Beziehung einfach fortsetzen, die du damals so abrupt beendet hast. Auf unserer albtraumhaften Fahrt nach Polen. Aber auch bei unserem ersten Geplauder damals in diesem Kreuzberger Hinterhof. Liebe Wiola. Vergiss es.

    Rzeczpospolita Polska. Autostrada wolności. Die Autobahn der Freiheit. Höchstgeschwindigkeit 140 Stundenkilometer. Beschleunigen. Aufofahrerfreiheit. Damals gab es noch keine Autobahn. Und auch keine Freiheit. Damals hast du die Regeln bestimmt, Wiola, hast mich nach Posen gelotst, nach Wieluń, nach Lodz und nach Krakau, deine Heimatstadt. Aber das ist Geschichte, ein für allemal vergangen. Mich wickelst du nicht mehr um den Finger. In mir wirst du dein Gift nicht mehr verbreiten. Liebe Wiola, zum Teufel kannst du dich scheren, zu all deinen Dichtern und Dämonen, mit denen du mich stets und ständig behelligt hast. Natürlich, es ging nur um Poesie, um ein Leben aus zweiter Hand. So wie all deine Sätze im Zweifel Zitate waren. Oder Dialoge auf Probe, weil du erst schauen wolltest, ob sie der Wirklichkeit standhielten. Wovor bist du geflohen? Wovor sind Sie geflohen?

    Nein, auch ein Sie würde mir nicht über die Lippen gehen. Wie geht es Ihnen, Wioletta? Das hätte ich mal sagen sollen, damals bei unserer ersten Begegnung, es war an einem unvermutet heißen Frühlingsabend in Kreuzberg. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, aber am frühen Abend waren die Sonnenstrahlen zwischen den Wolken durchgekrochen, und plötzlich war es unverschämt warm. Darf ich?, hatte sie gefragt und auf meinen Tabakbeutel gezeigt. Klar, warum nicht, hatte ich geantwortet, irgendwas, was man halt sagt, wenn man von einer fremden Frau angesprochen wird. Ich glaube, ich saß im Schankgarten der Hinterhofkneipe auf einem Mauervorsprung, den die Sonne gerade getrocknet hatte, zwischen den Füßen eine Flasche Bier, zwischen den Fingern der Tabak. Mats und Kalle, meine Mitbewohner, mit denen ich verabredet war, ließen auf sich warten. Wie immer. Ich hoffte, es gab nicht schon wieder Ärger mit der Polizei. Zwei Tage zuvor war Mats festgenommen worden, angeblich hatte er einen Beamten bespuckt. Nach zwei Stunden in Gewahrsam hatten sie ihn wieder laufen lassen. Nicht einmal meine Fingerabdrücke wollten sie, maulte er am Morgen am Küchentisch. Daraufhin stellte Kalle die Flasche Obstler auf den Tisch. Was ist das?, wollte Mats wissen. Magere Beute, hatte Kalle geantwortet, mehr war bei Getränke-Hoffmann nicht zu holen.

    Erste-Mai-Geschichten, so was hatten wir uns damals ständig erzählt. Im Rückspiegel sehe ich mich lächeln. Was haben wir uns wichtig genommen, damals auf dieser Insel namens Westberlin. Die ganze Welt wollten wir aus den Angeln heben, und was sprang am Ende dabei heraus? Eine Flasche Obstler. Was für eine Zeit. Und was für ein Jahr. Das letzte Jahr im Vorfeld epochaler Veränderungen, hatte mir ein Neunmalkluger mal erzählt, führe in der Geschichte immer ein Schattendasein. Ich bin mir da nicht sicher. Wahrscheinlich sind die Historiker nur neidisch, weil sie selbst nichts mitbekommen haben von den epochalen Veränderungen. Kann man einem Jahr etwas vorwerfen wie einem Menschen?

    Und jetzt bin ich auf der anderen Seite der Grenze, die keine mehr ist. Was würde Wiola dazu sagen? Hatten wir damals, im Mai 1988, wirklich nichts davon gespürt? Nicht ein kleines Lüftchen, das den Sturm ankündigte, der wenig später über uns hinwegfegen sollte.

    Wie hatte Wiola die Wende erlebt? War sie eine Wendegewinnlerin? Oder war das Jahr nach dem unseren bloß der Auftakt für weitere Fluchten? Wiola, die sich an diesem Dienstagabend meinen Tabak genommen und in ihrem lustigen Deutsch festgestellt hatte: Du rauchst aber hartes Zeug. Dann hatte sie sich selbst eine von diesem harten Zeug gedreht und sich neben mich auf den Mauerabsatz gesetzt. Erst in dem Moment hatte ich mich zu ihr gedreht. Sie war ziemlich groß und schlank und hatte ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare zu einem hohen, etwas zur Seite abstehenden Pferdeschwanz gebunden. Was sie anhatte, weiß ich nicht mehr, aber eines werde ich nicht vergessen. Ihre Schuhe, es waren Pumps, und die waren quietschrot. Nichts gegen quietschrote Schuhe, aber quietschrote Schuhe waren in diesem Hinterhof eher nicht angesagt. Schon gar keine quietschroten Pumps. Ich meine, nicht in dem Sinn, dass irgendwer was dagegen gehabt hätte. Es trug sie einfach keiner. Entweder du gingst barfuß, bist in Sandalen rumgelatscht oder deine Füße steckten in klobigen Springerstiefeln. Quietschrote Pumps waren was für die Schicksen am Kudamm. Nichts für den Kreuzberger Mehringhof. Warum hatte ich ihr das nicht gesagt? Weil ich es mir nicht gleich am Anfang verderben wollte? Ist was?, hatte sie gelacht. Ich biss mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Könnte noch ein amüsanter Abend werden, da konnte ein wenig Toleranz nicht schaden. Außerdem, wer weiß, woher sie kam? Vielleicht trug man solche Schuhe ja nicht nur am Kudamm, sondern auch in Kasachstan oder Kaliningrad? Wer ein Hoch auf die internationale Solidarität anstimmt, muss zur Not auch quietschrote Schuhe in Kauf nehmen.

    Die Autostrada wolności unterscheidet sich kaum von der Autobahn der Freiheit, die auf deutscher Seite vom Dreieck Spreeau bis zur Grenze führt. Warum hat man ausgerechnet diesem Autobahnabschnitt das Siegel der Freiheit verpasst? Weil es die direkte Verbindung zwischen Berlin und Warschau ist? Dazwischen aber liegt viel Wald, durch den die Freiheit eine Schneise schlägt. Auf deutscher wie auf polnischer Seite Verliererlandschaften im Europa ohne Grenzen. Abgezirkelt, eingezäunt, nur die Brücken sehen in Polen anders aus, ein wenig erinnern sie mich an Steinbrücken aus der Römerzeit, die ich aus Italien kenne.

    Bevor ich Wiola kennenlernte, hatte ich nichts über Polen gewusst. Wir wussten ja nicht einmal etwas von der anderen Hälfte unserer Stadt, die damals auch in einem anderen Land lag. Gestern, auf dem Weg zu dieser Kneipe im Mehringhof, bin ich durch die Brunnenstraße gefahren. Zum ersten Mal war mir der auf die Fassade gepinselte Spruch aufgefallen. Dieses Haus stand einmal in einem anderen Land. Warum habe ich diesen melancholischen Seufzer nicht schon eher bemerkt? Er hat mich augenblicklich traurig gemacht. Weil ich verdrängt habe, dass die Straßenzüge von Berlin-Mitte einmal zu einem anderen Land gehörten? Weil wir immer nur nach vorne schauen und die Mühe scheuen, uns über die eigene Schulter zu sehen? Warum schauen wir nicht zurück? Weil wir fürchten, uns dann nicht mehr wiederzuerkennen? Nicht den, der wir einmal waren? Oder, noch schlimmer, nicht den, der wir geworden sind? Ich weiß nicht, ob Wiola eine Antwort darauf hätte. Auch unsere Welt war damals eine andere gewesen, auch wir hatten in einem anderen Land gelebt, in einer anderen Stadt. Westberlin war nach dem Fall der Mauer ebenso schnell verschwunden wie Ostberlin, Hauptstadt der DDR.

    Als ich gestern Nachmittag den Brief von Wiola im Kasten fand, fühlte ich mich genauso wie beim Anblick des Spruches in der Brunnenstraße. Nicht nur die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es nicht mehr, sondern auch die Frau, die mir beigebracht hatte, über die Mauern dieser Stadt hinweg zu schauen. Hatte ich es nicht ihr zu verdanken, dass ich irgendwann in meinem Leben sagen konnte: Land in Sicht?

    Ich musste nicht lange überlegen. S. war ein paar Tage bei ihrer Mutter, es gab also keinen Grund, nicht loszufahren. Noch einmal nach Polen. Nochmal die ganze Strecke, Posen, Wieluń, Lodz. Und nochmal Krakau. In ein anderes Land und in eine andere Zeit. Nicht mehr panzergrau und winterschmutzig, sondern freundlich und aufgeräumt. Aber auch schaufensterhell. Welche Farbe würden Wiolas Haare haben? Würde sie immer noch ihren hohen Pferdeschwanz wippen lassen? Welche Schuhe würde sie tragen?

    Wenig später hatte ich meinen Koffer gepackt. Zwei paar Schuhe, T-Shirts, ein Wollpullover und die Daunenjacke gegen die Kälte. Auch das Gedichtbändchen, das mir Wiola in unserem Sommer geschenkt hatte, steckte ich ein.

    Ich weine niemals, wenn ich dich nicht sehe

    Bleibe vernünftig, wenn ich vor dir stehe

    Doch muss ich einmal länger um dich bangen

    Dann fehlt mir etwas, quält mich ein Verlangen.

    Es war das schönste Geschenk, das sie mir gemacht hat. Ein paar Monate nachdem sie mir das Bändchen in die Hand gedrückt hatte, war sie wie vom Erdboden verschwunden.

    Bevor ich den Brief von Wiola öffnete, hatte ich mir ein Glas Wein eingeschenkt. Malvasia Nera, der für besondere Anlässe. Ehe S. nach dem Wein fragen würde, würde ich wieder neuen besorgen. Mit dem Weinglas in der Hand überlegte ich, wie der Mehringhof ausgesehen hatte, damals am 3. Mai 1988, dem Tag, an dem Wiola in mein Leben getreten war. Es fiel mir schwer. Ich habe nur noch wenige Bilder im Kopf aus diesem Jahr, diesem Jahr davor, diesem Prolog auf eine Zeitenwende, aber so denken wir erst heute. Seit wir unsere Geschichte neu erzählen. Und nach Hinweisen fahnden, die auf diese Geschichte hinausliefen. Damals lebten wir in keinem Prolog, sondern mitten drin in der Kreuzberger Erzählung vom Hier und Jetzt. In einer Gegenwart, die wir mit einer Unbedingtheit und Unerschrockenheit besiedelten, als dürfe es kein Gestern und kein Morgen geben. Diese Gegenwart gehörte uns, wir hatten sie uns genommen, weil sie sonst keiner wollte. Wir hatten sie möbliert mit unseren Parolen und Merksätzen, die wir heruntergebetet hatten wie ein Messdiener die zehn Gebote.

    Als ich den Spruch an der Brunnenstraße sah, kam es mir vor, als hätten wir uns damals eine eigene Welt schaffen wollen, eine Welt in der Welt, eine Fruchtblase, in der auf Teufel komm raus neues Leben entstehen sollte. Oder hatte mir das Wiola eingeflüstert? Eure Radikalität hat etwas Religiöses, hatte sie mir schon bei unserer ersten Begegnung vorgehalten. Wie ihr euch in die Schlachten werft, die Opferbereitschaft, die ihr euren Körpern auferlegt, worin unterscheidet sich das von der Verkündung des Evangeliums? Kreuzberger Militanz als religiöser Schöpfungsakt – Wiola verstand es zu provozieren. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es nur als Provokation gemeint war. Damals hatte ich sie ungläubig angeschaut. Ich glaube, in diesem Moment ahnte ich, dass sie aus Polen kam. Sie hatte gelacht und den Kopf geschüttelt, so dass ihr Pferdeschwanz zu tanzen begann. Mach dir nichts draus, hatte sie gesagt, manchmal sehe ich Gespenster.

    Wenn ich heute darüber nachdenke, war Wiola die einzige in diesem Sommer gewesen, die mich aus unserer Kreuzberger Selbstgewissheit herausreißen konnte. Was hatten wir damals geglaubt? Dass wir das Gepäck, das uns von unseren Eltern mitgegeben war, einfach abwerfen konnten wie ein paar alte Klamotten? Dass wir uns nur die schwarzen Lederjacken überziehen mussten, um zu neuen Menschen zu werden? Und was, wenn wir die Lederjacken wieder auszogen? Einmal, das weiß ich noch, es war im Winter, setzte sich ein junges Mädchen, sie war kahlgeschoren, zu Mats und mir an den Kneipentisch. Saß einfach, hörte zu, nickte, schüttelte den Kopf. Woher kommst du, hatte ich sie gefragt, sie hatte nur die Schultern gehoben und zurückgefragt, ob das wichtig sei. Sie blieb bei uns, bis die Kneipe dichtmachte. Und nun?, fragte ich sie. Ich komm mit euch, schlug sie vor. In der Nacht kroch sie dann zu mir unter die Decke und fing an, meinen Hintern zu streicheln. Was soll das, wies ich sie unwirsch zurück. Ich wollte dir danke sagen, flüsterte sie. Trauriges Mädchen, dachte ich, ließ sie sich an mich kuscheln, dann schlief sie ein. Ich lag die ganze Nacht wach und dachte über dieses Mädchen ohne Namen und ohne Geschichte nach. Als ich aufwachte, irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, war sie verschwunden. Hektisch durchsuchte ich mein Zimmer und prüfte, ob irgendwas fehlte. Alles war noch da. Wütend trat ich gegen mein Bett.

    Kurz vor Schwiebus verrät ein Hinweisschild, dass die Autobahn bald mautpflichtig wird. Ich fahre ab, will dem Geschmack der Landstraße nachspüren, über die wir damals nach Posen gefahren waren, und dem Geruch der Herbstfeuer. In Schwiebus weiß ich endlich, ich bin in Polen. An einem Kreisverkehr thront eine riesige Jesusfigur. Ich halte an einer Tankstelle und frage den Tankwart, was sich der Bürgermeister dabei gedacht habe. Statt mir zu antworten, betet er die technischen Daten der Statue herunter, wie bei einem dieser Auto- oder Flugzeugquartetts aus meiner Kindheit. 36 Meter sei sie hoch, ein Weltrekord, 440 Tonnen wiege sie, die Spannweite der ausgebreiteten Arme betrage 24 Meter, alleine die vergoldete Krone auf dem Haupt der Christus-König-Statue sei drei Meter hoch. Es hört sich an, als würde in Polen gerade ein Christusquartett aufgelegt. Und warum ausgerechnet in Schwiebus?, frage ich den Tankwart. Er blickt kurz um sich und winkt mich dann heran. Wissen Sie, was sich unter dem Sockel der Statue verbirgt?, flüstert er. Ich schüttele den Kopf und erwidere seinen Blick. Der Pfarrer, der den Bau der Statue angeregt hatte, sagt er, hat in seinem Testament verfügt, dass nach seinem Tod sein Herz unter dem Fundament des Christus begraben werden soll. Und wissen sie was? Als der Pfarrer vor ein paar Jahren starb, haben sie ihm tatsächlich das Herz herausgeschnitten und dort in einer Schatulle verbuddelt. Wie das Herz von Chopin?, frage ich ungläubig. Aber wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert, empört sich der Tankwart und erzählt, dass gegen die beiden Ärzte, die dem Pfarrer das Herz entnommen hatten, die Staatsanwälte ermittelten. Ich danke dem Tankwart und lasse ihn meinen Tank füllen. Die Statue ist übrigens sechs Meter höher als der Christus in Rio de Janeiro, sagt er, als ich ihm im Kabuff meine Visakarte reiche. Ich nicke und spüre, wie sich ein Phantomschmerz in mir ausbreitet. Wie gerne hätte ich in diesem Moment mit Wiola über diesen Jesusphallus gelästert. Aber Wiola gehört in eine andere Zeit. Allerdings weiß ich jetzt, dank ihrem Brief, dass sie es bis in die Gegenwart geschafft hat. Lieber Jan. Mensch, Wiola.

    Sind wir damals auch über Schwiebus gefahren? Ich kann mich nicht mehr an die Orte erinnern, die wir nach der Grenze auf dem Weg nach Posen passiert haben. Worüber haben wir gesprochen? Im Nachhinein scheint es mir, als seien uns auf unserer Reise im November 1988 die Worte ausgegangen. Als sei im Frühjahr und dann wieder, als wir uns nach unserer Trennung wiedergefunden hatten, schon alles gesagt gewesen. Als hätten wir dem Gesagten nur noch hinterhergehört, ihm aber nichts Neues mehr hinzugefügt. Zumindest nicht bis Posen. Oder bis Lodz, Wieluń und Krakau. Ich weiß nicht, ob ich gut im Erinnern bin. Manchmal muss ich in Fotoalben blättern, um mich einer Reise mit S. zu entsinnen. Oder auf eine Karte schauen. Du hast ein topografisches Gedächtnis, lacht S. dann. Das stimmt wahrscheinlich, aber ich glaube, es ist nicht alles. Außer dem topografischen Gedächtnis habe ich noch das, was man vielleicht das Gedächtnis des Anfangs nennen könnte. Ich kann fast jede Anfangsszene eines Films beschreiben, den ich gesehen habe, aber bei den Enden muss ich passen. Warum ist dir egal, wie eine Geschichte ausgeht?, hat S. einmal gefragt. Ich habe ihr geantwortet, dass mir das nicht wichtig sei. Wichtig sei mir eher, dass etwas stattgefunden habe, dass jemand eine Zeitlang so intensiv in einer Geschichte lebe, dass sie einem schließlich wie wirklich vorkomme.

    Vielleicht erinnere ich mich deshalb nur bruchstückhaft an diese Reise durch Polen. Der Zauber des Anfangs dagegen steht mir vor Augen, als sei es erst gestern gewesen. Ich glaube, ich könnte ein Drehbuch dieser ersten Wochen mit Wiola schreiben. Das Drehbuch eines Films, in dem Westberlin plötzlich mehr war als die übliche Selbstbeschau. Kein Kiezfilm mehr, keine politisch korrekte Sozialromanze, eher ein rockiges Großstadtmovie. Wenn Wiola mit ihren schwarzen Kleidern und den roten Pumps durch die Kreuzberger Kulisse schritt, war das auch ein Statement gegen den Einheitslook im Revoluzzerkiez. Da war so oft von Vielfalt die Rede; machte sie sich aber einmal bemerkbar, dann begegnete man ihr mit Argwohn. Anfangs verkroch ich mich im Kragen meiner schwarzen Lederjacke, die ich auch im Sommer trug, wenn ich mit Wiola unterwegs war. Bald aber genoss ich es, wenn ich an ihrer Seite den Mehringhof betrat. Rot und Schwarz. Waren doch die Farben unserer Revolution. Und diese Revolution konnte sich sogar sehen lassen.

    So wie Wiolas Pferdeschwanz, den ich so liebte. Damals, als die meisten Frauen kurz trugen, war sogar ein Pferdeschwanz ein Statement. Wiolas Pferdeschwanz war ein Unikum. Keine Assipalme, wie sie die coolen Bräute in der Disko trugen, aber auch kein braves Pferdeschwänzchen fürs Büro. Nicht einmal streng wirkte Wiolas Pferdeschwanz, eher frech. Bei jedem ihrer Schritte pendelte er hin und her. Einmal blieb ich stehen und ließ sie ein paar Schritte vorgehen. Als sie es bemerkte, stoppte sie abrupt, drehte sich um und lachte. Bist du etwa müde?, rief sie. Quatsch, antwortete ich, ich will nur herausfinden, wie groß der Abstand werden muss, bevor du mich vermisst. Sie hatte gelacht. Wir haben doch eine Abmachung, hatte sie gesagt.

    Wenn ich an die Kneipe im Mehringhof denke, fallen mir vor allem Gesichter ein. Die beiden Typen hinterm Tresen, wie Pat und Patachon, einer groß, der andere klein und untersetzt. Beide hatten Jahre im Knast gesessen, das machte damals Eindruck auf mich. Oder der taz-Verkäufer, ein dauerlächelnder Punk, der immer gegen zehn Uhr abends auftauchte und seine druckfrischen Zeitungen anpries. An dem Abend, an dem ich Wiola begegnet war, hatten wir ihm das Blatt aus der Hand gerissen. Die Tage nach dem 1. Mai waren immer taz-Tage gewesen. Ich erzählte Wiola damals im Mehringhof, wie es losgegangen war am Sonntag zuvor. Wie der schwarze Block am Lausitzer Platz einen Polizeibus umgeworfen hatte. Wie die Bullen daraufhin das Straßenfest auf dem Platz gestürmt hatten. Ein paar Leute konnten sich in unseren Hauseingang flüchten. Es war wie im Krieg, hatte ich zu Wiola gesagt, dem taz-Verkäufer einen Blick zugeworfen und ihm einszwanzig in die Hand gedrückt. Hier, lies es selbst, ich zeigte ihr die Schlagzeile: 1. Mai: Bilanzen einer Vollmondnacht. 1.500 Bullen haben 134 Leute festgenommen, hatte ich mich empört, aber Wiola schaute mich nur staunend an. Du bist ja ein richtiger Revolutionsromantiker, frotzelte sie herausfordernd. Ich, ein Revolutionsromantiker, lachte ich und tönte, dass ich am 1. Mai eher kämpferisch als romantisch veranlagt sei. Romantisch sei eher was für die Stunden ohne Bullen. Wiola zog ungerührt die Augenbrauen hoch und erklärte, dass in der polnischen Romantik der Märtyrer Heldenstatus genieße. Wenn er für die Freiheit Polens kämpfte, durfte er sogar in den Kugelhagel des Gegners rennen, ganz egal, ob das Aussicht auf Erfolg hatte oder nicht. Was habe ich damit zu tun?, fragte ich damals. Was ist denn das, was du am 1. Mai veranstaltest, anderes, als sehenden Auges in eine

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