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Fremd gewordenes Land: Streifzüge durch Frankreich
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Ebook548 pages6 hours

Fremd gewordenes Land: Streifzüge durch Frankreich

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In seinem philosophisch-literarischen Großessay führt Bailly die Beobachtungen und Reflexionen aus seinen Reisen auch in entlegene Gegenden Frankreichs zusammen, immer mit dem Ziel, die Identität der Republik zu erfassen und die in ihr gespiegelte Landschaft und Gesellschaft auf seine Weise zu kartografieren. Landschaftsbuch, Soziogramm und Reportage in einem, führt er uns von einer Fabrik für Fischernetze im alten Bordeaux zu Rodins Atelier in Meudon, von einem Karpfenteich in Fontainebleau, an dem Franz I. schon spielte, bis zu einem Gehöft in Roche, das 1918 von Deutschen gesprengt worden war. Bailly lässt sich führen und verführen von Leuten und Flüssen, Geschichten und Geschichte und legt ein buntes Mosaik des heutigen Frankreich.
LanguageDeutsch
Release dateSep 29, 2017
ISBN9783957574923
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    Fremd gewordenes Land - Jean-Christophe Bailly

    Nachwort

    1. Einführung

    Das Thema dieses Buches ist Frankreich. Es geht darum zu verstehen, was dieses Wort heute bezeichnet und ob es zutrifft, dass es etwas bezeichnet, was per se anderswo nicht existieren könnte, jedenfalls nicht so und nicht in dieser Weise. Um mich diesem Knäuel aus ineinander verstrickten, doch oftmals widersprüchlichen Zeichen anzunähern, das Geografie und Geschichte, Landschaften und Leute formen, kam ich auf die Idee, mich einfach an Ort und Stelle umzusehen, anders ausgedrückt: das Land zu bereisen oder wieder zu bereisen. Der Stoff für dieses Buch besteht also zunächst aus den Erkundungen, die ich an verschiedenen Orten des französischen Staatsgebiets gemacht und vorwiegend deshalb ausgewählt habe, weil sie das Motiv in Schwingung versetzten, entweder weil sie für mich Kristallisationspunkte des inneren Gefüges der Nation zu verkörpern schienen oder, im Gegenteil, weil sie am Rande lagen. Ich möchte betonen, dass es ein inneres Gefüge ohne Rand nicht geben kann.

    In engem Bezug zu diesen Erkundungen entstand dieser Text zwischen Frühjahr 2008 und Herbst 2010. Die Idee, ihn zu schreiben oder zumindest etwas Derartiges zu versuchen, lag hingegen viel weiter zurück und hatte bereits eine lange Entwicklung erfahren, für die zwei Etappen entscheidend waren.

    Die erste Etappe reicht weit in die Vergangenheit zurück: Sie ist sogar die entfernteste Schwelle, an der ich die Idee des Buches aufkeimen sehe. Auch wenn ich es nicht mehr auf den Tag genau weiß, so ist doch sicher, dass sie sich zwischen 1978 und 1979 ereignete, also in den Jahren, in denen ich New York entdeckte und alles daransetzte, um möglichst lange dort zu bleiben. Jedenfalls war ich bereits einige Wochen dort, als in einer Wohnung, in der im Fernsehen Jean Renoirs Film Die Spielregel in der Originalfassung lief, dieser Film (ich erinnere mich lediglich an das Schwarzweißbild ohne jegliche Größe oder Rand) völlig unerwartet wie eine Offenbarung auf mich wirkte. Nicht, weil ich ihn damals entdeckt hätte (ich hatte ihn nämlich schon gesehen, dessen bin ich mir sicher), sondern weil ich durch ihn, durch diesen Film also, der zweifelsohne vor allem ein Kinoklassiker ist, zu meiner großen Überraschung die Offenbarung einer Zugehörigkeit und einer Vertrautheit erlebte. Dieser durch und durch französische Film, den ich mir in New York ansah, gab also ausgerechnet mir zu verstehen, der ich doch im Grunde solche Gedanken nie verfolgt hatte, dass seine verarbeitete Materie (die Jagd, der Nebel, die Sologne, das Schilf, die Gesichter und die Stimmen, vor allem die Stimmen) die meine war, oder dass ich sie zumindest, und diese Nuance ohne Besitzerangabe ist wesentlich, sozusagen mit jeder Faser kannte, besser oder gar schlimmer noch: dass ich von ihr abstammte.

    In diesen Jahren, also noch direkt im Anschluss an den Mai 1968 und all jenes, was dieses Ereignis für eine gesamte Generation bedeutet hatte, war das Denken natürlicherweise nach außen gerichtet, und die Idee der Nation an sich war für all diejenigen, die sich in dieser Bewegung ein wenig konsequenter engagiert hatten, praktisch tabu – von vornherein und ohne eingehende Überprüfung. Selbst ohne Fortführung des Aktivismus im eigentlichen Sinne ließ man sich anlocken oder fühlte sich von etwas weiter Gefasstem angelockt, in dem jede Art von Herkunft, auch wenn man sie respektierte, weit zurückgestuft wurde hinter dem, was die Form eines Aufbruchs oder eines Ausbrechens aus seiner Welt annehmen konnte. Daher war mein Erstaunen groß, als ich diesen Film in New York sah und folglich innerhalb einer solchen Aussteigererfahrung entdeckte, dass es für mich eine Gemütsregung der Herkunft geben konnte.

    Was ich in New York entdeckte, war natürlich nicht, dass ich Franzose war. Doch obwohl die Vorahnung existierte, dass diese Nationalität nichts rein Formelles war, sondern auch zahlreiche Inhalte besaß, hätte ich damals keinesfalls anerkannt, wie komplex sie waren und noch weniger, dass sie in meinem Inneren ohne mein Wissen einwirkten. Eben jenes unterschwellige, innerliche Einwirken, das mir meine Gemütsregung angesichts von Die Spielregel offenbart hatte. Sobald man aber in Renoirs Film etwas durch und durch Französisches erkannt hat, stellt man gleichwohl fest, dass alles, was man jenseits der Eindeutigkeit oder gar der Tautologie handhabt, rätselhaft bleibt. Mit welchem Recht kann man »durch und durch französisch« sagen? Mit welchem Recht kann man es von diesem Film und im Allgemeinen von einer Landschaft, einer Szene aus dem Alltagsleben, einem Erzeugnis aus dem Handel oder einem Buch behaupten? Hat dies überhaupt einen Sinn, eine Notwendigkeit, wo es doch so entmutigend ist, mit niederschmetternder Regelmäßigkeit einen ganzen Wust von Allgemeinplätzen hervorschießen zu sehen – von den schlimmsten, deren ausschließlicher Bezugswert die Ideologie ist (das »Land der Freiheiten« zum Beispiel) bis zu den lediglich zweifelhaften, die eine gewisse selbstverliebte Denkfaulheit verbreiten, von gastronomischen Meisterleistungen bis zu der Tatsache, die Franzosen seien Cartesianer?

    Ob ein Land, dieses Land, also so sehr es selbst ist, wissen wir im Grunde nicht. Sodann wird es unerlässlich, sich selbst dort umzusehen und zu verstehen, wie die Textur dessen beschaffen sein mag, was ihm eine Existenz verleiht, das heißt Eigenschaften, Eigentümlichkeiten, und zu sondieren, was es geformt, ausgeformt, deformiert hat. Eben weil manche glauben, dies existiere wie ein feststehendes Gebilde oder eine Essenz, und sich folglich anmaßen, Zertifikate auszustellen oder gar auszugrenzen (als ich dieses Buch verfasste, sollte ein »Ministerium für nationale Identität« ins Leben gerufen werden, eine Absurdität, die, wie zu erwarten war, eine Reihe von eindeutig fremdenfeindlichen Maßnahmen nach sich ziehen sollte), ist es notwendig, sich auf den Weg zu machen und an Ort und Stelle zu überprüfen, wie es darum bestellt ist. Diese Aufgabe fügte sich für mich in eine schlichtere und umfassendere Neugier, die sich aus einer anderen Feststellung ergab, nämlich, dass ich von diesem Land, das allem Anschein nach das meine war, im Grunde nur schlechte Kenntnisse besaß oder sie jedenfalls zu allgemein, zu schematisch oder zu konfus waren.

    Die Idee, eine Liste der aufzusuchenden Orte oder der einzuschlagenden Wege zu erstellen, kam mir, nachdem ich meinem (damals künftigen) chinesischen Schwiegervater einen Besuch abgestattet hatte. Diesen Besuch betrachte ich als zweite Etappe, den zweiten Auslöser, der mich zu diesem Buch führte. Wir befinden uns am Anfang der 90er Jahre in der Umgebung von Lyon. Damals arbeitete ich häufig in Lyon (eigentlich eher in Villeurbanne, am dortigen Theater TNP, mit Georges Lavaudant und seinem Ensemble), und da Gilberte, meine Frau, zu beschäftigt war und nicht zu ihm fahren konnte, schlug ich ihr vor, an ihrer Stelle ihren Vater in einer Reha-Klinik in der Umgebung der Stadt zu besuchen. Dieser Chinese, der aus der Provinz Zhejiang stammte (»Tschekiang« bleibt für mich, daran kann ich nichts ändern, die »richtige« Umschrift) und von dort in den 1930er Jahren eingetroffen und nach Ende des Krieges dann in Lyon sesshaft geworden war, hatte sich kurz zuvor einer Operation wegen eines Krebsleidens unterzogen, an dem er einige Jahre später sterben sollte, und befand sich deshalb in dieser Einrichtung. Obwohl dieses in Pollionnay am Rand der Monts du Lyonnais gelegene Haus kaum weiter als 20 Kilometer von Lyons Stadtkern entfernt war, stellte ich fest, dass die Fahrzeit dorthin mit dem Bus sowie das Umsteigen am Busbahnhof in Gorge-de-Loup in etwa so lange dauerte wie die Fahrt mit dem TGV von Paris nach Lyon. Als er mich erblickte, war die Überraschung dieses Mannes, den ich zuvor nicht benachrichtigt hatte, groß. Ich glaube, er freute sich sehr, und während meines Besuchs legte er eine gewisse Fröhlichkeit an den Tag. Er sagte sogar mit seinem starken chinesischen Akzent, die anderen Insassen seien »Trantüten«, weil sie nicht einmal Belote spielen könnten. Ich sehe ihn noch heute vor mir, mager, elegant, mit Augenbrauen wie Zhou Enlai, wie er mir zum Abschied leicht zuwinkte.

    Ich erinnere mich jedoch weniger an die Form des Gebäudes oder die Atmosphäre der Räume und Gänge, sondern vielmehr an die Eindrücke bei meiner Ankunft an diesem Wintertag auf der großen Terrasse, die einen weiten Rundblick auf die Landschaft mit ihren recht hohen Hügeln der Monts du Lyonnais bot. Obwohl ich eher mit einer Abfolge etwas bedrückender Bilder gerechnet hatte, die derartige Reha-Kliniken meistens auslösen – ein Greis, der sich in einem beigefarbenen, mit Grünpflanzen und Postern impressionistischer Gemälde verzierten Gang mühsam an seinem Rollator vorwärts schleppt, eine Gruppe alter Frauen im Morgenmantel, die angestrengt einen Kräuter- oder nach Pappe schmeckenden schwarzen Tee in einem Speisesaal schlürfen, in dem ein von niemandem beachteter geschmückter Weihnachtsbaum endlos vor sich hin glimmert –, befand ich mich inmitten einer Art Winterverklärung: Es war jedoch keiner von den Tagen, deren goldenes Licht die Tiefenwirkungen hervortreten lässt, sie dabei aushöhlt, und jedem Gegenstand für einen Augenblick lang das Aussehen gewährt, als sei die Zeit aufgehoben, sondern ein Tag, wie es sie ja noch seltener gibt, an denen das Zusammenspiel von Nebel und Sonne eine Art Emulsion ergibt, die einem Medium aus zerstäubtem Licht ähnelt, in dem alles zu wogen und mit einem Glorienschein umgeben zu sein scheint, und die Weitsicht, auf die man doch im Allgemeinen Wert legt, durch die heitere, ausgelassene, jugendliche und zugleich alterslose Bestätigung reiner Strahlung ersetzt wird.

    Was sich mir an diesem Januarmorgen aufdrängte und auch mit dem restlichen Besuch in keinen Widerspruch trat, war das Gefühl eines Orts der Genesung, einer Art volkstümlichen Pendants zum Zauberberg, ohne jedoch mit einer gedanklichen Anstrengung oder einer Reflexion aufzuwarten, sondern mit der Spontaneität und der Ungezwungenheit einer plötzlich vernommenen Musik. Nach dieser Verblüffung über die Evidenz dieses virtuellen Romans kam ich zu der Gewissheit, dass ganz Frankreich von derartigen Romanen gespickt sei und es deswegen verdient habe, neu bereist zu werden, nicht etwa, um mein Gewissen zu beruhigen, sondern weil sich aus diesen Momenten ein eindringlicher Widerhall der Wahrheit ergab. So kam mir die Idee, eine Liste jener Orte zu erstellen, von denen ich derartige Überraschungen erwarten konnte: Es waren die Orte selbst, die mir ihre Signale schickten, und dies taten sie umso eindringlicher, als ich öfter als früher, auch dank meines neuen Lehrauftrags (ab 1997) an der École nationale supérieure de la nature et du paysage in Blois durch das Land fuhr (eine Arbeit, von der man in diesem Buch so manches Echo vernehmen kann) und von dem Bedürfnis getrieben war, wie ein Musikschüler die Partitur, die ich vor mir hatte, zu entziffern.

    Wie ich es für mein Buch über Sprache getan hatte, in dem ich Sachbegriffe ausgewählt hatte, begann ich zunächst ungeordnet und improvisiert, dann koordinierter, wie ein Programm, eine Liste mit Orten zu führen, die es zu besuchen oder wiederzusehen galt und die sich dafür eigneten, ebenso viele Kapitel zu bilden. Die Reha-Klinik in Pollionnay war natürlich der erste von ihnen, doch letztlich bin ich nicht dorthin zurückgekehrt, in der Überzeugung, dass das, was ich dort flüchtig zu Gesicht bekommen hatte, an einem seidenen Faden hing, der seither gerissen war. Ganz unterschiedlich war übrigens das Schicksal der Orte, die auf dieser erweiterbaren und immer aufs Neue mit Streichungen versehenen Liste standen: Während manche tatsächlich zu (Entdeckungs- oder Wiederentdeckungs-)Reisen Anlass gaben und dann zu Kapiteln dieses Buches wurden, sind andere unterwegs verworfen worden. Vor allem jedoch haben andere, die anfangs nicht vorgesehen waren, sich aufgedrängt, eine Logik wie beim Übereinanderschichten von Dachziegeln – wobei das eine Kapitel das nächste nach sich zieht – hatte sich herausgebildet, sobald der eigentliche Schreibprozess begonnen hatte.

    Was die literarische Gattung anging, so bestand mein Wunsch, der sich allmählich klarer und deutlicher abzeichnete, schließlich darin, ein kaleidoskopisches Buch zu schaffen, das unterschiedliche Schreibgeschwindigkeiten in Gang setzt, in mancher Hinsicht einem Essay, zuweilen auch einem Logbuch, einer Erzählung, einer Abschweifung und zeitweise gar einem Prosagedicht und sonst noch allem Möglichen ähnelt, dem jedoch eine schonungslosere Vorgabe zugrunde liegen möge – nicht der Realismus natürlich (keiner glaubt mehr daran), sondern der Wunsch, dass die Sprachgestalt ganz unabhängig von ihrer Ausarbeitung so genau wie möglich dem von außen her diktierten Text entspreche, der von den angetroffenen Gegenständen herrührte. Das nicht auf Wörtern fußende Vorbild wäre hier die Fotografie mit ihrer indiziellen Substanz, und der kleine überallhin mitnehmbare Bildschirm von Digitalgeräten gehört in diesen Bereich. Eine bewegliche oder bewegte Tätowierung, die für das Schreiben dennoch eine Herausforderung ist, denn die Falle unter den Wörtern, die durch die Linearität von Sinnartikulierung immer gestellt bleibt, ist diejenige einer ungewollten rhetorischen Umarbeitung.

    Unterwegs holte mich die Geschichte mit ihren kleinen und großen Erzählungen, ihren einfachen Sinnblasen und ihrer steifen Brise ein und nahm eine Bedeutung an, die ich zunächst nicht vorgesehen hatte. Doch was auf diese Weise auf mich einströmte, war nicht die Geschichte aus Schulbüchern oder Reiseführern, sondern etwas, das man eine Geschichte der Spuren nennen müsste, in der die Gegenwart das Zutagetretende wäre. Sofern man die Gegenwart mit ein wenig Nachdruck betrachtet, erscheint sie letztlich immer als unendlicher und dennoch untiefer Raum, in dem mitunter weit zurückliegende Spuren ihres Entstehens wie durch einen nicht wahrnehmbaren Wiederaustritt langsam emporsteigen. Umgekehrt aber versinken die Signale, mit denen der Gegenwart all das beschieden wird, was sie auflöst und erneuert, allmählich in ihr, bohren sich in sie hinein und gelangen sogar weit darüber hinaus. So unternahm ich den Versuch, in der Weite einer Landschaft, die diese Gegenwart mal abfedert, mal beschleunigt, dieser wechselseitigen Bewegung aufzulauern und dabei im Vorbeigehen festzuhalten, was man die bewegliche Momentaufnahme eines Landes nennen könnte.

    2. Reusen, Flaken, Elger usw.

    Bordeaux, Maison Larrieu, Rue Sainte-Colombe Nummer 51, zwischen dem Glockenturm von Saint-Éloi und dem Cours d’Alsace-et-Lorraine. Jean-Louis Larrieu, der heutige Direktor der Firma – es handelt sich eigentlich um eine Fabrik – hört es nicht gern, wenn man von einem »Geschäft« spricht. Als solches kündigt sich dieses Stammhaus aber durch seine in den Schaufenstern zur Straße hin ausgestellten Artikel an und wirkt auf davor anhaltende Passanten ein: Denn alles dort, was man vor sich hat und worüber man mutmaßt, ist außergewöhnlich. Ich kenne jedenfalls nichts Vergleichbares in Frankreich oder Europa. Es handelt sich um eine Fabrik für Netze, Reusen und im weiteren Sinne für alles, was dazu dient oder dazu dienen könnte, lebende Tiere zu fangen oder anzulocken und zu sich zu ziehen: eine unerschöpfliche Ansammlung von Gegenständen, die mit Jagd und Fischfang zu tun haben (obwohl die Netze auch einige andere Funktionen erfüllen, zum Beispiel auf Baustellen) – Gegenstände also, die auf den ersten Blick keine Sympathie erwecken, sind sie doch direkte Ergebnisse des menschlichen Willens, zu beherrschen und zu dominieren. Ja, aber was sich schon von der Straße aus, von dieser Straße der Altstadt in Bordeaux, aufdrängt und ins Auge springt, ist eine von der Landschaft durchdrungene Wissenschaft, Strategien der List und des Dechiffrierens, nahezu unbekannte und geheime Affekte, gebunden an als Reviere empfundene und seit Jahrhunderten durchquerte Orte: Lockpfeifen, die Drosseln, Wachteln oder Wildschweine imitieren, Schmetterlingsnetze, Seile, Fangnetze und andere Werkzeuge für das Wattfischen, doch vor allem Netze und Reusen in allen Größen und Formen, mit großen oder kleinen Maschen, streckbar, biegsam, gelenkig.

    Für den Fischfang also, und nur dafür, gibt es in der Kategorie Netze Spiegelnetze, Flaken, Ringwaden, Senker und Wurfnetze und in der Kategorie Reusen, neben Gründlingssäcken, aus denen die kleinen Fische nicht mehr entwischen können (so etwas wie ein Nullpunkt der Reuse), sämtliche Varianten, die dieser oder jener Fischart angepasst sind (man fängt Aale nicht wie Neunaugen oder Tintenfische), und vor allem Garnschläuche, diese gelenkigen, mehrere Meter langen Reusen – an der Decke des Geschäfts aufgehängt wirken sie wie biegsame mathematische Skulpturen: luftige, für die Tiefen des Wassers bestimmte Gegenstände, die für sich selbst stehen könnten, aber nur beflissene und stille Diener der listigen Intelligenz sind, der Metis, und zwar einer bäuerlichen Metis, gebunden an eine Landschaft, in diesem Fall mehr oder weniger an die Umgebung von Bordeaux: Denn selbst wenn die Maison Larrieu und das Geschäft (mit einer Fabrik im Finistère) auf ganz Frankreich und gar darüber hinaus ausstrahlen, so verbreitet diese Jahrhunderte alte Netz-Manufaktur mit ihrer gesamten Geschichte und was sie an Legenden in sich birgt vor allem eine Kenntnis, die in nahen und bekannten, tausendfach durchwanderten Gebieten verankert ist, wo Süßwasser nie weit vom Meer entfernt zu finden ist und die Gironde, hier nicht mehr die Garonne und noch nicht der Ozean, das Mündungsgebiet und die Schleusenkammer dieses Gleichgewichts bildet.

    Diese Netze, Reusen und Garnschläuche erzählen jedoch vor allem von der Unendlichkeit der Struktur. Die Wiederholung der Maschen schreibt Formen in den Raum, die wie Versuche sind, ausgehend von festen Körpern Flüssigkeiten nachzuahmen. Um eben diese zu beschreiben, gab Salomon de Caus (nach dem in Paris am Square des Arts-et-Métiers eine Straße benannt ist) zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinem Buch einen wunderbaren Titel: Les raisons des forces mouvantes, also: »Die Ursachen für wogende Kräfte«. Nun sind es eben diese Ursachen, um die es hier geht, und es sind diese Kräfte, die es einst zu erkennen und zu messen galt, damit jedes Netz und jede Reuse mit einer exakten Form übereinstimmte. Aus einer Welt der glatten Wasseroberflächen mit geheimen Strömungen und eingebetteter Kühle erhebt sich dank dieser eingetauchten Strukturen der Gesang des Mathems, und beim Betrachten dieses Geflechts aus geschmeidigen oder straffen Linien denkt man zwangsläufig an die Perspektive, ebenfalls eine Art von Reuse, mit deren Hilfe die Maler versucht haben, das Sichtbare einzufangen: dasselbe Paradoxon eines konvergierenden Parallelismus, derselbe Wille des Erhaschens, dasselbe Versteckspiel, dieselbe Hoffnung, etwas zu erfassen. Und was diese unmittelbare Nähe erzählt, ist vielleicht zunächst die Sinnlosigkeit, die menschlichen Tätigkeiten in eine manuelle und in eine intellektuelle Seite aufzuteilen – denn die Metis ist ihrem griechischen Konzept zufolge das, was die beiden Seiten in einer einzigen Falte vereint, für welche die Hand eben die Faltstelle wäre.

    Hier soll keine simple Gleichung zwischen dem geometrischen Gitter eines perspektivischen Bildes und der Form einer Reuse, wo der gefangene Fisch genau auf dem Fluchtpunkt platziert wäre, aufgestellt werden. Einfacher wäre es zu sagen, dass in dem, was die Italiener einst die progettazione nannten, etwas Universelles liegt, also ein Raum, in dem man mehrere Positionsanzeiger frei bewegen und alle Anwendungsoberflächen variieren kann. Im Wasser und seinen »wogenden Kräften« wird dieser Raum zu einer biegsamen oder schwimmenden Perspektive und erzeugt für den Geist ein sehr markantes Muster.

    Dies kann man sehen und ahnen, wenn man die Schaufenster der Maison Larrieu betrachtet, und deshalb ist es auch nicht belanglos, sich daran zu erinnern, dass die besagte Netz-Manufaktur 1622 von Baptiste Guignan gegründet wurde. Als Soldat von Ludwig XIII. hatte er während der Belagerung von La Rochelle Zeit totzuschlagen und sah den Fischern dabei zu, wie sie gekonnt ihre Netze woben. Bei seiner Rückkehr nach Bordeaux kam er auf die Idee, in der Rue des Ayres eine Werkstatt für die Herstellung von Netzen zu eröffnen, ganz in der Nähe der heutigen Adresse in der Rue Sainte-Colombe, zu einer Zeit, als im Hafen geschäftiges Treiben herrschte. Mit dieser Jahreszahl befinden wir uns ganz in der Nähe von Salomon de Caus und auch ganz in der Nähe des großen perspektivischen Maschenwerks. Fluchtpunkt und Kreuzstich: Was sich jenseits der Stickerei des Raumes und der Familiengeschichte der Firma aufbaut (eine entfernte Nachgeborene von Guignan, die 1895 einen Larrieu heiratete, von denen direkt die derzeitigen Besitzer abstammen), ist ein wundersamer Schmelztiegel, in dem sich mathematische Modelle mit Watt-Gerüchen vermischen. Dort gestaltet die Geduld von Fischern, die zugleich Bauern sind, ebenso ausgeklügelte Gegenstände wie die mazzocchi von Paolo Uccello, mit denen die lange Geschichte eines Vertrauensverhältnisses mit der Landschaft geschrieben wird. Zwischen dem vielleicht zerstreuten Blick des Baptiste Guignan auf einem Kai von La Rochelle und der heutigen Schaufensterfront der Rue Sainte-Colombe tritt eine ganzes Spektrum von Handgriffen vor, die von den Formen und den aufeinanderfolgenden Gleitbewegungen der Natur herbeigerufen werden, eine ganze Mimetik, eine ganze Bildung: die Entstehung eines zivilisatorischen Gewebes, dessen Knoten dank des Hauses Larrieu und seiner Gegenstände dieser besondere Punkt der Stadt Bordeaux ist.

    Schwärme kleiner silbriger Fische, die in Windeseile davongleiten, gemächliche Wassersäume, abgeschirmt von Strömungen, kreisende Wirbel, plötzlicher Stillstand und Saugwirkungen, Kriechbewegungen von Krebsen und der von Elgern zerfurchte Wattsand, dieser Art von kleinen Forken, mit denen man Muscheln ausfindig macht, Setzkescher oder Körbe voll feuchtem, in der Sonne schimmerndem Glibber – all das, das lebendige Zucken der Landschaft, ist in das Gefühl eingebunden, das man spürt, wenn man die Rue Sainte-Colombe 51 betritt. Ich erinnere mich: an die drei verflochtenen Lachse, die die Initialen LF einrahmen und über denen eine Krone prangt, das Emblem des Hauses; an den Parkettboden des Geschäfts mit den Netzen, lieferbereit in durchsichtigen, mit Etiketten versehenen Plastiktüten; an das kleine, ziemlich vollgestopfte Büro hinter der verglasten Zwischenwand (das Modell eines Thunfischerboots, dessen ausgebleichte blaue und rote Segel von außen zu sehen sind, ein Stadtplan von Bordeaux und eine Frankreichkarte inmitten alter Ordner, wie in einem Notariat, und moderne, aber nicht brandneue Computer); an die Materialien der Seile, die riechenden aus Hanf, Leinen oder Sisal, die bunten oder glänzenden aus synthetischen Geflechten (Nylon, Polyethylen, Polyamid); ich erinnere mich auch an den gelockerten Krawattenknoten des liebenswürdigen Besitzers, der mir ohne weiteres in der Köderabteilung kurz so manchen Artikel vorführte; und schließlich an den Katalog der Manufaktur, der vor allem ein Katalog der Namen und der so direkten Nähe ist, die er zwischen dieser gesamten Fischerei- und Jagdwissenschaft und der Grausamkeit enthüllt. Hier finden sich nämlich nicht nur Netze, sondern auch Fallen mit Klemmen und Halsschlingen in Einklang mit dieser unentwirrbaren und rätselhaften Verbindung zwischen Land und Blut, die zugleich abschreckt und fasziniert und deren gesamte, in diesem Geschäft vermittelte Wissenschaft das Ergebnis ist.

    Groß ist die Bandbreite der Gefühle zwischen der mathematischen Schönheit dieser mächtigen, an der Decke hängenden Reusen und dem Anblick zermalmter Gelenke in Fallen, aber so ist und muss zweifellos der Maßstab sein, nach dem man ein Land kennt und empfindet: nicht wie einen friedlichen Katalog von Erinnerungen und Bräuchen, sondern wie ein kompliziertes und wirres Knäuel, in dem sich Epochen, Affekte und Dimensionen miteinander vermischen wie hier Hanf und Nylon, der kleine Kescher und der große Senker, das Entzücken und das Grauen. Sodass man sich also beim Wiederhinaustreten auf die Straße im Zentrum von Bordeaux ein wenig anders fühlt in dieser Stadt: Nachdem man der blutigen Seite der Nahrungssuche, einer Welt erbarmungsloser Jagd überlassen war, hebt man den Blick zu den fast durchweg außergewöhnlich schönen Gebäuden dieses Viertels und kann nicht anders, als die Verbindung zu sehen und sich die Erkenntnis von Walter Benjamin wieder in Erinnerung zu rufen, dass nämlich die großen Kulturzeugnisse auch Dokumente der Barbarei waren – eine Erkenntnis, die in ihrem Fundament die Ideologie des ethnozentrierten Fortschritts auflöst. Ihren Überraschungseffekt aber muss man wieder auffrischen, damit er wirksam bleibt: Nichts ist weniger barbarisch, das versteht sich von selbst, als die Rue Sainte-Colombe, vor allem, weil sie sich zu einer Art Schallloch (oder Reuse …) öffnet, den man nicht als Platz benannt hat, der jedoch alle Eigenschaften davon hat, angefangen mit den Caféterrassen der Gebrüder Apollinaire, wo man sich in der schönen Jahreszeit setzen und ein Gläschen Wein oder sonst etwas trinken kann (aber wie könnte man in Bordeaux »sonst etwas« trinken?).

    Die Form der Straße, die sich gleich nach der braun-roten Schaufensterfront der Maison Larrieu etwas weitet, erklärt sich offenbar daraus, dass sie den Umrissen der ehemaligen Kirche Sainte-Colombe folgt, nach der sie benannt wurde, von der aber nichts weiter verbleibt als diese Form, eine entfernte Spur der Stadt, die sich in diesem erstaunlich weitläufigen Labyrinth hinter der Abfolge der Fassaden entlang der Garonne festgesetzt hat. Von Les Chartrons bis Saint-Michel scheint es alle möglichen Arten des Wohnens und der Stadtformen abzuspulen, von der nüchternsten bourgeoisen Kompaktheit bis zur buntesten Improvisation eines Viertels von Zuwanderern (früher Spanier, heute Maghrebiner). Hier aber handelt es sich um eine andere Geschichte, jene von Bordeaux mit allen vergessenen, begonnenen oder kommenden Erzählungen – eine Stadt, eine ganze Welt, das heißt diese Unermesslichkeit, die man dennoch mithilfe eines Plans in den Händen halten kann, wobei die Toponymie sogleich den Roman auslöst, anstatt ihn zu besänftigen: Allées de Tourny, Rue Judaïque, Rue de Cursol, Rue Esprit-des-Lois, Pont de Pierre … Diese Namen hören sich an – und manchmal trifft es zu – wie Haltestellen, und alles könnte von ihnen ausgehend dahingleiten und sich in weite Gefilde aufmachen, in die man Einheimische wie auch die berühmten Verbannten bestellen würde, die hier Zuflucht fanden (Hölderlin und Goya), aber das eigentliche Thema – fast muss ich es mir in Erinnerung rufen – war ein anderes: ein Ort, lediglich ein einziger Ort, mitten in der Stadt, ein ländliches Laboratorium, ein Konservatorium für Verfahrensweisen, eine Fabrik.

    3. Le Bazacle

    Eine Fabrik … Vielleicht könnte man Le Bazacle so nennen, diese Art Staudamm zwischen dem Pont Saint-Pierre und dem Pont des Catalans in Toulouse, dort, wo die Garonne unendlich breit zu werden scheint. Was einst ein Mühlendamm war, speist heute ein kleines Wasserkraftwerk, das man besichtigen kann, und wo eine Lachstreppe mit einem Observatorium errichtet wurde, von dem aus man diese Fische angeblich sehen kann. Nach Bordeaux ist Toulouse eine andere Welt: Diese beiden Städte, die von Weitem betrachtet in diesem viel zu vagen Gebilde Südwestfrankreich ein Paar bilden könnten, stehen in Wirklichkeit in völligem Gegensatz zueinander. In Bordeaux von Toulouse zu sprechen kommt einem Verstoß gegen den guten Geschmack gleich, und in Toulouse von Bordeaux zu sprechen ist fast so etwas wie ein Affront. Es besteht kein Hass, aber die beiden Städte ignorieren sich oder ziehen es vor, sich zu ignorieren, was einfacher ist. Keine Gemeinsamkeiten zwischen Ziegeln und Stein oder dem ländlichen Umfeld, das Toulouse prägt, und der leichten Meeresbrise, die durch Bordeaux weht. Und dennoch ist es derselbe Fluss, der durch die eine und an der anderen vorbei fließt, es ist die Nähe zum selben Land, Spanien, die auf ihre Geschichte abfärbt. Doch mir geht es um genau diesen Fluss, den Fluss, der von den Pyrenäen herabfließt, nach einem weiten Ästuar in den Ozean mündet und die beiden Städte verbindet, ob es ihnen gefällt oder nicht. Also eine Logik der Fischerei oder der »wogenden Kräfte«, jedenfalls in Entsprechung zu dem Wissen der Lachse, das unermesslich ist – lassen Sie es mich näher erklären.

    Das Leben der Lachse bildet einen sich über Jahre hinweg erstreckenden Zyklus, der sie von ihren Laichgebieten im Gebirge weit flussaufwärts bis auf hohe See (sehr weit, tausende Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt) führt, bis sie dann mit einer verblüffenden Genauigkeit wieder an den Ort zurückkehren, an dem sie zur Welt kamen. Dort bleibt ihnen nichts anderes als zu sterben, indem sie die Eier ablegen, aus denen ein neuer Zyklus entsteht, und so weiter, bis ins Endlose. Unlängst wurde entdeckt, dass die außergewöhnliche Entwicklung ihres Geruchssinns den Lachsen ermöglicht, unfehlbar die genaue Stelle des Wildwassers wiederzufinden, an der sie geboren wurden. Jedenfalls faszinieren dieses außergewöhnliche Erinnerungsvermögen und dieser Energieaufwand, mit dem sie trotz aller Hindernisse die Flussläufe bis zum Ort ihres Todes hinaufschwimmen, zugleich jener ihrer Wiedergeburt und des Fortbestehens ihrer Art. Die extreme Regelmäßigkeit dieses Zyklus (den man präziser beschreiben müsste, denn ebenso faszinierend ist für sich genommen die Lachswanderung stromabwärts, die sich in verschiedene Abschnitte aufgliedert, je nach Größe des Fischs und des damit altersbedingt veränderten Nahrungsbedarfs) ruft wie alle Regelmäßigkeiten und Kreisläufe der Natur, wenn man sich mit ihnen beschäftigt, so etwas wie Benommenheit hervor. Dort, wo unumschränkt zu herrschen scheint, was man einst unter dem Begriff »Instinkt« zusammenfasste, stellt sich ein beeindruckendes Gefühl der Freiheit ein – der Freiheit nicht im Sinne des Umherirrens –, und es kann einem der Gedanke kommen: Leben die Fische in Freiheit oder festigen sie dank ihres Wissens kontinuierlich ihren Willen, einem Fatum ähnlich – die durch das Leben aufgewandte Energie erzeugt Kielwasser, regelmäßige Wege, an denen die Räuber nur noch zu warten brauchen, still und angespannt: Bären (die mit einem Tatzenhieb den langen Lachszyklus unterbrechen) oder Menschen.

    Bekanntlich stammen die meisten der heutzutage verzehrten Lachse (und es werden enorm viele verspeist, besonders in Frankreich, das ist eine Zeiterscheinung) aus Zuchtbetrieben, doch die Existenz von Wildlachsen auf hoher See und eher noch in Gewässern des Festlandes, je nach Kapillarität der Süßwasserwege, ändert die Gesamtlage und verwandelt die Wahrnehmung der Landschaft. Deshalb, und jetzt komme ich auf sie zurück, schafft die Fischtreppe Le Bazacle, die mitten in der Stadt in Toulouse angelegt wurde, damit Lachse (aber auch Maifische, Forellen, Aale) die Garonne hinunter- und hinaufwandern können, eine Öffnung, einen Durchbruch: eine Luftzufuhr direkt im Wasser, eine Kommandozentrale für Wasserblasen, eine Startrampe – zumal alles so angelegt ist, dass man unter den Wasserspiegel hinabsteigen und durch ein dickes Bullauge beobachten kann, was sich ereignet oder vorbeizieht: Meistens ist es nichts, nichts als das direkte und spürbare Agieren der wogenden Kräfte, also ein Spritzen und Kreisen ohne Unterlass, fixiert auf die Vorstellung, dass hier wohl eines schönen Tages etwas vorbeiziehen wird (was tatsächlich erwiesen ist, wie ein Zähler bestätigt). Dies bewirkt, dass diese Fischtreppe sich in eine Art Werkstatt der Kontemplation verwandelt – einen Spähposten, auf dem man erwartet, etwas vorbeiziehen zu sehen, aber nur vorbeiziehen, etwas Quecksilbriges, wirkliche Lebewesen, an dem man jedoch vor allem vor reinen Vorstellungen sitzt, im Immanenzplan eines Kommens, das sternförmige Blasenwolken freisetzt.

    Gleich nach meinem Besuch der Fischtreppe von Le Bazacle habe ich versucht, diese sonderbare, zugleich platonische und doch sinnliche Werkstatt in einem Gedicht zu beschreiben, aber hier möchte ich vor allem festhalten, dass sie sozusagen im Flussinneren das absolute Gegenteil einer Reuse bildet – einen Ort, an dem diejenigen, die vorbeiziehen, weder gefangen noch gepackt werden, einen Ort des reinen Sehens, wo die ungestörte Fließbewegung, sogar vom Ufer eines Staudamms aus bewundert, der eigentlich deren Negation ist, in ihrem Element ist und uneingeschränkt dahinströmt. Mir liegt die Vorstellung fern, mithilfe des Gegensatzpaars Fischtreppe und -reuse Toulouse und Bordeaux gegenüberzustellen, für die es schon genug Kontroversen gibt, doch was mich an diesem Unterschied interessiert, ist der Gegensatz zwischen zwei Stilen und vielleicht sogar, fast schon im fernöstlichen Sinne, zwischen zwei Wegen: dem Weg des Beutezugs, auf dem sich die Metis vollzieht, und dem des Lebenlassens und der contemplatio, innerhalb derer sich die List, die selbstverständlich fortbesteht, es nur aus Rücksicht auf das betreffende Ökosystem tut. Es gibt sicher einen Punkt, an dem diese beiden Wege, die alles zu unterscheiden scheint, zusammenlaufen, und dies wäre eben ein Punkt (oder eine Linie) der Nicht-Gewalt, die von der Landschaft induziert wird, in freiem Lauf des Wassers.

    4. Die Reise der Fève

    In der Hand halte ich die Fève, die kleine Figur aus dem Dreikönigskuchen, die mich zwei Abende zuvor bei meinen Freunden im Viertel des Amphitheaters in Arles zum König gemacht hat. Jetzt bin ich im Wald, am Ende des Wegs, der sich von Le Hohwald aus am Flüsschen Andlau bis zum Wasserfall entlangschlängelt. Dort gibt es einen Holzsteg, der über das reißende Gewässer führt und wie ein Balkon über den Wassersturz blickt. Die Figur ist die ganze Zeit über in meiner Tasche geblieben, sie hat diese Reise mitgemacht, und hier will ich von ihr erzählen. Vor dem Spritzen und Wogen der Kaskade, in ihrem Getöse zwischen den Tannen, in diesem Tumult aus Wasser und Fels, eingebettet in die grünen und fuchsroten Tiefen des Vogesenwaldes, habe ich die Eingebung, denke ich, sehe ich, habe ich die Eingebung einer Erzählung, in die ich mich nicht einfügen kann, die es aber zumindest zu streifen gilt – einer Erzählung oder eher noch eines Auszugs dessen, was Novalis den »kolossalen Roman«³ genannt hat. Dieser Ausdruck hat sich, seit ich ihn vor langer Zeit in den Jahren meiner Ausbildung (ebenfalls in diesen Wäldern) entdeckt habe, immer vor die Dinge geschoben, sobald diese anfingen, immer schneller dahinzuflitzen und dabei so etwas wie Überblendungen oder Gleitbewegungen zu bilden, fortgerissen durch einen Dominoeffekt, der Hierarchien und Kategorien umwarf – ein ungeordnetes Einströmen, ja, gewiss, nun aber in der sonderbaren Verdichtung einer Zugreise von der Provence ins Elsass: zweifellos nichts Außergewöhnliches, und wenn der »kolossale Roman« in etwa einem gigantischen Strohballen ähnelt, dann gleicht diese Reise nichts anderem als einem Halm, einer winzigen Sequenz. Aber der »kolossale Roman« besteht eben vielleicht weniger in einer massiven Unermesslichkeit als in dem außerordentlich greifbaren Gefühl einer Unermesslichkeit in der Sequenz selbst, sei sie auch noch so winzig.

    Ich sitze im Zug und habe mich für langsame Verbindungen entschieden, diejenigen also, bei denen man Landschaften in Geschwindigkeiten durchquert, die weniger flüchtige Beobachtungen ermöglichen, als sie einem von Hochgeschwindigkeitszügen aufgezwungen werden. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, alles zu notieren, was darauf hinausläuft, alles zu verlieren, nicht weil die Wörter hinterherhinken, sondern weil jede aus der Bildsequenz ausgeschnittene Parzelle der Realität eine Welt ist – daher ist hier nicht der Roman zu lesen, sondern nur sein Schema: Rue des Arènes, der Erzähler geht die Treppe der Fotoakademie hinauf, es ist Nacht, und er darf nicht von seinem ganz präzise vorgezeichneten Weg abweichen, der zu den Gastzimmern unter dem Dach hinauf führt, sonst könnte er die Alarmanlage auslösen (er ist es gewohnt, doch diese Vorschrift modifiziert den gesamten Raum, indem sie die Zeit komprimiert. Etwas kommt näher und erzeugt Leere, die breite Treppe mit schmiedeeisernem Geländer im Halbschatten ist die Kulisse für einen Film). In seinem Zimmer angekommen, öffnet er das kleine Fenster direkt über den Dächern der Stadt, das dem Blick ermöglicht, bis zur Rhône zu schweifen. Eine dunkle Wassermasse scheint in einer unermesslichen Stille vom Horizont zu kommen, wo große Schiffe, die am Kai liegen, ihre Lichter flirren lassen, es sind Ausflugsschiffe, die nur im Sommer in Betrieb sind. Es genügt aber, dass in der Nacht, in der Klarheit der Nacht, mit der entfernten Schwerfälligkeit der Hügel die Gleichung mit zwei Unbekannten geschrieben wird, nämlich Erde und Wasser. Man könnte meinen, die eine breite sich nur am anderen aus, ohne zu ihm zu sprechen, und am Rand dieser Stille hätten Menschen sich erdreistet, ihre Häuser hinzustellen. Diese Stadt, die von dem Fluss zuweilen überflutet wird, weiß es, aber sie hat sich dennoch so an ihm niedergelassen, eingeschmiegt und exponiert in einer großen Biegung. Vom Viertel des Amphitheaters beherrscht man all dies ein wenig, diese gesamte Horizontalität, und der Labyrintheffekt erfährt dort eine Spannung, die ihn mindert. In diesen Straßen im Winter spazieren zu gehen und dabei den Schritt zu beschleunigen, löst mit Leichtigkeit einen Taumel aus, und obwohl Arles nicht sehr groß ist, ist es immerhin städtisch und sogar ein aus weiter Ferne kommendes Absolutum, mit prachtvoll schlichter Architektur, zuweilen fast nach Art Albertis, errichtet mit einem goldgelben Stein, der in seiner eigenen Körnung eine Weiträumigkeit aufzuweisen scheint.

    Es beginnt also hier, wenn ein Reisender in der Winternacht … Ein Santon, eine provenzalische Krippenfigur, der das Gedächtnis unter einem sehr hohen Himmel in Bewegung versetzt. Die kleinen gelben und weißen Leuchten flackern hier, genau wie Van Gogh es gesehen hat – man könnte meinen, dass die Stille der Nacht ein Klirren ist. In der Provence ist der Dreikönigskuchen eben kein flacher runder Kuchen, sondern ein kronenförmiger, mit kandierten Früchten garnierter. Am Vortag hatte ich meinen Freunden eine richtige Galette mitgebracht, und in ihr war diese Fève, eine richtige Fève und keines der üblichen Figürchen (kleine glatte und sogar knallbunte Miniaturobjekte in allen erdenklichen Formen, vom Jesuskind bis zum Motorroller oder zur Geisha). Hier aber hatte sie eine feste und glatte Oberfläche, wie Leder, was angenehm anzufassen ist, und aus diesem Grund, gewiss auch als provisorischer Talisman, hatte sich jene, mit der ich zum König geworden war und die mir überlassen wurde, also in meiner Tasche befunden und war dort geblieben – bis zu dem Moment auf dem Steg oberhalb des Wasserfalls, dem Moment im Wald, weit, sehr weit entfernt, denke ich, von Arles und der Rhône, und sogar in einer anderen Welt oder auf einer anderen Seite der Welt – und anstatt des Königstitels der Kindheit, der einem durch eine Krone aus goldener Pappe zufällt, hatte dort, was mir als Königreich zuteilwurde, in meiner Hand Platz, das verstand ich augenblicklich. Es war genau dieser Augenblick, dieser Gegenstand, wie er sich in diesem Augenblick anfühlte – eine Kühle. Und alles, was er hier nun enthielt und nur für mich enthalten konnte, war die Verdichtung oder der Kondensationspunkt einer Erzählung, ihr Schlusspunkt, dort, vor dem Wasserfall, in der objektiven Freude der Gischt und der Wasserperlen, und ich konnte sagen, dass ich angekommen war – aber nicht »zu Hause«, so vertraut mir die Gegend von Le Hohwald auch war, doch dort, nur dort, das heißt in einer Kerbe oder an einem Haltepunkt – in einem Einschnitt.

    Ja, und genau das sollte man sagen: dass es weniger ein »Zuhause« gibt als ein kontinuierliches Gleiten, das hin und wieder und unregelmäßig von Haltepunkten gekennzeichnet wird – Augenblicke, die vom Tag oder der Nacht in weite Ferne geworfen werden und die dann in der Erinnerung weiterflitzen. Ganz unaufdringlich behauptete sich all dies wie von allein auf diesem Steg: die Hand, die in der Tasche über die Fève strich, es war wie ein gesetztes Zeichen, ein Ruhepunkt und das Endziel für diese eintägige Reise. Und was könnte ich jetzt anderes tun als die Wörter so gut wie ohne Korrekturen aus dem die ganze Zeit über gewissenhaft geführten Heft abzuschreiben, nach meinem Beschluss,

    1) mich von Arles nach Barr (im Süden von Straßburg) aufzumachen – wo man mich am Bahnhof abholen sollte, um mich nach Le Hohwald hinaufzufahren – und dafür einen möglichst logischen Weg zurückzulegen, also zuerst von Arles nach Lyon und dann von Lyon nach Straßburg, obwohl die Strecke über Paris mit dem TGV am schnellsten gewesen wäre,

    2) alles zu notieren, was ich notieren konnte, ohne während der Fahrt zu lesen oder sonst etwas zu tun (außer irgendwann etwas zu mir zu nehmen und später gegen meinen Willen einzunicken), indem ich mich der Litanei der Eigennamen anvertraute, die der Sprechgesang jeder Reise sind.

    Bekanntlich genoss die Formulierung »Frankreich der zwei Geschwindigkeiten« großen Erfolg, vor allem bei Politikern. Mir missfällt sie seit jeher, zunächst, weil es keine zwei Geschwindigkeiten gibt, sondern eine viel weiter gefächerte Bandbreite, und zudem und vor allem, weil sie voraussetzt, dass die Langsamkeit eine Verspätung oder ein Handicap ist, das man wieder gutmachen müsste. Bei diesen Worten sehe ich sogleich, wie sich vor mir die manichäische Falle einer Lobrede auf die Langsamkeit auftut, mit der ganzen Abfolge von Werten (Lebensdauer, Bedachtsamkeit, Ruhe), die sich in ihrem Kielwasser abzeichnet. Auch die Geschwindigkeit ist ein Genuss (und die Art, wie der TGV durch die endlose Weite schießt, eine Überraschung), aber ohne sich mit der Last der Werte abzuquälen, ist festzustellen, dass es fortan auf denselben Strecken einen beträchtlichen Unterschied gibt zwischen jenen, die man mit Hochgeschwindigkeitszügen zurücklegt und denen, die man mit häufigen Zwischenstopps langsamer bewältigt. Der Unterschied zwischen den Bahnhöfen spricht übrigens für sich selbst, doch abgesehen von Gebäuden und Sichtweisen sind es natürlich hauptsächlich die Fahrgäste. Es sind die Menschen, die sich unterscheiden, und selbst wenn es in den Zügen des regionalen Verkehrs oder den Corail-Wagen noch eine erste und eine zweite Klasse gibt, müssen sie als interne Unterabteilung einer Art dritten Klasse verstanden werden – und ich erinnere mich hier an das Gemälde von Honoré Daumier mit dem eingeschlafenen Kind, den beiden Bäuerinnen und den Männern mit den schweren Hüten dahinter (es war in jedem Schulbuch abgebildet): Zwar ist es heute nicht mehr so, aber es ist dennoch vergleichbar, natürlich mit den heutigen Charakterzügen – statt der Bäuerin mit Korb eine Afrikanerin, die eine schwere, verstärkte Plastiktasche mit blaurotem Karomuster hinter sich herzieht, nicht dasselbe Kind wie das schlafende, aber eines mit Kopfhörern auf den Ohren und einem Rucksack anstelle der Holzkiste.

    19. Januar 2008

    Der Zug kommt in Arles mit 26 Minuten Verspätung an, womit ich den Anschlusszug nach Lyon verpasse und nicht zur vorgesehenen Zeit in Barr ankommen werde. Kurze Verärgerung, die sich schnell auflöst. »Man wird sehen« ist (wird) die goldene Regel.

    Provenzalisches Schilfrohr in der Sonne. Graues und zerdrücktes Stroh mit einigen wenigen gelben und grünen aufragenden Aufwärtsbewegungen.

    Der Geruch der Papierfabrik von Tarascon, die der Zug passiert. Er durchdringt alles und stört.

    Olivenhaine, Feigenkakteen, Pinien, Steineichen. Das Land der ockerfarbenen Kehlungen. Obstgärten, Winzerhäuschen, Strommasten. Überall hervortretende Felsen.

    Stühle aus gegossenem Kunststoff auf den Terrassen, in den Gärten zurückgelassenes Spielzeug, Holzkohlengrills, Ungeordnetheiten, Improvisationen, Serien.

    Die Durance ausnahmsweise mit ein wenig Wasser. Man erkennt in der Ferne die Brücke für den TGV über die Rhône und ihre Biegung, ihr rutschbahnähnliches Aussehen.

    Avignon, die Kulisse zwischen den Stadtmauern und dem TGV, zwischen Brache und Baustelle, Hinterhöfen, Kasernen. In der Entfernung die Goldene Jungfrau. Winterliche

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