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Warschauer Innenhöfe: Jüdisches Leben um 1900 – Erinnerungen
Warschauer Innenhöfe: Jüdisches Leben um 1900 – Erinnerungen
Warschauer Innenhöfe: Jüdisches Leben um 1900 – Erinnerungen
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Warschauer Innenhöfe: Jüdisches Leben um 1900 – Erinnerungen

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About this ebook

Eine Hommage an das jüdische Warschau und die Blütezeit des jiddischen Kulturlebens.

Abraham Teitelbaum erzählt von seiner Kindheit und Jugend in Warschau um 1900. In zehn Kapiteln, die jeweils einem Innenhof oder einer bestimmten Straße in Warschau gewidmet sind, schildert er das Alltagsleben, die Menschen, aber auch die politischen Ereignisse sowie soziale und kulturelle Aspekte jüdischen Lebens. Unter den bunten Charakteren finden sich fliegende Händler, Wasserträger, Böttcher, Scherenschleifer und Kesselflicker, Diebe und Messerstecher, Unterweltbosse, Hauslehrer, Rabbis, Revolutionäre und Sozialisten, Bankiers, Theaterschauspieler und Schriftsteller. In Teitelbaums Elternhaus proben Laienschauspieler und wecken in dem Jungen den Wunsch, selbst auf der Bühne zu stehen. Er nimmt ersten Schauspielunterricht bei dem großen jiddischen Schriftsteller Jizchok Leib Perez. Aus Liebe zur Literatur wird Teitelbaum als junger Mann zunächst Buchhändler und arbeitet später für eine hebräische Zeitung.
Abraham Teitelbaums Jugenderinnerungen erschienen 1947 auf Jiddisch. Nun ist dieses einmalige Zeugnis jüdischen Lebens erstmals ins Deutsche übersetzt worden.
LanguageDeutsch
Release dateOct 2, 2017
ISBN9783835341906
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    Book preview

    Warschauer Innenhöfe - Abraham Teitelbaum

    Anmerkungen

    Vorwort des Autors

    Zum heiligen Andenken

    an meine Schwester Perele,

    meine beiden Schwager Nachem und Joyel

    sowie ihre Kinder und Enkel,

    die in den Gaskammern der Nazis den Märtyrertod fanden.

    Möge Gott ihr Blut und das Blut aller anderen Märtyrer rächen.

    Warschauer Innenhöfe, jüdische Innenhöfe …

    Einst Festungen von tief verwurzeltem, durch viele Geschlechter aufgebautem jüdischen Leben. In unserer Zeit wurden sie in Schlachthäuser verwandelt, in denen Juden den Märtyrertod fanden und so den göttlichen Namen heiligten.

    Hofmauern, zwischen denen man einst die Freude und das Gelächter jüdischer Kinder in ihrem ärmlichen, aber liebevollen Zuhause hören konnte, legen jetzt stummes Zeugnis ab von den Todesqualen, unter denen unsere Liebsten und Teuersten Tag für Tag, Nacht für Nacht umkamen.

    Pflastersteine, über die jahrelang die lebhaften Schritte unserer Väter und Brüder, unsere eigenen oder der uns Nahestehenden, führten, sind nun vom Blut unserer Mütter und Schwestern getränkt, die durch einen finsteren Feind gequält wurden.

    … es zerreißt mir das Herz, wenn ich an euch denke.

    Und weil ich weiß, dass das jüdische Leben in euch ausgelöscht wurde, weil ich weiß, dass eure frühere Fröhlichkeit und Atmosphäre nicht so schnell zu euch zurückkehren werden, dass in Zukunft jüdisches Leben auf euch sicher nicht so aussehen wird wie einst, will ich von euch erzählen.

    Ich will von den einfachen, herzlichen und liebenswerten jüdischen Menschen erzählen, die in euch wohnten, ihre Kinder großzogen, ihr Leben führten, ein jüdisches Leben, mit all seinen Reizen und seinem Glanz, seinen Farben und Klängen.

    Von den alltäglichen, unheroischen Juden, die mit ihrem einfachen Volkssinn ein riesiges Reservoir an Volkskraft und Volksglauben geschaffen haben, welches uns in all den Jahren während all unserer schweren Prüfungen half uns aufrecht zu halten, will ich erzählen. Diese Kraft unseres Volkes, die es jetzt, in den schwärzesten Tagen unserer Geschichte, geschafft hat, das Wunder zu vollbringen, die einfachen Menschen in Helden zu verwandeln. Ihnen den unglaublichen Mut zu geben, mit bloßen Händen einem gepanzerten Feind Widerstand zu leisten, um den jüdischen Namen groß werden zu lassen und ihm Würde zu verleihen.

    Abraham Teitelbaum

    New York, 1947

    Vorwort

    zur deutschen Ausgabe

    Abraham Teitelbaum (alternative Schreibweisen möglich, z. B. Avrum Teitelboym, Taytelboym etc.) wurde am 1. März 1889 in Warschau geboren. Er erzählt in diesem Buch auf rührende Weise von seiner Kindheit und seinen späteren Erlebnissen im Warschau kurz nach der Jahrhundertwende sowie während der stürmischen und weichenstellenden Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der versuchten Revolution von 1905. Der Leser lernt eine Vielzahl bunter Charaktere kennen und erfährt vieles über längst in Vergessenheit geratene Lebensgewohnheiten im damaligen jüdischen Warschau. Am Ende der Lektüre wird er einige Beweggründe der Menschen kennen, die zwischen verschiedenartigen, mitunter radikalen Strömungen, wie dem Sozialismus oder Zionismus, die Wahl hatten. Er hat auch etwas über ihren Durst nach Kultur erfahren: Der Beginn der berühmten Blütezeit jiddischen Kulturlebens nimmt Gestalt ebenso an wie zahlreiche der beteiligten Persönlichkeiten. Viele der erwähnten Orte, Gebäude und Straßen sind verschwunden, dennoch kann man auch im heutigen Warschau noch gut auf ihren Spuren wandeln und in verschiedenen Institutionen den erwähnten Persönlichkeiten nachspüren.

    Die jüdischen religiösen Bräuche werden zum besseren Textverständnis in einer Fußnote erläutert. Diese Erläuterungen gehen dabei bewusst über den Rahmen des bloßen Textverständnisses hinaus, um den Leser ein wenig in die Vorstellungswelt des Judentums zu versetzen, die das Leben der in diesem Buch erwähnten Personen bestimmte.

    Zum weiteren Lebenslauf von Abraham Teitelbaum sei erwähnt, dass er, nachdem er, wie im Buch beschrieben, schon früh mit dem jiddischen Theater in Kontakt gekommen war, später eine erfolgreiche Karriere als jiddischer Schauspieler – vor allem als Charakterdarsteller, aber auch als Bühnenregisseur – verfolgte. Nach einer Anstellung als Souffleur im Jahr 1907, die ihn, auch dies wird im Buch beschrieben, nach Sankt Petersburg führte, erhielt er ein Jahr später seine erste Bühnenrolle. Er spielte während der folgenden Jahre in verschiedenen Ensembles und reiste nach Paris, London und Buenos Aires. Während des Ersten Weltkriegs hielt er sich in London auf, unmittelbar nach Ende des Kriegs verschlug es ihn in die USA, wo er Direktor des Schauspielstudios der Peretz-Gesellschaft wurde. Noch im selben Jahr zog er nach Minsk und arbeitete dort als Regisseur der dortigen »Dramatischen Gesellschaft«, auch in der »Wilnaer Truppe« (Wilna gehörte in jener Zeit zu Polen) war er tätig. Ab 1919 lebte er wieder in den USA und spielte an den Häusern in Chicago, Philadelphia und New York. 1928 / 1929 unternahm er eine Gastreise nach Polen, musste das Land aber infolge eines gegen ausländische Schauspieler gerichteten Erlasses wieder verlassen. Mit der Rückkehr in die USA im Jahr 1930 begann seine Filmkarriere mit Rollen in »Tsvay tekhter« – »Zwei Töchter« und in Jacob Mestels »Der vandernder yid« – »Der wandernde Jude« (1933), auch unter dem Titel: »Jews in Exile«; Teitelbaum hatte allerdings zuvor schon in Paris eine Filmrolle erhalten. Im Sommer 1932 unternahm er, auch dies erwähnt er im Buch, eine Reise ins Heilige Land, das damals britisches Mandatsgebiet war. Er arbeitete unter anderem als Essayist und Theaterkritiker und verfasste einige Werke in jiddischer Sprache über das Theater und die Schauspielkunst sowie eine Shakespeare-Biographie. Außerdem übersetzte er zahlreiche Stücke aus dem Jiddischen ins Englische.

    Abraham Teitelbaum starb am 16. Oktober 1947 im Alter von 58 Jahren in New York.

    Anmerkung zur Übersetzung

    Soweit möglich, ist die Transkription der jiddschen Namen und Begriffe der deutschen Sprache angeglichen. Da es keine »offizielle« Transkription der jiddischen Sprache gibt, wurde bei den bekannten Namen mitunter die geläufigste internationale Schreibweise übernommen, verschiedene Versionen wurden gegebenenfalls angegeben (dabei entspricht die Buchstabenkombination »kh« dem deutschen »ch«, »sh« dem deutschen »sch« und »z« dem stimmhaften »s«, wie in »Rose«). Einige Namen stehen in ihrer polnischen Transkription. Hierzu sei allgemein angemerkt, dass die Buchstabenkombination »sz« dem deutschen »sch« entspricht, »ck« getrennt gesprochen wird und das »z« ebenfalls wie das »s« in »Rose«. Desgleichen gibt es im hebräischen Alphabet, in dem die jiddische Sprache geschrieben wird, keine Groß- und Kleinschreibung; in der Transkription wird sie deshalb von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt.

    Darüberhinaus sei bemerkt, dass das Jiddische grob in zwei Dialekte unterteilt werden kann. Beispielsweise wird, was im polnischen Jiddisch wie »u« klingt, im litauischen Jiddisch »o« ausgesprochen, das litauische »u« wiederum wird im polnischen Jiddisch zu »i«, wobei das Schriftbild jedoch unverändert bleibt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass heute – vor allem in den USA – eine artifizielle Aussprache Verbreitung gefunden hat. Aus diesen und anderen Gründen kann die Transkription des Jiddischen in diesem Buch nie konsequent sein, sie ist immer nur eine von mehreren Optionen.

    Teitelbaums Erinnerungen »Varshever heyf« (Warschauer Innenhöfe) erschienen in der bedeutenden jiddischsprachigen Schriftenreihe »Dos poylishe yidntum«[1], die Mark Turkow in Buenos Aires seit 1946 für den Zentralverband der Polnischen Juden in Argentinien herausgab. Ihr Ziel war es, dem untergegangenen polnischen Judentum ein literarisches Denkmal zu setzen. Teitelbaums Buch erschien als Nummer 23 in dieser Reihe, inmitten der bedeutendsten jiddischen Historiker und Schriftsteller seiner Zeit, unter ihnen Chaim Grade, Schalom Asch, Rochl Korn, Y. Y. Trunk, Max Weinreich und Filip Friedman. Auch Mordechai Strigler, Elie Wiesel und Ka-Tzetnik publizierten in diesem Rahmen. In Tausenden von jüdischen Haushalten – von Montreal bis Paris und von Buenos Aires bis Melbourne, aber auch in Polen und in den europäischen Displaced-Persons Lagern – standen die schwarzen Bände mit der charakteristischen roten Schrift oder die Taschenbuchausgaben mit ihren dramatischen Einbandzeichnungen. »Dos poylishe yidntum« hatte bis in die fünfziger Jahre eine globale jiddische Leserschaft, und nicht weniger als 175 Bände erschienen insgesamt bis zur Einstellung der Reihe im Jahr 1966. Neben Erfahrungsberichten der Überlebenden aus den Lagern erschienen auch Bände zu kulturgeschichtlichen Themen, ebenso wie Romane.

    Unter den Büchern der Reihe befinden sich mehrere, die sich mit der Rolle des Theaters in der polnisch-jüdischen Kultur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen, ein Thema, das dem Herausgeber Mark Turkow besonders am Herzen lag, denn einige seiner Brüder waren Schauspieler, Regisseure und Dramatiker. Auch er selbst hatte eine Reihe von Artikeln über das Theater geschrieben. Unter den Werken, die der künstlerischen Szene in Polen einen großen Raum geben, sind die Memoiren von Zygmunt Turkow, die von dessen Schwester verfasste Biographie von Jizchak Katzenelson – und eben die Arbeit von Abraham Teitelbaum: Varshever heyf.

    Muranowski-Platz 19

    Der Hof am Muranowski-Platz Nr. 19 war kein sonderlich großer Hof, er war schmal und lang, so wie Hunderte andere seiner Art in diesem engen Stadtteil des jüdischen Warschau. Die eine Seite des Hofes, die am innersten gelegene, wurde durch ein zweistöckiges Gebäude gerahmt; die übrigen Seiten, die ihn umgaben, von einstöckigen Gebäuden. In der Mitte des Hofes stand eine kleine Pumpe, an der alle Bewohner ihr Trinkwasser holten. Diese diente auch als Treffpunkt für die Frauen, die dort in ihren freien Minuten ein Schwätzchen hielten, oder für die Kinder, die sich hier zum Spielen trafen.

    Der Hof war wie ein Spiegel seiner Bewohner. Stand in ihrem Leben alles zum Guten, war niemand krank, Gott behüte, und hatte sich bei keinem etwas Sonderliches ereignet, war der Hof lebendig, gemütlich und freundlich. Hatte aber jemand etwas Schweres durchgemacht, oder war jemandem ein Unglück widerfahren, so war der Hof menschenleer, sorgenvoll und düster. Denn die Not eines seiner Bewohner war immer auch die Not und Sorge des ganzen Hofes. Trotz aller Unterschiede und gelegentlichen Reibereien lebten die Menschen des Hofes wie eine große, weitverzweigte Familie zusammen. Man stritt und vertrug sich, mochte und hasste sich, so wie es einander sehr nahestehende Menschen zu tun pflegen, die fast wie aus demselben Fleisch und Blut sind.

    Und dieses familiäre Gefühl auf dem Hof hielten nicht unbedingt die Erwachsenen aufrecht. Die Väter ließen sich wochentags selten sehen. Sie waren mit der Sorge um das tägliche Brot beschäftigt, die sie früh hinaustrieb und erst spät wieder heimkehren ließ. Auch die Mütter waren den größten Teil des Tages entweder an die Küche gebunden oder mit Putzen und Waschen beschäftigt. In den ärmeren Familien unterstützten sie zudem auf verschiedene Art und Weise ihre Männer beim Broterwerb. Es waren die Kleinen, die Kinder, die das familiäre Netz knüpften und es über den ganzen Hof spannten. Sie hatten nahezu sämtliche Schranken zwischen einem Heim und dem nächsten abgeschafft; sie wussten, was in allen Töpfen gekocht wurde. Bis spät in die Nacht saßen sie bei den Nachbarn, bis man sie gutmütig wegschickte: »Geh nach Haus’, es ist schon spät, deine Mutter ruft dich …«

    Die Kinder waren es, die den Hof beherrschten, sie mochten sich oder waren sich feind, spielten miteinander oder schlugen sich, vertrugen sich wieder. Die Jungen gründeten kleine kolejkes[1], »Schlangen« genannt, die von Zeit zu Zeit Krieg mit anderen Jungenbanden von benachbarten Höfen führten. Und für uns Kinder – ich als Acht- oder Neunjähriger gehörte mit einigen Gleichaltrigen dazu – war der einfache Hof gar kein einfacher Hof. Für uns war er schon deshalb ein ganz besonderer Hof, weil er an den Muranowski-Platz grenzte, wo sich damals einer der wichtigsten jüdischen Marktplätze befand. In späteren Jahren ist dieser typisch jüdische Markt abgeschafft worden. Der Muranowski Markt diente Hunderten jüdischer Familien als Erwerbsquelle, die dort ihre Verkaufsstände, Marktbuden und Klapptische aufstellten. Der Muranowski Markt wurde auch einfach nur »der Muranów« genannt. Was wurde nicht alles auf dem Muranów gehandelt! Dort standen Buden, an denen Fisch verkauft wurde, Karpfen, Schleien, Hechte und Zander. Buden mit Broten, Hefezöpfen für den Sabbat, Striezeln,[2] Semmeln und Kaisersemmeln. Buden mit Eisentöpfen, Blechgabeln, Nudelhölzern, irdenen Durchschlägen, Schüsseln aus Ton und Tellern aus Porzellan. Buden mit Schnüren, Bändern, Knöpfen, Haken, Schleifen und Spitzen. Buden, an denen man verschiedene Stoffe, Seidenwaren, Cord, Kammgarn, bunte Baumwollstoffe und Cretonne[3] kaufen konnte. Buden, an denen es Äpfel, Pflaumen, Melonen, Birnen, Kürbisse, Stachelbeeren und Johannisbeeren gab. Fässer mit Heringen, Käse, Butter, Sauerkraut und Gurken. Buden mit Hunderten von Tischtüchern, Bettzeug, Hüten, Hosen und Eisenwaren. Jüdische Frauen mit breiten Schürzen und jüdische Männer mit Lederbörsen, darin Silber- oder Kupfermünzen, handelten dort, wogen ab, maßen und hantierten mit Geld. Von morgens früh bis abends spät, im Sommer wie im Winter, bei gutem und bei schlechtem Wetter hörte man dort das Stimmengewirr und den Lärm von Hunderten jüdischen Kunden, die aus allen umliegenden Straßen strömten, um Schnäppchen zu suchen, zu feilschen, die Waren zu durchstöbern, zu begutachten und zu kaufen.

    Für uns Kinder war der Muranów eine ganze Welt für sich. Der Platz war das Herz und das Zentrum von allem, was unser kindliches Bewusstsein erfassen konnte. Vom Muranów zweigten alle Straßen ab und führten weit, weit weg … Am Muranów begann die berühmte Nalewki-Straße, die lange jüdische Straße mit all ihren Geschäften und prall gefüllten Schaufenstern. Vom Muranów gingen auch die beiden Schmale Mile und Breite Mile[4] genannten Straßen ab, auf denen sich die Chaddurim,[5] die Talmud-Torah-Schulen und die Synagogen befanden. Hier begann auch die Pokorna-Straße, die zum Wojna-Platz führte und zum Bahnhofsgelände, den einzigen Grünflächen in der Umgebung, zu denen jeden Sabbatnachmittag die jüdischen Kinder hinausschwärmten, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. In der Nähe vom Muranowski-Platz befand sich auch die Bonifraterska-Straße, wo eine große Irrenanstalt stand. Dort stellten wir Kinder uns oft stundenlang hin und blickten zu den vergitterten Fenstern hinauf. Durch diese konnte man die sonderbaren Gestalten zwar kaum erkennen, dennoch erschreckten sie uns, zogen uns gleichzeitig aber auch an. Nicht weit vom Muranowski-Platz befand sich auch die Nowiniarska-Straße mit »Zirreles Festsaal«, dem großen Saal, in dem jüdische Hochzeiten gefeiert wurden. Jedes Kind träumte davon, einmal dort hineinzugelangen. Auf dem Muranowski-Platz befand sich auch der »cyrkuł«[6], die Polizeiwache, wo für gewöhnlich die Diebe, Radaumacher und Betrunkenen hingebracht wurden, was immer aufregend für uns Kinder war, und wo wir unsere Neugierde stillten. Sozialisten und Streikende hat man in diesen Jahren – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – noch nicht gesehen. Von solchen Dingen hörte man im jüdischen Warschau damals wenig.

    Für uns Kinder war es von großer Bedeutung, dass unser Hof auf den Muranowski-Platz hinausging. Die meisten unserer Nachbarn verdienten dort ihren Lebensunterhalt. So zum Beispiel Herr Hersch, der nur »der Mann von Frau Sprintze, der Kurzwarenhändlerin« genannt wurde. Man nannte ihn nach seiner Frau, nicht etwa weil sie die Brotverdienerin gewesen wäre, Gott behüte. Nein, er ging schon einem Beruf nach, er handelte, gemeinsam mit seinen drei Söhnen, mit Kurzwaren. Aber seine Frau war schwach und wehleidig, und Herr Hersch war in permanenter Sorge um sie, gab ihr in allem ständig nach, sodass es schien, als ob er nur von ihrer Gnade lebte. Herr Hersch war ein zarter Mensch, mit einem blassen Gesicht und einem kurzen, schütteren, blond-gräulichen Bärtchen. Bestimmt war er auch sehr gebildet,[7] obwohl er nie die Gelegenheit bekam, dies zu beweisen. Er war ständig abgeschlagen und blickte sorgenvoll drein. Auf dem Markt besaß er einen Stand mit Kurzwaren, wo er in großen, offenen Holzkisten jede Menge Bänder, Schnüre, Haarbänder, Kämme, Socken, Knöpfe, Häkchen sowie Steck- und Nähnadeln feilbot.

    Die Wohnung des Kurzwarenhändlers zog uns Hofkinder magisch an. Fast den ganzen Tag lang war es dort dunkel, denn die beiden kleinen Fensterchen, die auf den zweiten, kleineren Hof hinausgingen, wo sich der von allen geteilte Abort befand, ließen weder Licht noch Luft hindurch. Das Halbdunkel war ständig mit Sprintzes Stöhnen und Klagen über ihren ewigen Rheumatismus erfüllt. Abends aber nahm das armselige Zimmer, welches gleichzeitig als Schlaf-, Ess- und Gästezimmer diente, ein sehr verlockendes und äußerst liebenswürdiges Aussehen an. Herr Hersch pflegte in den großen Geschäften verschiedene Restposten aufzukaufen, alle möglichen, bunt gemischten Warenreste. Diese wurden in zugenagelten Kisten zu ihm nach Hause geschafft, um dort sortiert zu werden. Zu diesem Zweck wurden alle Kinder des Hofes mobilisiert. Rund um den großen Tisch, über dem eine helle Kerosinlampe brannte, saßen die versammelten Kinder aus der ganzen Nachbarschaft. Aus den Kisten wurden haufenweise ineinander verhedderte Sachen genommen, die wir Kinder dann entwirren und sortieren mussten. Und mit was für einem Herzklopfen und was für einer Neugier betrachteten wir jedes neu herausgenommene Knäuel! Als stamme es aus der verzauberten Kiste eines Magiers oder eines Trickkünstlers. Was konnte man da nicht alles finden! Bunte Seidenbänder, Haarnadeln und Schnürbänder. Zerknitterte Spitzen, die sich mit einem Haufen Häkchen und Stecknadeln verheddert hatten. Und plötzlich blitzte ein kleines, an den falschen Ort gelangtes, perlmutternes Messer auf oder sogar ein kleines elfenbeinernes Kinderkaleidoskop, in welchem man, sah man hinein, kleine Figuren erblicken konnte. Plötzlich rollte da eine kleine seidene Geldbörse heraus oder dort ein bunt angemaltes Kästchen, aus dem, öffnete man es, ein lachender Clown heraussprang. Die Kinderaugen leuchteten bei der Entdeckung solcher Fundstücke hell auf, ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens löste sich aus den jungen Kehlen, und man sortierte mit umso größerer Lust weiter die Knöpfe, Strumpfbänder und Nähnadeln. Die Leitung beim Aussortieren übernahmen immer die Söhne von Herrn Hersch, unter der Oberaufsicht der verhätschelten Sprintze. Inzwischen aber legte sich Herr Hersch todmüde, noch in seinen Kleidern, zum Schlafen. So saßen wir mit roten Köpfen und wie trunken bis spät in die Nacht beim Kurzwarenhändler und fühlten uns wie in einer verzauberten Welt.

    Wir Kinder liebten nicht nur die Wohnung des Kurzwarenhändlers, sondern auch ihn selbst, seine treuherzige Frau und seine Kinder, besonders den ältesten Sohn, mit Namen Lejser, der als Schönling des Hofes galt. Er war ein rothaariger Bursche von 16 Jahren, mit guten, wenngleich auch etwas stolzen Augen. Er war sehr begabt und hatte sich selbst das Geigenspielen beigebracht. An den Sommerabenden füllte sich unser kleiner Hof mit Lejsers sehnsuchtsvollen Weisen, die er sich zum größten Teil selbst ausgedacht hatte. Und nicht nur ein Instrument spielen konnte er: Lejser dachte sich auch jiddische Lieder und dazu passende Melodien aus. Ein solches Lied, an das ich mich erinnern kann, handelte von einem Talmudschüler, der zu seinem Bedauern gezwungen war, bei fremden Leuten seine Mahlzeiten einzunehmen. Eine der Strophen des Liedes ist mir im Gedächtnis geblieben:

    Wi ich ti sich nor in klois baam tisch setzen,

    hayb ich schoin un tzi trachtn

    wi neymt men tzi esn.

    Und nach jeder Strophe folgte der Refrain:

    Oy way, ich urim bucherl,

    oy way, ich urim bucherl.[8]

    Lejsers künstlerisches Talent und überhaupt sein ganzes Benehmen übten einen großen Zauber auf die Kinder aus. Alle Mädchen waren in ihn verliebt. Er war jedoch zu aufrichtig, um sich etwas darauf einzubilden, außerdem hatte er alle Hände voll zu tun, seinen Vater beim Broterwerb zu unterstützen.

    Auch der zweite Sohn, Chaim, half mit voller Hingabe, die schweren Kisten mit der Ware zum Markt hin und wieder zurückzutragen. Er war von einfachem Gemüt und im Vergleich zu seinem älteren Bruder eher schüchtern. Ein ganz eigener Charakter unter den Hofkindern war jedoch der jüngste Sohn des Kurzwarenhändlers, der rothaarige, zehnjährige Jossele, ein Stotterer, den man halb im Spott und halb mit Zuneigung bei seinem Spitznamen »Ko-Ko-Koselech« (»Zi-Zi-Zicklein«) rief.

    Der Spitzname war folgendermaßen entstanden: In jenen Tagen, als Polen unter der Herrschaft des Zaren stand, spielten dessen Kosaken eine wichtige Rolle bei der »Aufrechterhaltung der Ordnung« in Warschau. An jedem Sommerabend, wenn es Zeit wurde, die Verkaufsstände auf dem Muranowski Markt zu schließen, die Juden sich aber nicht beeilten, das Geschäftstreiben zu beenden, fiel auf dem Muranów eine Bande von Kosaken auf ihren kleinen, flinken Pferden ein und verjagte die Händler. Dies war keine geringe Plage, aber weil sich die Szenerie regelmäßig Abend für Abend wiederholte, hatte man sich bald daran gewöhnt und machte sich geradezu einen Spaß daraus. Die Kosaken knallten mit ihren Peitschen und stellten dabei eine beträchtliche Grausamkeit zur Schau, aber die Leute hatten gelernt, die Jäger auszutricksen. Sobald die Kosaken die Leute auseinandergetrieben hatten, kehrten diese schon bald wieder an Ort und Stelle zurück und zwangen so die Kosaken, sie abermals zu verscheuchen. Dies zog sich so lange hin, dass man fast glauben konnte, es handele sich um eine Art Spiel, bei dem es darum ging, wer zuerst müde werde. Schlussendlich leerte sich der Markt langsam. Während einer solchen Jagd war der rothaarige Jossele einmal atemlos in den Hof gestürzt und hatte sich bei dem Versuch, kundzutun, dass die Kosaken mit der Jagd begonnen hätten, stärker als gewöhnlich verhaspelt, und alles, was er herausgebracht hatte, war: »Die Ko-Ko-Koselech …!« Und so war er zu seinem Spitznamen gekommen.

    Ein weiterer Bewohner des Hofes, der sein Auskommen auf dem Muranów fand und der auf uns Kinder einen unwiderstehlichen Zauber ausübte, war der Topfhändler Fulje mit seiner Frau, genannt »die Fuljecherin«. Herr Fulje, ein Mann mit einem derben, vom Wetter gegerbten Gesicht, war kinderlos und seiner alten Frau sehr verbunden. Man sah die beiden nie allein, immer nur zusammen. Ihnen muss immer kalt gewesen sein, denn der alte, grauhaarige Herr Fulje trug sommers wie winters ein kurzes gefüttertes Jackett und ein Lammfellhütchen auf dem Kopf, und seine Frau war stets in ihr dickes Schultertuch eingehüllt, das sie an beiden Ecken hinter ihrem Rücken zusammengebunden trug. Ihr ganzes eigentümliches Leben steckte, wie es schien, ausschließlich in den irdenen Töpfen und Schüsseln, mit denen sie an ihrem Stand auf dem Markt handelten.

    Einmal in der Woche, an jedem Mittwochabend, fuhr ein großer, bis oben mit Töpfen vollgepackter Wagen auf den Hof. Die Töpfe wurden ausgeladen und vor Herrn Fuljes Fenster auf die Erde gestellt. Zum Ausladen setzte man auch die Kinder des Hofes ein, die auf dieses Ereignis nur gewartet hatten. Wir stellten uns dazu in zwei Reihen auf. Oben auf dem Wagen stand der Pole, der die Ware von irgendwoher gebracht hatte, und reichte uns die irdenen Gefäße herunter. Und wir Kinder stellten sie unter der Aufsicht von Herrn Fulje und seiner Frau auf dem Boden in schnurgeraden Reihen auf weichem Heu gebettet auf, damit sie nicht zerbrächen. Dabei musste man darauf achten, die großen Töpfe zu den großen, die kleinen zu den kleinen, große Schüsseln zu großen, kleine zu kleinen zu stellen, entweder nach Größe oder Machart oder sogar nach Farbe angeordnet. Wir hatten gelernt, dies sogar in der Dunkelheit zu unterscheiden. Am nächsten Morgen sah der Hof wie eine modern gepflasterte, vielfarbige Allee von Töpfen aus, zwischen denen man kaum hindurchgehen konnte, bis die ganze Ware schließlich hinaus auf den Markt getragen war, um dort über die Woche verkauft zu werden. Dieses Ausladen verwandelten wir Kinder in ein höchst fröhliches Unterfangen, das seinen Teil dazu beitrug, eine familiäre Atmosphäre auf dem Hof zu schaffen.

    Ebenfalls ein für uns Kinder sehr interessantes gemeinschaftliches Unternehmen waren die Donnerstagabende im Haus des Bäckers, der am Hof wohnte. Er hatte nur eine kleine Bäckerei. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Hausherr überhaupt noch lebte, wir bekamen ihn nie zu Gesicht. Die Bäckerei leiteten die beiden schönen Töchter und der ältere Sohn. Sie lebten sehr zurückgezogen, und die ganze Woche hörte man nichts von ihnen. Nur selten hatten wir das Glück, einmal in die Bäckerei selber hinunterzusteigen, dort wo die halbnackten, mehlbestäubten Bäckergesellen über den Trog gebeugt standen und den Teig kneteten oder die Hefezöpfe flochten.[9] Jeden Donnerstagabend jedoch mussten die Möbel in der großen Stube an die Wände gerückt und auf dem leergeräumten Fußboden die großen heißen Hefezöpfe und Striezel, die die Bäckergesellen aus der Backstube

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