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Nanga im Winter: Eine Geschichte von Ehrfurcht, Geduld und Willenskraft
Nanga im Winter: Eine Geschichte von Ehrfurcht, Geduld und Willenskraft
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Nanga im Winter: Eine Geschichte von Ehrfurcht, Geduld und Willenskraft

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About this ebook

13 Jahre Werben um den Schicksalsberg
Mit Beharrlichkeit und Leidenschaft zur erste Winterbesteigung des Nanga Parbat
Die deutsche Lizenzausgabe des italienischen Bestsellers

Den 8125 Meter hohen Nanga Parbat umgibt eine besondere Aura: Tief haben sich die Tragödien, die sich im Ringen um diesen Berg abspielten, in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben, ebenso wie der legendäre Triumph von Hermann Buhl, dem 1953 die Erstbegehung gelang. Geschichten und Bilder wie diese begleiten Simone Moro von Jugend an und begründen seine tiefe Beziehung zu diesem abgelegenen Riesen im Karakorum, den die Italiener Assassina, Mörderberg, nennen.
2003 nähert er sich dem Nanga Parbat zum ersten Mal. Und scheitert. Knapp zehn Jahre später erfolgt der zweite Versuch. Diesmal im Winter. Die gewaltige Natur des Berges weist ihm mit Temperaturen bis minus 40 Grad, anhaltenden Schneefällen und Stürmen von bis zu 200 Stundenkilometern abermals in seine Grenzen. Aber das ist keineswegs das Ende seines Traums, im Gegenteil, es bestärkt Moro im geduldigen, hartnäckigen Werben um seinen Schicksalsberg, von dem er in diesem Buch erzählt: 13 Jahre voller unvorhersehbarer Ereignisse, mit wechselnden Seilschaften, Beinahe-Katastrophen und außerirdisch schönen Augenblicken müssen vergehen, bis er am 26. Februar 2016 um 15:37 Uhr das Ziel seiner Träume erreicht.
LanguageDeutsch
PublisherTyrolia
Release dateSep 28, 2017
ISBN9783702236243
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    Book preview

    Nanga im Winter - Simone Moro

    gelacht.

    EIN WUNSCH WIRD GRÖSSER

    1.

    Träume auf dem Papier

    Als mir der Nanga Parbat zum ersten Mal begegnete, war ich noch ein Junge, ich war vielleicht zwölf Jahre alt. Ich lernte ihn nicht „persönlich kennen, ich sah ihn nicht wirklich: Die Bücher, die von dem „nackten Berg, wie man ihn nannte, sprachen, beschrieben ihn mir. Mit großer Leidenschaft las ich die Geschichten jener Helden, die mich inspirierten – die Ereignisse, durch die dieser Berg auf ewig mit den Namen von Albert F. Mummery, Hermann Buhl oder Reinhold Messner verbunden sein wird.

    Der englische Bergsteiger Albert Frederick Mummery war ein echter Wegbereiter, der es in weit zurückliegenden Zeiten gewagt hatte, einen Achttausender herauszufordern. Man schrieb das Jahr 1895, als er beschloss, den damals noch unberührten und unerforschten Nanga Parbat zu besteigen. Er stürzte sich in diese Unternehmung in einem Stil, der für ihn typisch war: ohne Guide und mit der reinstmöglichen und ehrlichsten Methode. Anfangs versuchte er die Besteigung über die Rupalflanke, die höchste Steilwand der Erde, um dann festzustellen, dass der Zugang zum Berg von dort aus nicht möglich war. Er verlagerte seine Route deshalb zur gegenüberliegenden Flanke, zur Diamirflanke. Mit drei weiteren Bergsteigern kam er bis auf eine Höhe von 6100 Metern, doch dann mussten sie alle aufgeben. Er gab sich jedoch nicht geschlagen und begann eine dritte Flanke, die Rakhiotflanke, zu erforschen, an der er eine Linie zu erahnen begann, die ihn bis zum Gipfel auf 8126 Meter hätte bringen können.

    Mummery starb jedoch leider bei dem Versuch, von der Diamir- zur Rakhiotflanke zu kommen. Er verschwand in einem Labyrinth von Gletscherspalten und Séracs: Man hat nie genau erfahren, ob er in einer dieser Gletscherspalten verschwunden ist oder ob er, als er über die Rakhiotflanke absteigen wollte, in den senkrechten Wänden, die die Grenzlinie zwischen den beiden Bergflanken bilden, abgestürzt ist.

    Eine weitere große Legende, die ich durch den Nanga Parbat kennenlernte, war Hermann Buhl. Auch Buhl war eine Ikone des Bergsteigens (und das ist er noch heute, fast ein Jahrhundert nach seiner Geburt): Er war ein fantastischer Kletterer und ein herausragender Bergsteiger. Er war der Erste, der den neunthöchsten Berg des Planeten, den Nanga Parbat, in einer großartigen Unternehmung bestieg: Von 6900 Metern ging er im Alleingang weiter in Richtung Gipfel, eine Besteigung, die noch heute, über sechzig Jahre nach jenem 3. Juli 1953, als Aufstieg von höchster Bedeutung gilt.

    Es gab noch eine dritte Person, die schuld daran war, dass ich mich in den Nanga Parbat verliebte, und die mich dazu brachte, davon zu träumen, dass ich eines Tages fähig sein könnte, den größten Berg auf diesem Planeten zu besteigen. Ja, denn der „nackte Berg" ist, obwohl er absolut gesehen nicht der höchste Berg ist, doch der größte, wenn man die Höhendifferenz zwischen Basislager und Gipfel betrachtet: Sie ist fast doppelt so groß wie die Höhendifferenz zwischen vorgeschobenem Basislager und Gipfel des Mount Everest. Diese Person war Reinhold Messner, der Mann des Nanga Parbat. Der Mann, der über diesen Gipfel die wichtigsten und auch die dramatischsten Bücher seiner Karriere schrieb. 1970 brachte Messner alle zum Staunen, als er mit seinem Bruder Günther die unberührte Rupalwand mit ihren 4500 Höhenmetern durchstieg. Über ihre großartige Besteigung las ich in den Büchern, die daraufhin geschrieben wurden, und ich begriff, wie hoch, schwierig und kompliziert der „nackte Berg" war. Diese außergewöhnliche Unternehmung, in der Messner die Hauptrolle spielte, hinterließ jedoch eine große Wunde in seiner Seele und trat eine Kontroverse los, die etwa dreißig Jahre andauern sollte.

    Nachdem Reinhold und Günther den Gipfel gemeinsam erreicht hatten, stellten sie fest, dass der Rückweg nicht über dieselbe Wand möglich war. Sie versuchten einen verzweifelten Abstieg über die Flanke auf der anderen Seite, über die Diamirflanke. Als sie schon fast am Wandfuß angelangt waren, wurde Günther von einer Lawine erfasst und kam ums Leben. Reinhold war ein ganzes Stück vor seinem Bruder, und es gelang ihm, sich trotz schwerer Erfrierungen Richtung Tal zu schleppen. Ein paar ortsansässige Hirten fanden ihn, sie halfen ihm und brachten ihn zur Hauptstraße. Dort traf er seine Expeditionsgefährten, die sich schon auf der Rückreise befanden, denn sie waren überzeugt, dass die beiden Brüder ums Leben gekommen waren. Lange Zeit wurde Reinhold beschuldigt, er habe aus Ehrgeiz seinen Bruder geopfert und gelogen, als er erzählte, dass Günther erst am Fuße der Diamirflanke gestorben sei. Messners Version hat sich inzwischen jedoch bestätigt. Viele seiner Kritiker glaubten, dass Messners Bruder ums Leben gekommen war, noch bevor sie den Gipfel erreicht hatten.

    Mit diesen Anklagen musste Messner lange leben, er verteidigte sich die ganze Zeit mit Zähnen und Klauen, versuchte seine Wahrheit hinauszuschreien. 35 Jahre später kam sie ans Tageslicht, als man die Überreste seines Bruders (durch DNA-Tests bestätigt) auf dem Gletscher unterhalb der Diamirflanke fand. Genau dort, wo sie nach Reinholds wiederholter Aussage sein mussten.

    1978, im selben Jahr, in dem Messner die erste Besteigung des Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff gelang, kehrte er zum Nanga Parbat zurück und eröffnete dort im Alleingang eine unglaubliche, bis heute nicht wiederholte Route in der Diamirflanke.

    2.

    Den Berg vor Augen

    Endlich kam der Tag, an dem ich den Berg mit eigenen Augen sah.

    Bis dahin hatte der Nanga Parbat eine kraftvolle Faszination auf mich ausgeübt, die sich aus den Büchern, die von meinen Helden und ihren Unternehmungen erzählten, speiste. Beim Lesen begann ich davon zu träumen, so zu sein wie sie, eines Tages ein Forscher der Vertikalen zu werden und die Taten jener unvergleichlichen Bergsteiger der Vergangenheit nachzuahmen.

    1998 war ein besonderes Jahr: Ich war gerade von der tragischen Winterexpedition zur Annapurna zurückgekommen, bei der ich Anatoli Boukrejew, meinen engsten Freund und Seilpartner, und Dimitri Sobolev, einen weiteren Klettergefährten, verloren hatte. Von dieser Expedition kam nur ich lebend zurück, ich habe nicht einmal ihre sterblichen Überreste gefunden. Die darauffolgenden Monate waren heikel: Ich musste mich einer langwierigen Rehabilitation unterziehen, da ich schwerste Verwundungen an Händen und Beinen hatte. Nach der Rekonvaleszenzzeit begann ich, über meine Zukunft nachzudenken. Ich begriff, dass ich mich von den Bergen nicht fernhalten konnte, denn dort hatte ich mein Glück gefunden. Und wenn du den wichtigsten Bestandteil deines Lebens gefunden hast, auf den du nicht verzichten kannst, tust du alles, um ihn nicht wieder zu verlieren. Meinen hatte ich in den Bergen, beim Bergsteigen, gefunden, und so beschloss ich, weiterhin zu klettern und alles, was ich bislang gelernt hatte, zu beherzigen – auch die Lektionen, die mir die Tragödie an der Annapurna erteilt hatte.

    Im Sommer 1998 beschloss ich also, wieder auf Expedition zu gehen. Zum ersten Mal war ich in Pakistan, unser Ziel war die Besteigung des Broad Peak im Karakorumgebirge. Um zu diesem Berg zu gelangen, mussten wir auf dem langen, kurvenreichen Karakorum Highway (KKH) fahren, einer Straße, die Mitte der Siebzigerjahre gebaut wurde und eine Verbindung zwischen Pakistan und China darstellt. Sie schlängelt sich an den Ufern des Indus entlang bis zum Khunjerabpass auf eine Höhe von 4700 Metern hinauf. In den Büchern, die meine Träume so sehr beflügelt hatten, hatte ich gelesen, dass sich in der Nähe des Ortes Jaglot eine Stelle befand, von der aus man den Nanga Parbat in seiner ganzen majestätischen Pracht sehen könne. Sehnsüchtig wartete ich darauf, zu dieser Stelle zu kommen, ich hatte sie mir fest eingeprägt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese perfekte Ansicht sein würde; ich hatte den Nanga Parbat viele Male im Geiste durch die Augen derer gesehen, die den „nackten Berg" von eben dieser Stelle erblickt hatten.

    Wir waren seit Stunden unterwegs, die Sonne ging unter, und es war glühend heiß, als wir in Jaglot ankamen. Obwohl diese wichtige Straße mitten durch den Ort führte, wirkte dieser ziemlich unzivilisiert. Der Fahrer machte Halt und rief: „Nanga Parbat!" und deutete mit dem Arm in die Ferne.

    Ich stürzte aus dem Minibus und erblickte den Giganten: Er zeichnete sich vor meinen Augen in einigen Kilometer Entfernung, aber deutlich sichtbar in seiner ganzen Größe ab. Es war wirklich ein riesiger Berg, noch größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ein weißer, leuchtender Berg, der mir ganz eindeutig eine ausdrückliche Einladung aussprach. Ich hatte in diesem Moment eine starke Vision, was ich spürte, war eine Mischung aus Wunsch und unwiderstehlicher, fast hypnotischer Anziehung: Eines Tages würde ich auf diesen Berg steigen.

    3.

    Der Nanga Parbat

    2003 war ein wichtiges Jahr für den Alpinismus. In dieses Jahr fiel der fünfzigste Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest und des Nanga Parbat. Während sich die Feierlichkeiten auf den höchsten Berg der Erde konzentrierten, ebenso die Berichterstattung in der Presse, fiel wenig Aufmerksamkeit auf die großartige Besteigung des „nackten Berges", die Hermann Buhl fünfzig Jahre zuvor vollbracht hatte.

    Schon seit geraumer Zeit hatte ich vor, das fünfzigste Jubiläum von Buhls Erstbesteigung mit einer Sommerexpedition zu feiern. Sie sollte drei Ziele haben: Das erste sollte eben der Nanga Parbat sein, über eine neue Route, die ich monatelang auf Wandfotos studiert hatte. Das zweite Ziel sollte der Broad Peak sein, der 8047 Meter hohe Gipfel am Baltorogletscher, den ich schon einmal 1998 versucht hatte, und das dritte der K2, der zweithöchste Berg des Planeten.

    Für den ersten Gipfel, den Nanga Parbat, würde sich die Expeditionsgruppe aus Mitgliedern unterschiedlicher Nationalität zusammensetzen: aus Italienern – Franco Nicolini, Mirco Mezzanotte und meiner Wenigkeit –, zwei Spaniern – den beiden Freunden Iñaki Ochoa und Oscar Gogorza –, einem Amerikaner – dem berühmten Ed Viesturs, der zusammen mit uns seinen zwölften Achttausender in Angriff nahm – und schließlich einem Franzosen – Jean-Christophe Lafaille, ein absoluter Crack, der im Basislager zu uns stoßen sollte.

    Im Basislager würde sich auch eine kasachische Expedition befinden, die aus acht Bergsteigern bestand, unter ihnen mein Freund und neuer Seilpartner Denis Urubko, mit dem ich nach dem Tod von Antoli Boukrejew die zweite Phase meiner Karriere begonnen hatte. Angeführt wurde dieses Team von dem Veteranen Ervand Iljinsky, einem Bergsteiger, der in jungen Jahren zahlreiche große Bergtouren durchgeführt hatte und später Trainer der Militärsportgruppe in Almaty wurde. Als Expeditionsleiter hatte er viele nationale – und auch nationalistische – Projekte des russischen und kasachischen Alpinismus geleitet.

    Außer diesen beiden Expeditionen würde noch eine dritte, aus vier Italienern bestehende Expedition vor Ort sein: Kurt Brugger, Olympiateilnehmer im Rennrodeln, mit einer großen Leidenschaft und Bergerfahrung auf höchstem Niveau, die Brüder Giampaolo und Enzo Corona, Bergführer und Mitglieder der Bergrettung, sowie Robert Gasser, ein weiterer Fan von Himalaya-Expeditionen. Zum Team würde auch die österreichische Ausnahmebergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner zählen, die eine langwierige und schwierige Unternehmung versuchte, nämlich alle 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen.

    Die Kasachen kamen im Basislager mit einer Akklimatisierung an, die sich von der unseren unterschied: Sie hatten ein Training in der Höhenkammer durchlaufen, eine Art Unterdruckkabine, die künstlich von Woche zu Woche ansteigende Höhen simulierte, von 4000 auf 5000, auf 6000, 7000 und schlussendlich auf 8000 Meter. Theoretisch waren sie schon bereit, den Gipfel zu versuchen oder zumindest einige wenige Vorstöße nach oben zu machen, bevor sie den letzten Sprung zum Gipfel in Angriff nahmen.

    Am Nanga Parbat wollte ich etwas Besonderes tun. Ich war nicht nur daran interessiert, zum Gipfel zu kommen, ich wollte meine Vorstellung von einem „explorativen Alpinismus" umsetzen, der es mir ermöglichte, neue Routen zu eröffnen, Speedbegehungen durchzuführen, Enchaînements und Überschreitungen zu realisieren und unberührte Wände mit den eigenen Händen anzufassen. Das war mir nicht immer gelungen, aber es war die Spur, der ich auf meinem Weg als Bergsteiger folgen wollte. Kurz und gut, das war die Ethik, mit der ich mich in der Vertikalen bewegen wollte.

    Deswegen hatte ich vor, eine neue Route an der Diamirwand, der Westflanke des Nanga Parbat, zu eröffnen: Ich war nicht auf der Suche nach neuen Rekorden, sondern nach Entdeckungen in einer Wand, die schon mehrere Male durchstiegen worden war, die aber trotzdem immer noch Ecken und Winkel für Abenteuer enthielt. Und genau diese Winkel hatte ich gefunden, als ich die Fotos betrachtete und die Berichte über frühere Versuche las: an einem Sporn entlang, links von der „Kinshofer", der klassischen Route.

    Die fixe Idee bestand also nicht nur in der Besteigung des Nanga Parbat an sich, sondern des Nanga Parbat über diese neue Route: Es ging also nicht so sehr um das „Was, sondern um das „Wie. Ich wollte ihn ohne zusätzlichen Sauerstoff im Alpinstil besteigen und dachte, dies mit meinem Seilpartner Denis Urubko tun zu können. In diesem Punkt gab es jedoch schon die erste Überraschung: Ervand Iljinsky, der Chef seiner Expedition, erlaubte ihm nicht, die kasachische Mannschaft zu verlassen und mit mir mitzukommen. Es war diese nationalistische Art von Alpinismus, bei der die Befehle des Chefs nach klassischer sowjetischer Manier mit militärischer Disziplin ausgeführt werden.

    Ich fand mich in einer seltsamen Situation wieder: Ich hatte den Berg vor mir, ein klares Projekt im Kopf, war in guter körperlicher Verfassung, hatte aber nicht den Gefährten, mit dem ich diese neue Route am Nanga Parbat zu eröffnen hoffte, obwohl sie sich genau hier, ein paar Schritte von mir entfernt, befand.

    4.

    Lafaille kommt zu uns ins Team

    Aufgrund unseres Vorhabens, drei Achttausender hintereinander zu besteigen, waren wir dazu gezwungen, schon Anfang Juni im Basislager anzukommen, also ziemlich lange vor den Sommerexpeditionen in diese Berge. Wir mussten sparsam mit der Zeit umgehen und versuchen, schnell zu sein. Doch da wir dort die Ersten sein würden, würden wir das Lager noch nicht eingerichtet vorfinden. Das wussten wir und organisierten uns entsprechend.

    Um das Basislager zu erreichen, benötigten wir drei Tage, also relativ wenig Zeit. Wir folgten dem traditionellen Weg: Von der Straße aus, bei der man mit dem Jeep ankommt, gingen wir durch ein schmale, recht wilde Schlucht, die ein reißender Wildbach ausgehöhlt hatte. Wir machten im Dorf Ser Halt, wo wir die erste Nacht verbrachten. Tags darauf marschierten wir weiter, bis wir zu einer geschützten Stelle unterhalb einer großen Felswand aus rötlichem Granit kamen, in der Nähe der weiten Fläche von Kutgali, einer Ebene, die vor der eindrucksvollen, wuchtigen Masse des Nanga Parbat liegt.

    Die Stimmung in der Gruppe war gut, wir waren alle bester Laune, heiter und zu Scherzen aufgelegt. Alles schien sich in die richtige Richtung zu entwickeln: Der starke Wunsch, den „nackten Berg" zu berühren, ließ uns schneller gehen als sonst und trug dazu bei, dass wir die Belastung dieser ersten Anstrengungen, die uns gar nicht als solche vorkamen, nicht so sehr spürten. Bei der Annäherung ans Basislager marschierten wir nicht mehr als vier bis fünf Stunden am Tag. Uns folgten alle Träger mit den Lasten, die wir in eigens an Ort und Stelle hergestellten Plastikboxen oder Aluminiumbehältern verstaut und von Italien aus verschickt hatten. In diesen Behältern befanden sich Ausrüstung, Vorräte mit Nahrungsmitteln und alles Notwendige, um einen ganzen Monat im Basislager überleben zu können.

    Nachdem sich gezeigt hatte, dass Denis nicht mit mir mitkommen konnte, machten wir uns sofort am Normalweg, an der Kinshofer-Route, an die Arbeit. Es war wichtig, dass wir uns bald gemeinsam in Richtung Höhe bewegten, um die Akklimatisierungsphase einzuleiten. Die 1962 realisierte Kinshofer-Route schlängelt sich am ausgesetztesten Teil des Berges entlang: anfangs ein Couloir von über 1000 Höhenmetern, das vom unterhalb eines Felsens gelegenen Lager 1 auf 4900 Metern in einer langen, steilen Eisrinne bis hoch zu der berühmten Felsmauer verläuft, die alle Kinshofer-Wand nennen. Das ist der steilste und technisch schwierigste Abschnitt des gesamten Anstiegs. Ist er überwunden, kommt man zu einer kleinen Terrasse, auf der man die Zelte für ein weiteres Lager aufstellen kann.

    Die Rinne musste jedoch zunächst mit Fixseilen versichert werden: In mehreren Anläufen stiegen wir abwechselnd auf, immer damit beschäftigt, die schweren Seilrollen zu transportieren und die Seile zu fixieren. Ein langer Ariadnefaden, der uns nicht so sehr den Anstieg als vielmehr den Abstieg Richtung Tal erleichtern würde.

    Schnelligkeit war für uns in diesen Tagen zwingend notwendig, denn wir hatten nicht genug Zeit, uns auszuruhen und den Körper langsam an die große Höhe zu gewöhnen. Die Anstrengung war deutlich zu spüren, doch jede Aktion verlief nach Plan und ohne Zeitverlust. Im Basislager waren wir viele – große Kräfte und viel Erfahrung standen also zur Verfügung, wodurch wir uns bei der Arbeit regelmäßig ablösen konnten.

    Am 5. Juni kam unser siebtes Gruppenmitglied an, Jean-Christophe Lafaille. Er kam aus Nepal, wo er nur zwei Wochen vorher, am 20. Mai, im Alleingang den Dhaulagiri, mit 8167 Metern der siebthöchste Berg der Erde, ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen hatte. Auch er legte sofort los: Am 6. und 7. Juni stieg er zunächst zum Lager 1 und dann zum Lager 2 auf, um danach direkt ins Basislager zurückzukehren. Er war schnell und eindeutig der Besttrainierte unserer Gruppe, dank der Akklimatisierung, die er vom Dhaulagiri mitgebracht hatte.

    5.

    Tom und Martina

    Wir alle waren – ein jeder nach seinen Fähigkeiten, seinem Akklimatisierungsstand und seiner persönlichen Geschwindigkeit – damit beschäftigt, uns in Richtung Gipfel vorzuarbeiten, und versuchten, uns an die großen Höhen anzupassen. Mit dem Gipfelversuch durften wir nicht allzu lange warten, denn es gab noch zwei weitere Berge, die auf uns warteten: der Broad Peak und der K2.

    In Jean-Christophe Lafailles Zeitplan für die Akklimatisierung war vorgesehen, dass er am 11. Juni zum Lager 2 und schon fünf Tage später auf eine Höhe von 7000 Metern aufsteigen sollte. Kaum zehn Tage nach seiner Ankunft war er also schon bereit, den Gipfel zu versuchen.

    Ich war es mit Sicherheit nicht. Der menschliche Körper braucht mindestens drei Wochen, in denen er ununterbrochen großer Höhe ausgesetzt ist, um sich physiologisch daran anzupassen. Und mir war es während der Vorbereitungsphase nicht gelungen, eine wichtige Etappe meines Akklimatisierungsprogramms abzuschließen. Ich war bis zum Lager 2 gekommen, wo ich geplant hatte, die Nacht zu verbringen, um dann bis auf 7000 Meter aufzusteigen. Mit mir war Oscar Gogorza mitgekommen, dem es jedoch wirklich nicht gut ging: Er hatte starke Migräne und war extrem müde. Zudem war er auch verwirrt: Er zeigte also eindeutige Symptome eines beginnenden Hirnödems.

    Ich wusste, dass der für den nächsten Tag geplante Abschnitt die Schlüsseletappe für mich war: Es war die letzte, aber auch die wichtigste Phase meiner Akklimatisierung. Auf 7000 Höhenmeter aufzusteigen und dort eine Nacht zu schlafen ist praktisch unabdingbar, wenn man dann die 8000-Meter-Marke ohne zusätzlichen Sauerstoff erreichen will.

    Die Prioritäten änderten sich jedoch, anderes wurde dringlicher: Oscar ging es schlecht, es bestand die Gefahr, dass sich sein Zustand weiter verschlechtern und er sterben würde, wenn wir ihn nicht eiligst auf eine niedrigere Höhe brachten. Iñaki Ochoa und ich entschieden uns, ihm zu helfen. Anstatt im Lager 2 zu schlafen, stiegen wir wieder ab, um ihn ins Basislager zu bringen. Es war eine elende Plackerei, aber wir haben ihm sicherlich dadurch das Leben gerettet. Mitten in der Nacht kamen wir dort an – schweißüberströmt und gleichzeitig durchgefroren, aber glücklich, da wir unseren Freund nach Hause gebracht hatten. Oscar zeigte schon 500 Meter unterhalb der Stelle, an der er die ersten Symptome hatte, erste Anzeichen von Erholung. Im Basislager, auf einer Höhe von weniger als 2000 Metern, ging es ihm schnell wieder besser.

    Die Tage vergingen schnell, und die Kasachen machten Meter um Meter. Die künstliche Akklimatisierung in der Höhenkammer zeigte hervorragende Ergebnisse. Schon am 17. und 18. Juni gelangten sie überraschenderweise zum Gipfel. Sieben von acht Bergsteigern erreichten in zwei Gruppen die 8126 Meter, den ersten Teil der Expedition konnten sie damit als abgeschlossen betrachten: Sie waren bereit, sich zum Broad Peak zu begeben.

    Zwei Tage später, am 20. Juni, erreichten auch Gerlinde Kaltenbrunner und Iñaki Ochoa den Gipfel. Am selben Tag versuchten es auch Jean-Christophe Lafaille und ich; er hatte mit Begeisterung den Vorschlag angenommen, mit mir zusammen über die geplante neue Route aufzusteigen.

    „Simone, ich fühle mich bereit, das Wetter ist gut, aber wir müssen aufbrechen, bevor es schlechter wird", sagte er zu mir am 19. Juni.

    Obwohl mir bewusst war, dass ich noch nicht akklimatisiert war, beschloss ich – in der Hoffnung, trotzdem bis zum Gipfel gelangen zu können –, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und anderntags aufzubrechen, um das Schönwetterfenster zu nutzen. Es wurden zwei fantastische Aufstiegstage in reinem Alpinstil über eine jungfräuliche, unberührte Route mit ernsthaften Schwierigkeiten, da die Steilheit anspruchsvoll war und das Gelände aus einem Mix aus Fels, Eis und Schnee bestand.

    Um die Gefahr zu verringern, die von dem großen Sérac ausging, der drohend über dem Einstieg in die Kinshofer-Rinne hing und unterhalb dessen wir queren mussten, brachen wir in der Abenddämmerung auf. Schon an diesem Abend hatten wir es auf 4900 Meter geschafft. Wir hatten nur ein paar Stunden geschlafen und stiegen mitten in der Nacht mit größter Geschwindigkeit unterhalb dieses Eismonsters durch, das jeden Moment hätte abbrechen können. Am ersten Tag machten wir fast 2000 Höhenmeter und stellten unser Biwak auf 6900 Metern auf, weit über dem Punkt und der Höhe, die wir ursprünglich in dieser ersten Etappe erreichen wollten.

    Die Nacht verlief ruhig, wir schliefen so lange wie nötig in unserem kleinen, rot-blauen Zelt. Wir standen über Funk in Kontakt mit dem Basislager, von dort aus verfolgten sie uns mit dem Fernglas. Am nächsten Tag standen wir früh auf und zogen wieder los. Doch wir kamen immer langsamer voran: Es gab immer mehr Schnee, wir mussten spuren. Außerdem war auch die Anstrengung der 2000 Meter zu spüren, die wir in einem Zug am Tag davor zurückgelegt hatten. Wir konzentrierten uns darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wir versuchten, den Schnee unter unseren Bergstiefeln festzutreten. Wir arbeiteten nach dem Rotationsprinzip und wechselten uns gegenseitig an der Spitze der Seilschaft ab. Es war knallharte Arbeit, der Schnee reichte uns manchmal bis zur Hüfte. Nach einem halben Tag ununterbrochener Anstrengung kamen wir schließlich auf einer verschneiten Bergschulter an, in der Nähe des Plateaus, das sich im oberen Teil der Wand befindet. Von dort stiegen wir etwa 100 Höhenmeter ab und stießen auf die Fixseile des Normalwegs. Damit hatten wir unsere neue Route beendet und fanden uns auf der klassischen Route wieder, die die Kasachen in den vergangenen Tagen gespurt hatten.

    Nachdem wir das Zelt auf fast 7000 Metern aufgestellt hatten, begegneten wir Ed Viesturs, der am selben Tag wie wir aufgebrochen war, um über die Normalroute aufzusteigen. Wir hatten vorher verabredet, an welchem Ort wir uns treffen könnten, und waren nun fast erstaunt, dass er sich so respektvoll an diese Verabredung gehalten hatte: Wir umarmten uns herzlich und nahmen die – sehr willkommenen – Gratulationen von Ed entgegen.

    In diesem Moment – ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen – gaben Jean-Christophe und ich uns die Hand, gratulierten uns gegenseitig und entschieden über den Namen, den wir der Route geben wollten: Wir nannten sie seinem Sohn und meiner Tochter zu Ehren „Tom und Martina".

    6.

    Nur ein „Auf Wiedersehen!"

    Der 22. Juni sollte der Tag sein, an dem Jean-Christophe, Ed und ich von unserem Lager 3 auf ungefähr 7000 Metern, genau dort, wo sich das Lager 3 der normalen Kinshofer-Route befand, bis zum Lager 4 auf derselben Route aufsteigen wollten. Wir hatten vor, unser Zelt dort aufzuschlagen, wo die Kasachen ein paar Tage vorher Halt gemacht hatten, das heißt, auf 7400 Metern, bei einem dreieckigen Felsen, unterhalb dessen wir Schutz suchen wollten. Es sollte der letzte Halt sein: Am 23. Juni wollten wir den Gipfel versuchen.

    Die Nacht in 7000 Metern Höhe verlief ganz gut, aber ich fühlte die Erschöpfung, ich spürte, dass ich nicht vollständig akklimatisiert war und dass mir die neue Route viel mehr Anstrengung als gewöhnlich abverlangt hatte – und zwar nicht nur rein physisch, sondern auch an Konzentration. Am folgenden Morgen setzten wir uns in Bewegung: Schon bei den ersten Schritten spürte ich die Schwere in meinen Beinen. Das war ein klassisches Zeichen dafür, dass ich, obwohl ich fit war, nicht für diese Höhe

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