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Basel
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Ebook240 pages5 hours

Basel

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About this ebook

Lojze Kovačič wurde dem slowenischen Vater und der deutschen Mutter 1928 in Basel geboren. Dort betrieben die Eltern eine vergleichsweise erfolgreiche Schneider- und Kürschnerwerkstatt. Da der Vater die Schweizer Staatsangehörigkeit zurückwies, wurde die Familie 1938 nach Jugoslawien abgeschoben. Kovačič starb 2004 in Ljubljana. Die Roman-Trilogie "Die Zugereisten" zählt zu den bekanntesten und meist übersetzen Meisterwerken des Autors. Im deutschsprachigen Raum wurde die Übersetzung der Gesamtausgabe außerordentlich gut aufgenommen und Kovačič wurde als verkannter Meister bezeichnet, der mit der außerordentlichen Intensität verschiedene gesellschaftliche Projekte des 20. Jahrhunderts stets analysiert, aber nicht als politischer bzw. sozialer Analytiker, sondern durch intime Perspektive eines Kindes und einen heranwachsenden Menschen am Rande der Gesellschaft.
In Kovačičs autobiographischen Reiseprosafragment "Basel" in der Manier von Joyce und Proust entdeckt der Erzähler die originale Welt seiner Kindheit. Es geht um eine Art "umgekehrte Hermeneutik", in der das Subjekt seine Erkenntnis der Welt nicht durch Wiedererkennen und Verstehen der Andersartigkeit gewinnt, sondern durch bruchstückhafte Erinnerungen, mit der Rekonstruktion von "Erinnerungsorten", die ebenso Autobiografien des Autors selbst wie auch die "Biografien" der Stadt Basel darstellen. Dies geschieht mit der zeitlichen Distanz von vierunddreißig Jahren bzw. in der Konfrontation der Person aus der Kindheit mit dem reifen Haupthelden, der als alter ego des Erzählers gedeutet werden kann. Die beiden Sprachen (die "deutsche Muttersprache" und die "slowenische Vatersprache"), das alte und das zeitgenössische Basel, die Schweiz und Slowenien und nicht zuletzt die Schwester der Hauptfigur, Margrit Meyer, und seine Begleiterin D. stellen nicht zwei für immer getrennte Welten dar, sondern sie errichten eine "dritte Syntax", einen Zwischenraum der Narration, des (Selbst)verständnisses und Sinnes.
LanguageDeutsch
Release dateAug 8, 2017
ISBN9789616547994
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    Basel - Lojze Kovačič

    1/2011/XLIX/130

    Društvo slovenskih pisateljev, Slovenski center PEN, Društvo slovenskih književnih prevajalcev

    The Association of Slovenian Writers, The Slovenian PEN Centre, The Slovenian Literary Translators' Association

    Lojze Kovačič: Basel

    Originaltitel: Basel [tretji fragment]

    Copyright © Lojze Kovačič, 1989; Študentska založba 1989–2011

    www.zalozba.org

    Študentska založba ist der einzige Eigentümer der Rechte für die Werke von Lojze Kovačič. Für alle Informationen zur Verfügbarkeit der Rechte wenden Sie sich an: info@zalozba.org

    Herausgegeben und verlegt vom

    Slowenischen Schriftstellerverband, Ljubljana

    Vertreten durch seinen Präsidenten, Ivo Svetina

    Redaktion von Litterae Slovenicae 2016

    Tina Kozin, Tanja Petrič

    Redaktionelle Bearbeitung

    Tanja Petrič

    Übersetzung

    Andrej Špendov, Peter Scherber

    Nachwort

    Zvonko Kovač, Gašper Troha, Mateja Komel Snoj

    Sprachliche Korrektur

    Peter Scherber, Martin Schwitter

    Titelfoto

    Tihomir Pinter

    E-Book

    Zugänglich auf

    http://www.biblos.si/lib/

    Ljubljana 2016

    CIP - Kataložni zapis o publikaciji

    Narodna in univerzitetna knjižnica, Ljubljana

    821.163.6-311.2(0.034.2)

    821.163.6.09Kovačič L.(0.034.2)

    012Kovačič L.(0.034.2)

    KOVAČIČ, Lojze, 1928-2004

    Basel [Elektronski vir] : drittes Fragment / Lojze Kovačič ; Übersetzt von Andrej Špendov, [Peter Scherber] ; [Nachwort Zvonko Kovač, Gašper Troha, Mateja Komel Snoj]. - El. knjiga. - Ljubljana : Društvo slovenskih pisateljev = The Slovene Writers' Association, 2016. - (Litterae Slovenicae : Slovenian literary magazine, ISSN 1318-0177 ; 2011, 1)

    Prevod dela: Basel : (tretji fragment)

    ISBN 978-961-6547-99-4 (ePub)

    COBISS ID 283495424

    Lojze Kovačič

    Basel

    [Drittes Fragment]

    Übersetzt von Andrej Špendov

    Društvo slovenskih pisateljev

    Slovene Writers’ Association

    Ljubljana 2016

    November 1972: Zum ersten Mal nach vierunddreißig Jahren, seit ich Basel nicht mehr gesehen habe, wieder in meiner Heimatstadt.

    In Buchs schaue ich aus dem Fenster. Der Bahnsteig: Schmal und sauber; gusseiserne Pfeiler unter der Über­dachung. Meiner Aufregung gleichsam zum Spott: Drei oder vier Bosnierinnen in bunten Röcken und Schürzen, Körbe auf den Köpfen, Körbe auf dem Boden und den Sitzbänken. Als ich einen Augenblick später hinschaue, ist der lange Bahnsteig menschenleer, als hätte man sie weggefegt. War wohl die falsche Seite. In jener Nacht im Jahre achtunddreißig, als wir vom Basler Zug auf die jugoslawische Eisenbahn umstiegen, bewegten wir uns auf grobem Schotter zwischen lauter Eisenbahnwagen und Schienensträngen. Es goss in Strömen, so dass sich der Regen vor den Lichtern der Lokomotive in weihnachtliches Feuerwerk verwandelte. Vater verschwand in einem großen Amtsgebäude und wir mussten lange warten, bis er wieder auftauchte. Danach betraten wir einen leeren, schwach beleuchteten Wagen, der, wie mir schien, schief dastand und an dessen Wänden nur kyrillische Tafeln hingen. So begann die Reise... Jetzt traue ich mich nicht aus dem Abteil heraus, um vom Gang des Schlafwagens nicht zufällig jene Schienen und Steinhaufen mit dem Gebäude und den schwarzen eisernen Sitzbänken davor zu erblicken. Die schweizerische Polizei ist bis auf die Knochen verfettete Pedanterie, die auf der Welt ihresgleichen sucht; damals wies sie uns für immer aus, „mit Kind und Kegel", wie es heißt... Was soll ich tun, wenn sie wirklich Verzeichnisse mit sich herumtragen, diese berüchtigten Zettel, von denen mir Margrit erzählte. Dass man mich an der Grenze zurückweisen könnte, habe ich D. mit keinem Wort erwähnt weder in den Monaten zuvor noch während der Fahrt... Ich starre auf das Pflaster des Bahnsteigs... es ist wie die zu Stein erstarrte Einleitung der Erinnerungen... und danach, als mir ein Polizist mit Sturmriemen über der Brust den Reisepass durchsieht... starre ich unverwandt auf einen Punkt über seiner Schulter... das habe ich mir im Umgang mit einfachen Leuten in Uni­form angewöhnt. Auch als wir wieder alleine sind, deute ich D. mit keiner Silbe meine Angst, meine Panik von vorhin an.

    Draußen reihen sich reinliche, hübsche Einfamilienhäuser an Villen und Wirtshäuser mit gelb- und graugrünen Gärten, in denen Fahnenmasten mit Schweizerflaggen stecken. Ich rasiere mich vor dem Spiegelkästchen, und als von den Puffern aus... vor einem Signal oder Bahnübergang... ein Stoß durch die ganze Zugskomposition geht, verletze ich mich. Blut rinnt mir von den Mundwinkeln über das Kinn, so dass mich D. sofort mit einem Heftpflaster verarzten muss. „Auch das noch, sage ich ihr, jetzt komme ich in die Schweiz wie ein Komitadschi von den Bergen des Bal­kan." Nicht nur die Fahnen und Gärten mit den weißen Kreuzen ziehen am Zug vorbei, sondern auch kilometer­lange Umzäunungen aus verwittertem Wellblech und verrostetem Gitterwerk, die den Augen der Reisenden die dilettantisch zusammengenagelten Baracken, die Dreck­schicht und die bunte Wäsche auf den Leinen verdecken sollten.

    Auf und ab wie das Meer... Häuser, eine weiße Straße an der Bahnlinie, ein Hügel, Schilder. Wie immer, wenn mir etwas Ungewöhnliches zustößt, hüllt mich Nebel ein und trübt meinen Blick. Als erstes erwartet mich der Basler Bahnhof mit seiner gläsernen Kuppel. Sieht er noch gleich aus wie früher? Eigentlich weiß ich nicht mehr, wie er aussah... Zwei Polizisten führten uns, wir waren nur mit dem nötigsten Gepäck beladen, vom Gerbergässli über die kleine Brücke, die sich über jenen Bach spannte, wo ich noch vor ander­t­halb Stunden mit gelben Bachsteinen unter dem Felsen gespielt hatte. In der Ambulanz des Bahnhofs erhielten Gisela und ich von der Krankenpflegerin eine Tasse Milchkaffee. Die beiden Polizisten schienen einer Schachtel entnommen, ihre Gummiknüppel leuchteten wie Diri­gentenstäbe unter den Regenmänteln hervor. Als sie uns an Bord des Eisenbahnwagens brachten und einer die Tür von innen zuschloss, winkten uns Claire und Margrit unter dem letzten Pfeiler mit Taschentüchern... Damals stand ich den ganzen Nachmittag auf dem Gang beim Fenster, um Vatis Heimatland als erster zu erblicken und ihm, Mutter und Gisela als erster unsere Ankunft zu verkünden... Was ich nicht alles sah... den Eglisee zum Beispiel, ein Freibad mit einem großen gestreiften Ball im Wasser, mit dem ich einst gespielt hatte... einen Tennisplatz im dichten Schatten der Eichen, wo ich mit Vater eines Sonntags hingegangen war... Der lange Steg beim Klybeck mit der Hafenanlage Neptun... die widerhakenförmigen Glocken­türme der zahlreichen Kirchen, jede mit einem anderen Kreuz... lauter gelöste Rätsel, Hieroglyphen, Irrgärten... Adieu! Adieu!... Und jetzt? Ein wahrer Strom von Ereig­nissen aus der Gegenwart, ein ununterbrochener Wasserfall von Tatsachen, den ich in diesem Augenblick wie eine Marionette durchlebe, unfähig, mich auf etwas zu stützen, mir selbst ein Geheimnis, von dem ich nicht weiß, wie es sich in jeder der folgenden Minuten verhalten wird. Ich bräuchte jemanden, wenn niemand da sein wird, mit dem ich meine Verwirrung teilen könnte. Und jetzt, während D. hier sitzt, kerzengerade auf dem Rand des unteren Bettes, gewinnt alles noch mehr Ähnlichkeit mit dem aufgewühlten Wasser und der Planke, an der ich mich festhalte, weil ich die Richtung nicht kenne!

    Soll er sich aus der Ferne betrachten...? Etwa so, wie ein Zuschauer, der ein bestimmtes fundamentales Erlebnis mitverfolgt, das sich unter ihm auf einer Bühne abspielt und mit dem ihn nichts verbindet? Sollte er sich gänzlich dem Erlebnis ausliefern... nicht an die Entfernung und die Augen dort oben auf der Galerie denken? Einmal so, einmal anders, alles in allem wohl eher eine Mischung als ausdrücklich nur das Eine oder das Andere.

    HAUPTBAHNHOF SBB BASEL

    Eine hohe Halle aus Glas... Darunter lange Zugschlangen. Bumm, bamm, bäng... diese Architektur hört aufmerksam hin und auch in ihr drin ist alles außerordentlich gut hörbar. D., so ruhig und leise wie nie zuvor, lenkt ihren Schritt genau dorthin, wohin sich auch er ohne einen Anhaltspunkt begibt. Margrit ist nirgends zu sehen und dieser Koloss von Bahnhof bleibt für mich unerkennbar. Der Hauptein­gang zum Zentralgebäude, ein hohes abgerundetes Gewölbe in einem Eisennetz mit milchiger Rosette... drinnen herrscht rußige Dämmerung, als hätten sie das Innere eines weichen Massivs aus faserigem Stein betreten... der geräuschlose Fußboden ist aus Kork, liegt es an meinen Gummisohlen oder bin ich taub? Lautlose Gepäckwagen, die Reisenden schreiten wie Schatten in den weißen Schein der hohen undurchsichtigen Kuppel... auf der anderen Seite, neben dem riesigen Ausgang, wo der helle Tag erstrahlt, sehen die Menschen im Neonlicht der Boutiquen wie durchleuchtete Korallenfische aus. Ich schaue in die Seiten­eingänge, in dunkle Stollen aus weichem Stein... und spüre, dass Margrit nicht da ist. Mehr noch, dass sie schon jahrelang nicht mehr hier war. D. im Pelzmantel mit ihrem weißen kleinen Gesicht und den hinter den Brillengläsern vergrößerten Augen folgt mir dicht auf den Fersen. Ja, hier bin ich zu Hause... war ich zu Hause. Meine Wurzeln reichten fast bis zur Hölle. Ich habe mich bemüht, sie zu erhalten. Stets war ich von heimlichem Stolz erfüllt: Basel die Treue halten, Europa treu bleiben... Dieses Wunder werde ich ihr zeigen, dieses ewig gleiche Phänomen der aufgehenden Sonne: Die Stadt... ich werde sie mit Margrit bekannt machen, sie in die sog. Urgeschichte mit einbeziehen... in dieses, mein großes Grab. Er hält nach Margrit Ausschau, dreht sich langsam zur hinter ihm stehenden D. um. Ach,

    die Geheimnisse ihres Lebens, die ihm weder zugänglich waren, noch zugänglich gemacht wurden, boten ihm bisher immer genügend Möglichkeiten, selber unaufrichtig zu sein... denn auch sie musste nicht wissen, wer oder was er ist und wovon er träumt; in dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht. Doch das wird sich jetzt ändern. Wenn Margrit jedoch nicht da sein wird, wird dies die erste Kränkung sein, die sie an einem Ort ereilt, den sie beide eigentlich noch nicht betreten haben.

    Draußen: Ein Kettengeländer und Taxis mit leuchtenden Emblemen... Gerade hier müsste eine steile Straße ihren Anfang nehmen... und in der Mitte jenes runde Eckhaus an der Mauer der Rue de Helder stehen... Nichts. Das wellenförmige Dach einer Haltestelle und ein Straßenbahn­wagen mit drei Anhängern. Er zieht die Luft, die er vor vierunddreißig Jahren geatmet hat, in sich hinein, ordnet die Koffer neu, schaut hinunter, in den Abgrund... Die Situation ist seelenlos, leer, absolut still, jeglichen Sinnes beraubt. So etwas... Auch hier ist von Margrit keine Spur, schwarzer Staub einer Ewigkeit hat sich in die faserigen Steine der Fassaden unter den beiden hohen Türmen mit der Uhr eingefressen... Eine Limousine mit der leuchtenden Aufschrift „Taxi Stern fährt ans Geländer heran. „Rue de Niccolo, Hotel Cecile, sagt er, als würden Wattepfropfen seinem Mund entweichen und auf seine Wangen und Heftpflaster auftreffen. Der Fahrer steigt aus... einer jener unschönen, hässlichen Bewohner der Stadt, dessen Ana­tomie schon die vorangegangenen Generationen geformt und ihm die grüne Joppe, die an ein Jägerkostüm erinnert, übergestülpt haben... Über sein Telefon meldet er, wohin er fahren wird. Vielleicht fürchtete er sich? Vielleicht hat er erraten, dass sie von dort stammen, von jenem Erdteil, der den Hiesigen schon seit Menschengedenken ein selbst­verständliches Rätsel in seiner Verwirklichung als auch Nicht­verwirklichung ist? Von einer Magie, die sich in elementaren Weiten verborgen hält, einem Leben, das sich immer wieder auf gut Glück einer Ordnung anpasst und einem Kolorit, wo sich eine schweigende, verbissene IDEE über Berge, Meer und Völker ausgebreitet hat. Das er­schreckt und ärgert ihn wohl. Auch mich ärgert es, dass der GEIST dort wohnt, am meisten aber wundere ich mich dar­über, dass er so dumpf ist und eher dem aufsteigenden Nebel, der einbrechenden Dunkelheit, dem aufgewühlten Meer, den schwebenden Wolken, den aufeinanderfolgen­den Jahreszeiten gleicht als etwas mehr Menschlichem. Ein Ursprung solcher Art...

    Er sieht sich auf dem Gehsteig um, gern würde er Bewegungen, Haltungen oder Kleider erblicken, die in ihm auf der Stelle Sympathie erweckten. Es ist vier Uhr, für alles zu früh oder zu spät. Eine kurze Brücke... Das Geländer ist eine einzige Betonwand; er möchte mehr sehen und ist enttäuscht. Im Schaufenster eines Geschäfts: Verschiedene Bürsten und Waschpulver. Als er sich umdreht, trifft er D. mit dem Kinn an der Schläfe. Er hat Angst, weil er sie zu Margrit führt, von der er im Grunde genommen nicht weiß, wie sie ist. Eine wunderliche Person? Ein marodes Geschöpf? Ein unerträgliches Frauenzimmer? Er weiß wirklich nicht, wie sie jetzt ist? Sie bewohnt eine Einzimmerwohnung oder ein größeres Zimmer, soviel ist ihm bekannt. Aus ihren Brie­fen weiß er, dass sie von der Rente und vom Klavier­unterricht lebt und dass sie sich in ihrer Freizeit mit Malerei beschäftigt. Doch was im vergangenen Jahrzehnt aus ihr geworden ist... ist ihm ein Rätsel. Sie war mit dem Anwalt Joseph Meyer verheiratet, der eine Zeitlang Ausschussmit­glied oder Abgeordneter des Stadtrates war, den er jedoch nie gesehen hat, selbst auf einem Bild nicht. Ein kränklicher Mann; er starb vor vier oder fünf Jahren. So wie früher hatte Margrit auch damals, als er noch lebte, ihre Liebhaber. Der Letzte ihrer Auserwählten war reich; Besitzer eines großen Elektronikgeschäftes. Sie hat ihn ihm auf einer Fotografie gezeigt: Wie er... ein dürrer, lächerlicher Wallenstein mit Druidenbärtchen, eine Pelerine über die Schulter geworfen, mit einer Reihe von Knöpfen aus Hirschhorn, Totenköpfen ähnlich... dasteht, umgeben vom elektrischen Glanz seines Luxusgeschäfts irgendwo im Zentrum der Stadt. Ein stilisiert folkloristischer Typ... der in ihm eine Abneigung weckte, wie jeder wichtigtuerische, blutarme Volksstamm, mit Ausnahme der Indianer und Menschenfresser, die er noch nie zu Gesicht bekommen hat... Für ihn pflegte sie sich, unterzog sich Schönheits­operationen, verbrachte tagelange Fastenkuren im Bett, wobei sie sich nur von Äpfeln ernährte... Was für eine Dame auf schnellen Beinen, erhobenen Hauptes mit einer Pelzmütze und einem Persianermantel im Jahre 1952, als er sie nach vielen Jahren zum ersten Mal wiedersah, als sie beide, Margrit aus der Schweiz und er aus Jugoslawien die Mutter, Claire und Gisela im DP Lager Kellerberg besuchten. Sie war ein lebendiger Teil Basels. Er, den beim Anblick jeder einzelnen Basler Postkarte und beim Dialekt, den die Radioansager sprachen, stets beinahe traumwand­lerische Gefühle überkamen oder der in Tränen ausbrach bei den Aufnahmen vom mitternächtlichen Läuten der Weihnachtsglocken aus der Basler Kathedrale... hat sich - verständlicherweise - beinahe in sie verliebt... Gemeinsam verbrachten sie Stunden mit Spaziergängen im Lager, mit Gesprächen am Ufer der kalten Drau, hielten sich bei der Hand... umarmten sich... küssten sich sogar... Eines Abends saßen sie, nachdem sie vom Kino zurückge­kehrt waren, beinahe bis zum Morgengrauen auf den Meilen­steinen vor dem Lagereingang. An einem anderen Tag hockten sie ganze fünf Stunden in einer Schenke im russischen Teil des La­gers unter einem Wandbild mit überdimensionierten russischen Gutsherren und kleinen weißen Hirschen, tranken Sprit, den ihnen ein Muschik in einem Rubaschkahemd fleißig auftrug, weil er dachte, sie seien ein Liebespaar... Er fragte sie über Basel aus, über die Straßen, die Bezirke, die verschiedenen Winkel, die Rhein­hafen, in denen er sich herumzutreiben pflegte, über die Schulen, die Kirchen, die Menschen, die Brunnen... wohl wurde er in Basel geboren, doch erst zehn Jahre später kam er im Dorf Cegelnica auf die Welt... Sie erzählte ihm unter anderem, dass er, was ihm neu war, als Kind beim Mitta­gessen stets Blumen auf dem Tisch haben wollte, sonst hätte er nichts zu sich genommen... Und wenn sie ihm irgend­welche Zierblumen unterjubeln wollten, sogenannte Stoffpompons, die in der Werkstatt herumlagen oder nur so - aus erfinderischer Not - ein von einer Hecke gepflücktes Ästchen, hätte er keinen Bissen in den Mund nehmen wollen und einen Hungerstreik angekündet, bis man ihm woher auch immer einen Blumentopf gebracht und auf den Tisch gestellt hätte... Oh Gott, durchfuhr es ihn, das hat er nicht gewusst, wie viel forderte diese Kindheit, über die er sich wie über ein eigenes, legitimes Kind zu neigen anschickte... Doch schon bald nach diesen ersten Tagen in Kellerberg hatte Margrit... obwohl sie hierhergereist war, um mit viel Lärm und Prunk diese Stätte zu erhellen... ihr wahres Gesicht gezeigt... Hochmut, kalte Einsamkeit und Spott... Sie zerstritten sich. Als Kind, erinnert er sich, war sie lebhaft, teuflisch und schrecklich intrigant. Vaters Liebling. Mit sechzehn hatte sie einen Haufen Verehrer, die ihr durch Parks und Schwimmbäder nachstellten... in Gedanken sieht er die Männer, die wie Schatten um das Haus schlichen. Ihre Redeweise war ein bloßes Aneinander­reihen von durchdringenden Rufen, Geschrei und Gezi­schel. In seiner Kindheit fürchtete er sich vor ihrer nervösen Gewandtheit, ihrer plötzlichen Wut, den buschigen schwar­zen Haaren, die sie wie eine Löwenmähne zu schütteln pflegte. Nur sie schaffte es, ihn ins Spital zu bringen, ohne dass er ihr auf dem Weg entwischte... Am meisten fürchtete er ihr Lachen: die reine Unschuld der weißen Zähne und darüber die boshaften kleinen Bilder der grünen Augen. An ihnen erkannte er sie, wenn sie den Weihnachtsmann spielte, der ihm jedes Jahr Geschenke brachte: zwischen dem Wattehaar und dem Zausbart aus Hasenfell stachen sie hervor wie Insekten.

    Nur wenige Schritte nach dem Geschäft mit den Bürsten hält das Taxi: Das Hotel Cecil steht mit grünem Vordach in einer Reihe

    gleichförmiger Häuser an der Rue de Nicollo... und in der gleichen Straße wohnt Margrit. „Guete Daag! Guete Daag!¹Ein dicklicher Verwalter in gestreifter Weste, schwarzen Hosen und einer Fliege hopst von der Eingangs­tür, wo er gerade noch Wache hielt, zum Kofferraum, dem er selbst mit dem Rücken zugewandt ist. Zuerst denkt er, es sei Hans Moser, der österreichische Filmkomödiant, nur spricht er Basler Dialekt statt wienerisch. Das Hotel, ein schmales Haus, gleicht einer Familienpension. Sie geben ihre Pässe einer ergrauten Frau mit langem Gesicht... „Mlle Jeanette", steht auf ihrer Visitenkarte. „Uus Jugoslawie?²" Er nickt. „Ych bii uus Ungarn.³" Eine steife, graue Frisur und eine Art dunkles Dirndl. „Vò 1956 - gäll?fragt er. „Joo, vò dooz­mool." Er kennt einige Ungarn. Claires Mann, Josko Pall, war ein Ungar - Fußballtrainer, und, da schau her, Hand­schuh-, Handtaschen- und Krawattenhändler!... Sie füllen eine Anmeldung aus, die so klein ist wie ein Fahrschein. Die Pension ist wahrscheinlich bereits ausgebucht oder dann menschenleer. Sie folgen einer kräftigen jungen Frau in weißem Kittel nach oben. Ein Etagenzimmer mit Du­sche - 40 Franken pro Tag. Die Treppe beschreibt einen Bogen... ein Läufer mit Messingstangen... die Stäbe des Geländers... ein Jagdbild im Korridor... auf den Gängen: unter­schied­lich große und in verschiedenen Farben gestrichene Türen... Kurze und lange Gänge mit verschiedenar­tigen, aus allen Himmelsrichtungen zusammengetragenen Läufern... Bilder der Alpen und der Helvetia mit einer Fackel über dem Kopf. Die Treppe beschreibt erneut einen Bogen... Eckschränke, Toilettentische, Tischchen, bedeckt mit kleinen Tischdecken... das stört ihn jetzt nicht, obwohl er es am liebsten hat, wenn

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