Der Feuerengel
By Almuth Link
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Almuth Link erzählt voller Melancholie von einem Leben am Fluss. Ihr Roman ist eine Hommage an den Main und die Menschen, die sich an ihn verlieren.
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Der Feuerengel - Almuth Link
Almuth Link
Der Feuerengel
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2005 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Satz: Kerim Demir, Sandra Diepolder, Societäts-Verlag
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst
Schutzumschlagabbildung: Getty Images
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-140-3
Nach dieser Sintflut
möchte ich die Taube
und nichts als die Taube
noch einmal gerettet sehn.
Ich ginge ja unter in diesem Meer!
flög’ sie nicht aus,
brächte sie nicht
in letzter Stunde das Blatt.
(Ingeborg Bachmann)
Vorwort
G
estern habe ich nun endlich das Tagebuch hervorgeholt, das Tagebuch von Corinna und mir. Die letzte Eintragung stammt vom 26. September 1969. Damals war ich 31.
Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Turbulente Jahre mit viel Arbeit, mit angespannten Kliniktagen und unruhigen Nachtwachen, mit großen Reisen und interessanten Kongressen, mit ärztlichen Erfolgen und Misserfolgen. Und mit dem Mann, den ich liebe!
Jetzt erst hat sich unser heiß ersehntes Kind bei mir angemeldet. Hättest du dich eher dazu entschlossen, kleiner Wicht, dann wären mir viele enttäuschte Hoffnungen erspart geblieben und dir eine etwas angestaubte Mutter …
Aber wie auch immer, wir freuen uns, können den März, deinen Erscheinungsmonat, kaum erwarten. Freilich, du musst noch kräftig zulegen, bis du fit bist fürs Leben. Aber du hast ja viel Zeit, gerade erst hat der September angefangen.
Für einen Bubennamen konnten wir uns noch nicht entscheiden. Ein Mädchen wird auf jeden Fall Corinna heißen. Warum, das lässt sich in wenigen Sätzen nicht sagen. Auch die Notizen von damals reichen dafür nicht aus. Natürlich habe ich darin geblättert und dabei festgestellt, dass sie nur Farbtupfer hergeben, kleine, nicht ausreichende Leuchtkugeln für eine lange, rätselhafte Geschichte.
Ich habe in den nächsten Wochen des öfteren Bereitschaftsdienst auf meiner Kinderstation. Der September ist meist ein ruhiger Monat. Ich will in dieser Zeit versuchen, endlich meine Geschichte aufzuschreiben. Unser Kind kann sie lesen, wenn es erwachsen ist, wenn es anfängt, sich für die früheren Jahre seiner Eltern zu interessieren. Und dabei wird es ein Mal mehr begreifen, dass kaum ein entscheidendes Ereignis im Leben einfach so aus sich selbst heraus entsteht, zufällig oder gar auswechselbar, dass sich fast alles nur aus den Zusammenhängen erklären lässt, den gradlinigen, aber auch den kurvigen, unübersichtlichen, labyrinthischen, den hellen und denen, die an irgendeinem Punkt immer dunkel bleiben.
Das Tagebuch, aber auch die ordnende Distanz der zehn darüber hingegangenen Jahre werden mir helfen, noch einmal Corinna zu begegnen, meinem Feuerengel.
Kapitel 1
U
nter der Alten Brücke in Frankfurt am Main bin ich zur Welt gekommen, 1938, an einem Juliabend um halb zehn. Eine tüchtige Hebamme sei dabei gewesen, erzählten mir meine Eltern später, und alles sei einigermaßen gut verlaufen. Unser Koppelverband-Schiff, ein Schleppkahn, aus einem Schubleichter und einem Gütermotorschiff bestehend, sei mit leisem Dröhnen mainaufwärts in Richtung Osthafen durch den warmen Abend getuckert. Nur zwei kleine Fackeln, die mein Vater und meine Schwester Corinna draußen auf dem Kajütendach im Kreise herumschwenkten, hätten die Besonderheit der Stunde angezeigt. Der Empfang kurz darauf im Hafen sei fantastisch gewesen, doch hätte ich ihn komplett verschlafen, ebenso wie meine geschundene Mutter. Weil ich also in Frankfurt geboren bin, gaben sie mir den Namen Franka, und ich war mit diesem Namen zufrieden. Schließlich hätte mir eine Schiffsgeburt auch in Hanau oder Würzburg passieren können, dann wären meine Eltern vielleicht auf die Idee gekommen, mich Hanni oder Burgl zu nennen. Nein, Franka gefiel mir besser, und auch meine Eltern, gebürtige Frankfurter, freuten sich über diese günstige Fügung.
Mit Nachnamen hießen wir Müller, Arthur und Annemarie, Corinna und Franka Müller. Unser Vater war Kapitän, angestellt bei einer Schifffahrtsgesellschaft, und wir transportierten in der Regel Sand und Kies aus Stollhofen. Unsere Kajüte auf dem Gütermotorschiff könnte man mit einem soliden unterirdischen Wohnwagen vergleichen, zu dem zwei Treppen hinabführten. Alles ein wenig beengt, aber sorgfältig durchdacht und praktisch eingerichtet. Jeder hatte eine kleine Schlafkoje, meine Eltern, wir beiden Mädchen, und unser Matrose. Es gab eine Küche und natürlich auch ein gemütliches kleines Wohnzimmer mit Essecke. Unter der Toilette hörte man das Wasser des Mains rauschen und gurgeln, was uns Kindern immer einen Schauer über den Rücken laufen ließ - so wie in den Toiletten der Eisenbahnzüge, unter denen man bedrohlich laut die Schienen scheppern hört.
Corinna war drei Jahre älter als ich. Sie soll mit rührender Zärtlichkeit um mich besorgt gewesen sein, mich gestreichelt und mir Lieder vorgesungen haben. Sobald mir der erste Brei verabreicht wurde, habe sie eifrig darüber gewacht, dass ich ja auch genug davon bekäme, um schnell groß werden zu können. Das Schiffskind brauchte eine Spielkameradin, herbeigesehnt wie nichts sonst auf der Welt, denn es gab ja keine Nachbarn oder Kindergartenfreunde.
Spätestens von meinem dritten Geburtstag an habe ich ihr diesen Wunsch erfüllen können. Im Sommer spielten wir auf dem Vordeck, dem Oberdeck, auf dem Dach, auf der Brücke, am Steuerhaus, in all den wunderbaren Nischen und Gängen des Schiffes Versteck, blinder Passagier, Polizist und Einbrecher und zum Leidwesen unseres Vaters auch Nachlauf vom hinteren zum vorderen Schiff, denn es gab einen wackeligen Übergang vom Gütermotorschiff zum Schubleichter.
Im Winter badeten und wickelten wir im Wohn-Esszimmer der Kajüte unsere Puppen oder wir bauten Bauernhöfe auf, deren holzgeschnitzte Bewohner sich überwiegend aus Männern zusammensetzten, Bauern, Holzfällern und Pferdekutschern. Nur zwei Frauen besaßen wir. Die von Corinna hieß, nach dem Geburtsnamen unserer Mutter, Frau Seidenader, die meine hieß Frau Müller. Natürlich waren sie eng miteinander befreundet und besuchten sich häufig in einem unserer kleinen Puppenhäuser zum Kaffeetrinken.
Alles, was um uns herum geschah, nahmen wir nur am Rande zur Kenntnis. Mama hielt sich immer in der Nähe auf, kochte das Mittagessen oder wusch in einer kleinen Blechwanne Wäsche, die sie dann im Freien, hinter dem Steuerhaus, auf die Leine hängte. Ich kann mich nicht erinnern, dass dort, außer an Regentagen, jemals keine bunten Wäschestücke im Wind geflattert hätten. Sie gehörten dazu wie das Dröhnen und Tuckern des Schiffmotors, der Tanggeruch des Wassers, die lauten Zurufe zwischen unserem Vater und seinem Matrosen, das schäumende und spritzende Wasser rechts und links des Schiffes. Was noch dazugehörte: die Vögel mit ihren wilden, bedrohlichen Schreien, das dunkle Tuten des Nebelhorns, die langsam vorüberziehenden Landschaften, Dörfer und Städte, der Gruß, wenn uns ein Schiff begegnete: „Eine Handbreit Wasser unterm Kiel!", der Stollhofener Hafen schließlich, in dem man den Kies oder den Sand in unser Schiff einlud, und zwei Tage später wieder Anlegen im Südbecken des Frankfurter Osthafens, in dem das Schiff gelöscht wurde.
Während der Aufenthalte in den Häfen liefen wir mit Mama in die jeweilige Stadt, kauften mit Hilfe eines riesigen Einkaufszettels ein, ließen die Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Nudeln, Reis, Mehl und Fett sogar anliefern, weil wir so viel nicht tragen konnten. Wenn wir Glück hatten, gab es an solchen Tagen auch neue Schuhe, ein Kleid, einen Pullover oder eine Trainingshose, zu Corinnas Leidwesen aber auch neue Schulbücher, Schwamm und Griffel für die Schiefertafel.
Freilich wurden solche Ausflüge zunehmend überschattet vom Krieg, in dem sich unser Land seit 1939 befand und der sich gegen Ende immer aggressiver mit seinen Bombengeschwadern über die Städte zog. Wir Kinder mussten jetzt auf dem Schiff bleiben, und die Fahrten nach Stollhofen wurden eingestellt, nicht nur wegen der gefürchteten Tiefflieger, sondern auch wegen einiger zerstörter Brücken. Nichts im Gemeindewesen funktionierte mehr geordnet und reibungslos, auch nicht die Schule mit ihren Sonderregelungen. Niemand wollte unsere Eltern zwingen, wenigstens alle zwei oder drei Tage in irgendeinen Hafen einzulaufen, um Corinna zur Schule zu schicken. Sie blieb zu Hause und lernte mit Mama, glücklich, wenn unser Schiff in einem kleinen Mainhafen außerhalb von Frankfurt angelegt hatte und uns die schweren Angriffe erspart blieben.
Nicht eine einzige Bombe hat unser Kies- und Sandschiff getroffen, nicht ein einziger Schuss. Unversehrt – wenn auch von Angst oftmals gepeinigt – sind wir durch den Krieg getuckert bis zu seinem bitteren Ende. Riesengroß müssen die Flügel des Schutzengels gewesen sein, den uns der liebe Gott vor die Kajüte und Papas Steuerhaus gesetzt hatte, uns zu behüten! Das wurde auch schon mir, der Siebenjährigen klar.
Es war im Sommer 1945, also kurz nach Kriegsende, als mich Mama eines Vormittags in die Frankfurter Innenstadt mitnahm. Ich saß auf dem Gepäckträger ihres rostigen Fahrrades und klammerte mich an ihr fest, denn sie musste slalomartig um die vielen Schlaglöcher herumfahren, die aus den ehemals asphaltierten Straßen lehmige Pfützenwege gemacht hatten. Rechts und links davon türmte sich der Schutt. Dahinter ragten Ruinen hoch oder auch nur vereinzelte Wände mit Fensterhöhlen wie trostlose Augen, abgebrochene Mauern, verbogene Gitter, abgeknickte Türme. Ein gespenstisches Niemandsland, als hätte jemand die Stadt abtransportiert und Unbrauchbares zurückgelassen.
Als wir endlich über all die unkenntlich gewordenen Straßen an der Domruine angekommen waren, die einsam zwischen vereinzelten Häuserresten und breiten Schutthalden emporragte, begann meine Mutter zu weinen. „Unsere schöne, schöne Altstadt, sagte sie leise, „nichts mehr davon da!
Wir liefen zum Garküchenplatz, dessen verkohlte Ruinen aussahen wie lieblos zusammengezimmerte, nach drei Seiten hin weitgehend offenstehende Puppenhäuser. Daneben kein Baum, kein Strauch, kein Bürgersteig, kein Asphalt. Nur kleine Hügel von Steinbrocken, vertrockneter Erde, Asche und staubigen Grashalmen.
Heute ist das alles nicht mehr vorstellbar. Damals stand ich entsetzt davor wie vor den Bildern grausamer Märchen, in denen sich unsichtbare böse Geister zusammenrotten, um auf hinterhältige Weise ihr Unwesen zu treiben.
Auch in dieser chaotischen Zeit wurde uns der tägliche Schulbesuch erlassen, mit unseren Eltern aber die Regelung getroffen, dass sie uns alle vier Wochen der Lehrperson einer jeweils zuständigen Volksschule vorzustellen hatten, die uns prüfen und den neuen Stoff mitteilen sollte. Da wir aber wegen der gesprengten und noch nicht wieder reparierten Brücken zunächst gar nicht auf Fahrt gehen konnten, hätten wir nach irgendeiner Schulbaracke in Frankfurt Ausschau halten müssen. „Ach was, meinte unsere Mutter, „ich bringe euch alles Nötige bei. Da habt ihr mehr davon als wenn ihr jeden Tag mit euren kaputten Schuhen durch die kaputte Stadt in eine kaputte Schule lauft!
Natürlich hat ihr Unterricht geklappt.
Bei Arthur und Annemarie Müller klappte aber auch sonst alles. So jedenfalls wollte ich es sehen und habe dabei wahrscheinlich manches übersehen. Sie mussten in der Enge ihres Schiffes aufeinander eingeschworen sein wie ein gutes Team, genau wie wir beiden Schwestern. Wegen des eingeschränkten Platzes hatten wir alles miteinander zu teilen, die wenigen Spielsachen, die Schlafkoje mit dem Doppelstockbett, den kleinen Spieltisch, den Einbauschrank und schließlich unser ungewöhnliches Leben, das wir aber merkwürdigerweise nicht als ein heimatloses Leben empfanden. Unsere Heimat war halt beweglich. Sie bestand aus dem Koppelverband zweier Schiffe, einer Kajüte und einem Steuerhaus auf dem hinteren Schiff, dem Gütermotorschiff, einigen Treppen, Gängen, Ecken und Winkeln, Bullaugen, Oberlichtern, und das wars. Weder interessierten uns Kinder die Namen der Landschaften, Dörfer und Städte, noch die Häfen, in denen wir, zweieinhalb Jahre nach dem Kriegsende, nun wieder anlegten. Nur die Einkäufe mit Mama, wo auch immer, wurden zu interessanten Unternehmungen, ebenso wie die Schulprüfungen, denen wir jedes Mal in einer Mischung aus Angst und Vorfreude entgegenfieberten.
Alles hätte so bleiben dürfen, ein Leben lang. Wir waren unversehrt durch den Krieg getuckert, also standen wir offensichtlich unter einem guten Stern. Nichts konnte uns passieren.
Aber es passierte etwas, ausgerechnet im November, meinem Lieblingsmonat. Aus heiterem Himmel, ohne die leiseste Vorwarnung, brach es über uns herein und fügte dem Urvertrauen, das meinem Leben bis dahin Kraft verliehen hatte, einen tiefen Riss zu. Ich bekam Kinderlähmung. Gegen alles mögliche waren wir als Babys geimpft worden, nicht aber gegen diese tückische Krankheit, von der vermutlich jedermann dachte, sie tauche nur ganz selten auf, und wenn überhaupt, dann träfe sie die anderen.
Sie traf mich. Nicht in der schleichenden Form einer anfänglichen vermeintlichen Grippe, sondern wie ein hinterhältiger Überfall. Abends ging ich gesund ins Bett, wir spielten noch eine Runde „Schwarzer Peter", Mama kam hinzu, betete mit uns, bevor sie das Licht ausmachte und den Vorhang zuzog, und wir hörten vor dem Einschlafen, wie immer, die leisen Stimmen unserer Eltern.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Bett steigen wollte, konnte ich beide Beine nicht bewegen. Ich schrie auf vor Entsetzen, versuchte mich irgendwie an den Bettrand zu schieben, die Beine mit den Händen hochzuheben. Corinna sprang mit einem Satz von ihrem Oberstock herunter, kniete sich vor mich hin, rief abwechselnd nach Mama und Papa, begann vor Verzweiflung zu weinen. Mama war sofort da. Weiß bis in die Lippen schrie sie nach Arthur, stolperte die Treppe hoch zum Deck, schrie ihm entgegen: „Sie hat Kinderlähmung, das kann nur Kinderlähmung sein!"
Alles, was nun weiter mit mir geschah, hat sich in meiner Erinnerung zu einem Gewirr aus Aufregung, Funksprüchen, Zurufen, Ansteuerung eines Hafens, lauten Ratschlägen und tröstenden Worten zusammengeballt. Da ich immer wieder das Wort „Honsellbrücke" hörte, nahm ich an, was mich ein wenig erleichterte, dass wir uns in der Nähe unseres Frankfurter Osthafens befanden.
Es ging mir schlecht. Ich fühlte mich plötzlich sehr schlapp, konnte kaum sprechen, hatte Kopfschmerzen, überall taten mir die Muskeln weh. Um mich herum Hektik, Aufregung, Unruhe, im Hafen dann ein Rot-Kreuz-Auto, über den Schiffsfunk schon herbeigerufen, in das ich wie auf einem Backblech hineingeschoben wurde, laut, aber flink und routiniert. Sie brachten mich in die Universitätskliniken.
Meine Familie saß um mich herum, sogar der Matrose, denn Mama meinte, alle sollten sich unbedingt, wenn es noch sinnvoll wäre, impfen lassen. In der Klinik dann, nach endlosen Wartereien in Fluren und Labors, bekam ich ein eigenes kleines Zimmer. Wäre mir nicht so elend gewesen, so hätte ich mich an der neuen Umgebung, für ein Schiffskind luxuriös und ganz ungewohnt, sicherlich gefreut. So aber konnte keine Freude aufkommen, denn der Rachenabstrich und die Blutuntersuchung hatten schon bald den gefährlichen Virus bei mir nachgewiesen.
Franka hatte Kinderlähmung.
Kapitel 2
E
s wurde ein langer Winter im Krankenhaus. Langweilig wurde er nicht, denn Mama mietete in der Nähe der Kliniken für sich und Corinna eine kleine Mansardenwohnung und schickte ihren armen Arthur und seinen Matrosen allein auf Fahrt. Corinna, inzwischen zwölf Jahre alt, machte die Aufnahmeprüfung in die Quinta eines Mädchengymnasiums in Frankfurt-Sachsenhausen, und bestand sie. Annemarie Müller, geborene Seidenader, war eben eine gute Lehrerin für uns gewesen, die uns nicht nur in Mathematik, sondern auch in den anderen Fächern, vor allem in Deutsch und Englisch, eine Menge beigebracht hatte.
Meine Schwester strahlte vor Glück und Stolz, und jeden Nachmittag ließ sie mich an ihrem Glück teilhaben, indem sie mir von den einzelnen Schulstunden berichtete, jede Lehrerin, jeden Lehrer genau beschrieb, mir ihre Figuren aufmalte, ihre Profile, ihre Haarfrisuren, ihre Kleider. So lernte ich Frau Hof kennen, Frau Dr. Pepp und Herrn Sindel, den Hausmeister Kolb und die Verteilerin der Schulspeisung, Frau Rohr.
Meine Vormittage dagegen waren weitgehend ausgefüllt mit physikalischer Therapie und orthopädischen Maßnahmen, die ich mit zusammengebissenen Zähnen über mich ergehen ließ. Manches tat sehr weh, einiges aber machte mir auch Spaß, vor allem wenn ich gelegentlich einen winzigen Fortschritt spürte. Das geschah zwar äußerst selten und nur am rechten Bein, aber einen kleinen Lichtblick bescherte es mir schon. Wenn Zeit zwischen den Behandlungen übrig blieb, gab mir Mama, angespornt durch Corinnas Erfolge, Unterricht.
Im Handumdrehen war so der November vergangen, und auch der Dezember, in diesem Jahr schneereich und kalt, verging für uns, auch für mich in meinen weißen Wänden, wie im Flug.
Kurz vor den Weihnachtsferien sollte Corinnas Klasse ein Krippenspiel für die Eltern aufführen. Corinna war die Rolle des Verkündigungs-Engels zugesprochen worden. Damit ich teilhaben durfte, brachte sie ihr weißes Engelsgewand mit ins Krankenhaus und zog es sofort an. Es bestand aus einem ziemlich luftundurchlässigen, durch zahlreiche Gummizüge dehnbaren Nylonstoff und hatte, ebenfalls aus Nylon, aber mit Pappe verstärkt, gewaltige Flügel. Schwitzend, doch glücklich, sprach sie ihren Text: „Denn siehe, ich verkündige euch große Freude…", und ich fand meine Schwester mal wieder hinreißend, schön, lieb, klug, und nun auch noch schauspielerisch großartig.
Mama freute sich mit uns. An dem großen Tag zog sie ihr „gutes Kleid" an, ein blaues Baumwollkleid mit weißen Blümchen, und sie versprach mir,