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Die Seelentröster: 60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte
Die Seelentröster: 60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte
Die Seelentröster: 60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte
Ebook227 pages2 hours

Die Seelentröster: 60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte

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About this ebook

Etwas für sich klären oder sein Herz ausschütten. Das sind neben akuten Krisen und dem Wunsch nach Zuwendung die Hauptgründe für einen Anruf bei der Dargebotenen Hand. Was hilft eigentlich den Tausenden Hilfesuchenden? Was motiviert Freiwillige für diese anspruchsvolle Arbeit? Was heißt es, aktiv zuzuhören?Darauf gibt das Buch zum 60-Jahr-Jubiläum des großen Schweizer Sorgentelefons Antworten. Es berücksichtigt neue Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung und Ergebnisse aus Studien zur Freiwilligenarbeit. Es geht auch um Menschen mit ihren Geschichten und darum, wie Tel 143 von bescheidenen Anfängen zum bekannten Notruf für eine emotionale erste Hilfe wurde.
LanguageDeutsch
Release dateOct 13, 2017
ISBN9783280090190
Die Seelentröster: 60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte

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    Die Seelentröster - Franco Baumgartner

    Franco Baumgartner

    Die Seelentröster

    60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte

    orell füssli Verlag

    Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

    © 2017 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

    Lektorat: Michael Lenkeit

    Umschlaggestaltung und Motiv:

    Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

    ISBN 978-3-280-09019-0

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    Dieses Buch wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von Swisscom

    clear

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

    Vorwort

    Vorwort

    Eine jüngere Männerstimme – zögernd, aufgeregt! Ob er hier richtig sei, fragt der Anrufer etwas unsicher. Er gibt zu verstehen, dass zurzeit einiges auf seiner Seele laste, vieles in seinem Leben ganz und gar nicht im Lot sei. Die Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand bestärkt den Mann in seiner Hoffnung, dass er sich hier aussprechen kann – bedingungslos.

    Die Philosophie von Tel 143 erlaubt es dem Anrufenden, seinem Gegenüber trotz schützender Anonymität gleichzeitig nahe zu sein – quasi Ohr an Ohr. Das erleichtert es dem jungen Mann, aus der »sicheren Distanz« heraus mit der Zuhörerin einen vertrauten Kontakt aufzubauen und sich ihr gegenüber zu öffnen – sein Herz auszuschütten. Von diesem besonderen Angebot der Dargebotenen Hand und dem, was es bei Anrufenden bewirken kann, handelt das erste Kapitel dieses Buches, das anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums Einblicke in die Arbeit der Schweizer Notrufnummer für emotionale Erste Hilfe geben möchte. Welche Menschen wenden sich an die Dargebotene Hand? Was sind ihre häufigsten Anliegen? Mit welchen Leistungen steht ihnen Tel 143 zur Seite? Diese Fragen sowie die grossen Themen Einsamkeit, Suizidalität und psychische Leiden werden dabei auch vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet.

    Was können Gespräche, was die Auseinandersetzung mit eigenen tiefen Gefühlen, mit belastenden Erlebnissen, Sorgen und Nöten bewirken? Wer zuhört, findet eher die richtigen Worte. Worte, die für Anrufende im besten Fall wie Medizin wirken. Dieser heilsame Zusammenhang zwischen Entlastung von seelischem Leid und Kommunikation wird auch von der neueren biomedizinischen Forschung untermauert. Ja, er geht sogar so weit, dass auch die körperliche Gesundheit positiv beeinflusst wird. So werden auch diese Prozesse in Körper und Gehirn, die bei der täglichen Arbeit der Dargebotenen Hand eine wichtige Rolle spielen, hier nicht unerwähnt bleiben.

    Nach einigen Minuten wird der Anrufer etwas ruhiger, es entwickelt sich ein rund halbstündiges Gespräch, in dessen Verlauf der Mann den Mut fasst, eine Auslegeordnung seiner Probleme zu machen. Er merkt, dass ihm jemand mit Interesse zuhört. Das entlastet ihn fürs Erste etwas. Denn die akute Krise mit seiner Partnerin hat dazu geführt, dass ein solches aufmerksames gegenseitiges Zuhören in der Beziehung mit diesem ihm wichtigsten und vertrautesten Menschen immer schwieriger geworden ist.

    Mit der unterschätzten Fertigkeit guten Zuhörens, dem wichtigsten Rüstzeug der Mitarbeitenden von Tel 143, beschäftigt sich das zweite Kapitel. Die Erfahrungen der Dargebotenen Hand zeigen, dass echtes Zuhören in vielen Beziehungen – ob im privaten oder öffentlichen und beruflichen Bereich – häufig zu kurz kommt. Dass die Nummer 143 in der Schweiz jährlich weit über 200 000 Mal angewählt wird – im Durchschnitt alle zwei Minuten rund um die Uhr –, hängt aber auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. Noch nie lebten in der Schweiz so viele Menschen in einem Singlehaushalt – rund 1,3 Millionen sind es aktuell. In urbanen Regionen lebt heute fast jeder Zweite in einem Einpersonenhaushalt. Viele der meist jüngeren Singles wählen diese Wohnform ganz bewusst und fühlen sich wohl damit. Doch es gibt auch die anderen. Das Risiko, inmitten des Trubels zu vereinsamen, ist im neuen Jahrtausend nicht geringer geworden.

    Es fehlt nicht an Belegen, wonach das helfende Zuhören sogar bei jenen Menschen zu kurz kommt, die von Berufs wegen gut daran tun, diese Disziplin ganz besonders zu pflegen. Neuere Studien bescheinigen eindrücklich die ausserordentliche Bedeutung guten Zuhörens für Ärzte und für die Genesung ihrer Patienten. Zeitdruck und Kommunikationsdefizite sorgen aber dafür, dass dieses Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft wird. Wer viel Stress hat, dem fällt die konzentrierte Arbeit mit den eigenen Ohren oft besonders schwer.

    Etwa in der Mitte des Gesprächs, fühlt sich der Mann am Telefon psychisch, aber auch körperlich etwas besser, seine grosse Anspannung ist ein wenig gewichen. Der Anrufer hat dank des klärenden Gesprächs etwas Übersicht und auch wieder etwas mehr Klarheit über seine Gefühle gewonnen. Von einer Lösung seiner Probleme mag er noch weit entfernt sein; er hat aber neue Zuversicht gewonnen und weiss etwas besser, wo er ansetzen könnte. Ein paar Empfehlungen für konkrete Hilfsangebote aus der Region hat er sich notiert, falls er sich für weitergehende Schritte entscheiden sollte. Da er zum ersten Mal angerufen hat und die Dargebotene Hand gar nicht richtig kennt, möchte er gegen Ende des Gesprächs vom Gegenüber noch wissen, wer eigentlich hinter dem Angebot von Tel 143 steht.

    Wer sind die Dargebotenen Hände? Von ihnen handelt das dritte Kapitel; von den schweizweit rund 640 Freiwilligen, die den »Service public für die Seele« rund um die Uhr und ohne finanzielle Entschädigung in Schwung halten. Was sind ihre Motive? Warum bleiben sie ihrer Organisation so besonders lange treu und identifizieren sich so stark mit ihr? Wo liegen die Stärken gut ausgebildeter Laien im psychosozialen Bereich? Was können sie allenfalls besser als die Profis, und wo gelangen sie an ihre Grenzen?»

    Mit gutem Grund äussern sich Dargebotene Hände zu ihrer Tätigkeit in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend, gilt es doch auch stets, der Anonymität – eines der Markenzeichen von Tel 143 – Sorge zu tragen. In kurzen Statements sollen sie nun aber zu Wort kommen und mit ihrer Offenheit Einblick in ihre wichtige Arbeit bei der Dargebotenen Hand geben. Diese Arbeit bringt es mit sich, im Hintergrund zu bleiben; sie ist aber gleichzeitig auch auf Öffentlichkeit angewiesen – einerseits, um immer wieder das Angebot in Erinnerung zu rufen, andererseits, um genügend neue Mitarbeitende zu finden.

    Die Dargebotene Hand wurde im Jahr 1957 in Zürich gegründet – der Aufbau bis zur heutigen föderalistischen Struktur mit eigenständigen Stellen in zwölf Regionen dauerte rund 20 Jahre. Welche bekannten Namen standen hinter der Gründung? Und wie wurde aus einem Zweipersonen-Betrieb im Zürcher Aussenquartier die heutige Freiwilligenorganisation? Das vierte Kapitel wagt neben dem historischen Rückblick schliesslich auch den Ausblick in die Zukunft.

    Der Mann, der sich in der Zwischenzeit für das Gespräch bedankt und verabschiedet hat, war nur einer von Zehntausenden, die jährlich in allen Sprachregionen der Schweiz die Nummer 143 wählen: Das Schlusskapitel bietet Einblicke in drei Dutzend authentische Gespräche aus dem vergangenen Jahr, die zum Schutz der Anrufenden anonymisiert und verfremdet wurden. Diese Gespräche zeigen vor allem eines: dass es wohl kein Thema, kein Problem, keine Not gibt, die nicht an die Dargebotene Hand herangetragen würden. Zwischen den Hauptkapiteln finden sich zudem drei Interviews mit namhaften Fachleuten, die aus ihrer jeweiligen Perspektive das Angebot der Dargebotenen Hand bewerten und einordnen.

    Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage hat in der Schweiz rund jede zehnte Person bei der Dargebotenen Hand entweder selbst schon einmal angerufen (drei Prozent), oder sie kennt jemanden, der sich bei Tel 143 schon einmal Hilfe geholt hat (sechs Prozent).[1] Nach einer Anlaufstelle gefragt, an die man sich in einer persönlichen Krise oder Notlage anonym wenden kann, nennen 40 Prozent die Dargebotene Hand. Ebenso viele würden sich in einer Lebenskrise »sicher« oder »eher« an Tel 143 wenden. Diese Zahlen zeigen, wie bekannt die Kurznummer für emotionale Erste Hilfe ist. Dieses Buch möchte dazu beitragen, dass noch mehr Menschen wissen, was und wer hinter den drei Ziffern steht: ein Service public im besten Sinne des Wortes – von der Bevölkerung für die Bevölkerung.

    I. 20 Minuten Gesundheit tanken

    I.

    20 Minuten Gesundheit tanken

    »Hallo, guten Tag. Haben Sie Zeit?« So oder so ähnlich melden sich bei den zwölf Regionalstellen von Tel 143 in der ganzen Schweiz täglich Hunderte Anrufende. Im Durchschnitt dauert ein Gespräch rund 20 Minuten, die Unterschiede sind jedoch beträchtlich: Kurzgespräche von wenigen Minuten stehen Gesprächen gegenüber, die auch mal eine Stunde und mehr dauern können. Der Hälfte aller Anrufenden reicht eine Viertelstunde, die andere Hälfte liegt darüber.

    Neben der Anonymität ist die schnelle und rund um die Uhr garantierte Verfügbarkeit das grosse Plus der Schweizer Notrufnummer für emotionale Erste Hilfe. Das bringt mit sich, dass die Menschen, die sich an die Nummer 143 wenden, und auch die Themen kaum unterschiedlicher sein könnten. Was zeichnet dieses Angebot besonders aus? Wo liegen die Möglichkeiten, wo aber auch die Grenzen des besonderen Settings von Tel 143?

    Die zahlreichen Anrufenden erwarten von einem Gespräch neben Klärungen zu belastenden Problemen auch emotionale Entlastung. Verständlicherweise hoffen viele, dass es ihnen nach einem solchen Gespräch besser geht als vorher. Leider gelingt das nicht immer. Wenn es aber gelingt, dann hinterlässt das nicht nur in der Psyche, sondern auch im Körper der Anrufenden positive Spuren. Mit solchen Zusammenhängen zwischen psychischer Öffnung für eigenes Leid und körperlicher Gesundheit beschäftigt sich ein neuerer Forschungszweig der Medizin. Zugespitzt könnte man sagen, die Dargebotene Hand trage mit ihrem Angebot nicht nur täglich zur Wiederherstellung des emotionalen Gleichgewichts und damit zum psychischen Wohlbefinden der Menschen bei, sondern leiste auch einen messbaren Beitrag zur körperlichen Gesundheit. Davon handelt der zweite Teil dieses Kapitels.

    Ohr an Ohr und doch geschützt

    Möglichst schnell und unkompliziert in einer seelisch belastenden Situation erreichbar sein – das ist das Credo von Tel 143. Entlasten, trösten oder Mut machen, hinführen zu eigenen Entscheidungen, Hinweise geben zu weiterführender Hilfe und kompetenten Fachstellen, Begleiten von Anrufenden, die keine Hoffnung mehr haben – das sind Leistungen, die vom grossen Schweizer Sorgentelefon erwartet werden.

    Das Spektrum der Ratsuchenden reicht dabei von Menschen mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion, die sich zu einem Problem schon selbst einiges überlegt haben, über Menschen, die einen klärenden gedanklichen Austausch über ihre momentanen Emotionen brauchen, bis hin zu sogenannten »austherapierten« Menschen ohne Hoffnung auf Heilung oder IV-Bezügern ohne Chance auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Nicht selten ist für solche perspektivlosen Menschen die Dargebotene Hand die einzige Möglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation.

    Typisch für die Dargebotene Hand ist nicht nur dieses breite Spektrum der Anrufenden, sondern auch die nur auf die Stimme oder im Falle der Onlineberatung nur auf das Schreiben beschränkte Kommunikation. Es fehlt also die Unmittelbarkeit des persönlichen Kontaktes, welche die Wahrnehmung des Gegenübers mit allen Sinnen ermöglicht. Diese »reduzierte Kommunikation« via Telefon und Internet hat zwar einige Nach-, aber auch gewichtige Vorteile.

    Der Telefon- oder Onlinekontakt ist fragil, Kontakte können ebenso einfach und schnell wieder abgebrochen werden, wie sie zustande gekommen sind. Gelegentlich gelingt es einer Dargebotenen Hand nicht, zu einer besonders ängstlichen oder kritischen Person das für ein Gespräch notwendige minimale Vertrauen aufzubauen – der Anrufende quittiert dies mit dem Auflegen des Hörers. Oder die anrufende Person wollte das Angebot nur einmal ausprobieren, fühlt sich dann aber doch nicht im Stande, ein Gespräch zu führen. Sogenannte »Schweigeanrufe«, bei denen eine Person hör- oder spürbar in der Leitung ist, jedoch trotz Einladung nicht zu sprechen beginnt, sind daher nicht selten.

    Die Reduktion auf den akustischen Kanal lässt einiges offen: Es besteht Raum für Fantasien über Anrufende. Deshalb tun die Mitarbeitenden gut daran, sich diese »Gefahr« der eigenen Interpretationen und damit Verzerrungen immer wieder vor Augen zu führen. Dass man immer wieder gerne seinen eigenen Bezugsrahmen nutzt, um Unbekanntes einzuordnen, ist unvermeidlich, man sollte sich dessen aber ganz besonders bewusst sein.

    Die Dargebotenen Hände konzentrieren sich bei ihrer Arbeit ganz auf die Stimme, auf den sprachlichen Inhalt. Nonverbale Signale wie Aussehen, Mimik oder Körperhaltung, die bei direkten Kontakten einen wesentlichen Anteil an der Kommunikation haben, fehlen also im Setting von Tel 143 gänzlich.

    Diese reduzierte Kommunikation hat jedoch auch klare Vorteile: Die Konzentration auf den einen Kanal erleichtert einerseits das aktive Zuhören. Fachleute weisen aber vor allem auf einen Umstand hin, der mit der treffenden Formel »Nähe durch Distanz« umschrieben wird. Mit der auf den ersten Blick paradox klingenden Umschreibung ist gemeint, dass es Hilfesuchenden wegen der reduzierten Kommunikation leichter fallen kann, Dinge aus ihrem Leben offen auszusprechen. Obwohl sich zwei Menschen am Telefon ganz nahe sein können, sind Anrufende durch die Distanz gleichzeitig besser geschützt als bei einem Vieraugengespräch. Damit bietet das Setting der Dargebotenen Hand Anrufenden neben der Anonymität eine zusätzliche Sicherheit und Motivation, sich zu öffnen. Sie können ihre Emotionen dosierter »zeigen« und behalten so eine grössere Kontrolle: Wenn Anrufende weinen oder die Haltung verlieren, werden sie vom Gegenüber nicht mit allen Sinnen wahrgenommen – sie müssen sich weniger »entblössen«.

    Noch stärker trifft die Formel »Nähe durch Distanz« bei der Onlineberatung zu. Hier können die Schreibenden noch besser kontrollieren, wann sie was von sich preisgeben möchten. Es erstaunt daher nicht, dass schambehaftete oder tabuisierte Themen wie Suizidalität, Gewalt oder Sexualität bei der Onlineberatung überdurchschnittlich häufig angesprochen werden.

    Die Autorin Rabea Kosakowski, die die Möglichkeiten und Grenzen der mit der Dargebotenen Hand vergleichbaren deutschen Telefonseelsorge in einem Artikel auf den Punkt bringt, schreibt dazu: »Gerade weil das Telefon Intimität und Distanz auf diese einzigartig ambivalente Weise kombiniert, fällt es Anrufenden leichter, etwas auszusprechen, das sie im direkten persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht eher verschweigen würden, denn die Möglichkeit zu Anonymität und Unverbindlichkeit entlastet von Verantwortung.«[2]

    Eine weitere Besonderheit des Angebots ist, dass Anrufende sehr schnell zur Sache kommen können. Die Mitarbeitenden sind nicht selten bereits nach wenigen Minuten mitten im Thema. Sie

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