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Die Wasser des Naryn
Die Wasser des Naryn
Die Wasser des Naryn
Ebook964 pages12 hours

Die Wasser des Naryn

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About this ebook

Dieser Roman basiert auf wahre Ereignisse im Jahr 1939.
Beinahe 200.000 Freiwillige kamen aus allen Sowjetrepubliken an den Rand der usbekischen Schwarzen Wüste. Sie hoben in 27 Tagen ein Kanalbett von 270 Kilometer Länge und drei Meter Tiefe aus, damit mehr als 2.000 Quadratkilometer Wüste bewässert und fruchtbar gemacht wurden.
Noch lange nach der siegreichen Oktoberrevolution mussten enorme Schwierigkeiten überwunden werden, um das Land aus tiefster Rückständigkeit zu befreien. Enorme Hindernisse durch Vorurteile und Sabotage seitens der gestürzten Herrscher und auch durch neue Bürokraten galt es zu überwinden.
Diese gigantische Aufbauleistung war auch eine Grundlage für den engen Schulterschluss zur Verteidigung der Sowjetunion, als nur wenige Jahre später, 1941, die Armeen des Hitlerfaschismus die Sowjetunion überfielen.
Mit der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion (1956), wurde durch den rücksichtslosen Ausbau des Kanalsystems die Einheit von Mensch und Natur infrage gestellt. Nach der kapitalistischen Leitlinie eines unaufhörlichen Wachstums der Produktion wurde der Anbau von Baumwolle forciert, die enorme Mengen von Wasser benötigt.
LanguageDeutsch
Release dateOct 24, 2017
ISBN9783880214781
Die Wasser des Naryn

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    Die Wasser des Naryn - Nikolai Birjukow

    2017

    ERSTER TEIL

    ERSTES KAPITEL

    Von verschwimmenden violetten Flecken überzogen, flammte noch immer das Abendrot, doch am tiefblauen Himmel zeichnete sich unmittelbar über Kara-Wadi bereits ein kaum sichtbarer weißlicher Kreis ab, der einen Vollmond ankündigte. Es war, als wehe die Abenddämmerung aus der Steppe herüber. Sie verwischte die Umrisse der Duwale, und die Hauptstraße des Kischlaks war wie in Rauch getaucht.

    Zwei Frauen verließen den Hof des Kolchos-Miraben Rachim Taschmatow. Ihre Gesichter waren in Parandshas gehüllt.

    »Die Glückliche! Sie weint vor Freude«, sagte die eine.

    »Kein Wunder«, meinte die andere, »wenn man von einem solchen Recken begehrt wird!«

    »Du hast wohl recht. Doch auch Ai-Nor braucht sich nicht arm zu stellen: Eine wie sie hätte früher einen Platz am Emirhof bekommen und alle anderen Frauen ausgestochen. Unsere Burschen beneiden Taschpulat.«

    »Ein prachtvolles Paar, niemand wird das bestreiten!«

    Auf dem Pfad, der sich dicht an den Duwalen entlangschlängelte, erschien eine dritte, ebenfalls in eine Parandsha gemummte Gestalt. Es war Mariam Berdyjewa, die Freundin der Braut. Sie näherte sich der Pforte und entblößte die untere Gesichtshälfte.

    Mariam und Ai-Nor wurden im Kischlak die Unzertrennlichen genannt. Immer, wenn man Mariam lachen hörte, konnte man sicher sein, dass im nächsten Augenblick auch Ai-Nors Lachen ertönen würde, und stimmte Ai-Nor einmal ein Lied an, dann fiel sofort auch Mariam mit ein. Gemeinsam gingen sie beim Morgengrauen aufs Feld, wo sie Schulter an Schulter arbeiteten, und ihre Unzertrennlichkeit ging so weit, dass sie sogar unter einer Decke schliefen – bald auf Ai-Nors Hof, bald bei Mariam. Und morgen sollte eine Hochzeit stattfinden, die wie ein Messer diese jungfräuliche Freundschaft zerschneiden musste – Taschpulat war stolz und würde Ai-Nor gewiss nur für sich haben wollen. Dieser heißblütige Dshigit! So einer bekommt es fertig, selbst auf die Sonne eifersüchtig zu sein, wenn sie sein Eheweib allzulange bewundert!

    »Salem aleikum, Mariam! Wie ist dein Befinden?«

    »Danke«, erwiderte Mariam dumpf und schlüpfte durch die Pforte.

    Die beiden andern schüttelten mitfühlend den Kopf.

    »Sie grämt sich, für sie ist es wirklich nicht leicht.«

    »Ein wahres Wort. Doch strenggenommen ist es ihre eigene Schuld: Für unsereins gilt es doch geradezu als unanständig, sich dermaßen an ein anderes Weib zu hängen. Der Himmel hat uns Frauen ein besonderes Los zugeteilt.«

    Auf dem Hof des Miraben rauschten die Pfirsich- und Granatbäume. Zwischen der hinteren Mauer und der Kibitka, die flach auf einem Sandhügel ruhte, wanden sich Weinreben um Reihen von Stangen und bildeten so einen grünen Korridor. Reben umrankten auch die Pfähle des Hauses und liefen zum Vordach hinauf, von dem sie wie wehende Krausbärte herunterhingen.

    Unter diesem grünen Vordach war auf einem Teppich ein Dostarchan ausgebreitet. Um ihn herum saß der Herr des Hauses mit seinem alten Freund Tadshibai und dessen Schwiegersohn Muchitdin und mit sechs Greisen: zwei davon waren seine Nachbarn, die vier anderen wohnten in der weiteren Umgebung.

    Der Schweiß rann über ihre braunen, wetterharten Gesichter, setzte sich in die Runzeln und Falten und nässte die grauen Bärte. Das kam jedoch nicht von dem heißen Koktee, sondern durch den Streit, der so erregt war, dass sie jede ihrem Alter angemessene Würde vergaßen und sich gegenseitig ungeniert ins Wort fielen. Jeder brüllte seine eigenen Gedanken einfach heraus, doch drei Worte wurden von allen Streitenden immer wieder ausgestoßen: Syr-Darja … Kara-Darja … Naryn …

    Im Frühjahr hatten sich ungewöhnliche Dinge ereignet, eine so tolle und märchenhafte Zeit hatte es wohl kaum jemals gegeben! Ehe noch die Verwunderung abgeebt war, die die wuchtigen Hackenschläge der Ljagan-Helden hervorgerufen hatten, ging durch die Zeitungen eine neue, noch aufregendere Kunde: In den Ferganatälern, in den Bergen von Tadschikistan und in den kirgisischen Steppen sprächen bereits Tausende von Menschen von jener Gegend, in der die breite Syr-Darja den rasenden Naryn aufnahm und mit ihm zum Aralsee weiterströmte.

    Wasser! Gab es etwas auf der Welt, das die Augen, die Ohren und das Herz der Dechkanen mehr erfreute als Wasser? Wo die Flüsse versiegen, versiegt auch das Leben – von dort müssen die Menschen fliehen, und alles, was nicht auf den Schultern getragen oder in Arbas mitgenommen werden kann, fällt dem Sande zum Opfer. Solche verlassenen Siedlungen werden von alters her tote Kischlaks oder schwarze Friedhöfe genannt. Reglos warten dort mit erloschenen Herdfeuern die Häuser auf die Stunde, da sie die Steppe verwehen wird mit ihrem heißen Sand; in der glühenden Luft knistern die Bäume mit ihren nackten Zweigen, die Obstgärten sterben, und über Gräbern von Menschengenerationen wachsen hohe Sandkurgane empor.

    Wo viel Wasser ist, wächst und gedeiht alles Leben ohne Mühe. Wie schwer haben es dagegen die Kolchosen, wenn ihre durstigen Felder und Gärten den Launen der Sonne ausgesetzt sind, die das Tauen der fernen Gletscher entweder zurückhält oder zu solcher Eile antreibt, dass das Wasser im Frühjahr tagelang in brausenden Strömen über den Erdboden hinwegrinnt, ohne für den Sommer auch nur einen Tropfen übrigzulassen.

    Doch auch unter den wasserärmsten Kischlaks findet man kaum einen dürftigeren als Kara-Wadi. Es hat schon guten Grund, dass er seinen Namen der Schwarzen Wüste verdankt, an deren Saum er sich festhält. Aber an dem Tag, an dem in dieser Wüste der Spiegel eines breiten Kanals aufblinkt, wird hier eine große Veränderung beginnen, und die wird andauern, bis auf jedem Hofe Wohlstand und Zufriedenheit eingekehrt sein werden.

    Ein verlockender Gedanke, doch kaum glaubwürdig. Die Syr-Darja war weit und noch weiter der Naryn.

    »Den Jungen könnte man’s noch verzeihen, aber es gibt auch Greise, die ebenso gedankenlos sind wie die Grünschnäbel«, empörte sich Tadshibai. Er hatte hervorquellende, böse Augen, und seine grauen Brauen, sein Schnurrbart und sein außergewöhnlich dünner Bart sahen aus, als wären sie nicht echt, sondern in aller Eile an sein dunkles, zerfurchtes Gesicht angeklebt. »Wenn die Musik gut ist, tanzen sogar die Schlangen!«, fuhr er fort. »Und wenn man nach Wasser ruft, findet sich wohl keiner, der nicht sagt: Ich komme mit!« Nach einem flüchtigen Blick auf Mariam, die gerade in der Kibitkatür verschwand, kehrte er das Gesicht seinem Nachbar zu und stach mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Luft. »Doch wenn es sich um große Dinge handelt, dann wäre es schon ratsam, dem Herzen zu sagen: Sei still, du Dummes! Lass doch auch den Kopf mal zu Worte kommen! Und der Kopf, der meint: Ein hungriges Huhn träumt eben immerfort von Körnern.« Er lehnte sich mit seinem ganzen Oberkörper zurück und schlug sich aufs Knie: »Ich glaube nicht an das Wasser des Naryn! Auch wenn ich immerzu davon träume – ich glaube nicht daran!« Sein Nachbar hatte den Mund schon halb geöffnet, doch Tadshibais harter Blick ließ ihn erstarren. »Mir ist, ihr Alten, als ob ihr die Weisheit von Chan-Chasarts Worten vergessen hättet: ›Eher wird der Himmel zur Erde und die Erde zum Himmel, als dass ein Fluss plötzlich rückwärts strömt.‹ Das sagte Chan-Chasart den Menschen, die zu seiner Zeit davon träumten, die Jaksart durch ihre Felder fließen zu lassen.«

    »Denk doch an den Ljagan!«, rief endlich Tadshibais Nachbar, und ein anderer Greis, mit einem dunklen und starren Gesicht wie aus einem alten, rissigen Fresko, fügte spöttisch hinzu: »Der Himmel nimmt noch seinen alten Platz ein, und die Erde hat sich nicht einmal geregt, doch die Isfairam gehorchte dem Willen der Ljagan-Recken und floß stromaufwärts, um mit ihrem Gewässer die schwache Schachimardan zu stützen.«

    »Und woraus schließt du, Tadshibai-Aka, dass die Herzen der Menschen dumm sein müssen?«, rief wieder Tadshibais Nachbar; seine rötlichen Augen wurden schmal und giftig. »Und warum glaubt Tadshibai-Aka, Tausende von Menschen, die darauf brennen, den Kanal zu bauen, hätten keinen einzigen Kopf auf den Schultern?«

    Muchitdin nahm die Schale vom Mund und sah seinen Schwiegervater gespannt an: Der Alte ging geradewegs auf die Falle zu, die ihm seine Gegner mit ihren unverblümten Fragen stellten, und es war abzuwarten, ob er ihr entgehen würde.

    Auch die Greise lauerten auf Tadshibais Antwort – seine Anhänger mit furchtsamer Spannung, die Widersacher triumphierend.

    Nur der Herr des Hauses schien völlig unberührt zu sein. Ohne seinen Freund eines Blickes zu würdigen, lauschte er gespannt auf die lebhaften Stimmen, die von dem Itschkarihof herüberdrangen. Ein sanfter Windstoß bewegte seinen Bart, der so buschig war wie Baumwolle erster Ernte, und die Flaumbüschel, die seinen Schädel umrahmten. Ai-Nors Bräutigam war der beste Ketmenmann von Kara-Wadi und die Hochzeit kein alltägliches Ereignis: Mit der Absicht, dem Bräutigam Ehre zu erweisen und auch dem alten Miraben Anerkennung für seine vieljährige ehrliche Arbeit zu bekunden, hatte der Kolchos alle mit der Hochzeit zusammenhängenden Ausgaben übernommen.

    Der ganze Kischlak verfolgte aufmerksam die Vorbereitungen zum Hochzeitsfest, doch nicht dieser Umstand versetzte jetzt den Alten in Erregung. Vor seinen Augen, die von dichten Brauen überdacht waren, stand noch der unlängst erlebte Abend, an dem Ai-Nor seine Beine umschlungen und ihn weinend gebeten hatte, Taschpulats Brautwerbern abzusagen. Er war unbeugsam geblieben – was wusste schon ein unerfahrenes siebzehnjähriges Mädchen vom Leben. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn er sie mit einem Scheusal verheiraten oder es wie Tadshibai hätte machen wollen, der seine Enkelin dem Vorsitzenden des Erntesowjets, diesem Muchitdin Nijasow gegeben hatte, der seinem Alter nach recht gut Amljachons Vater sein könnte. Doch Taschpulat – das war etwas anderes! Auch wenn Mohammed selbst als Brautwerber herabgestiegen wäre, hätte er für Ai-Nor keinen besseren Ehemann wählen können und für Taschpulat kein besseres Weib. Die Leute redeten wahr – die beiden waren wie Farchad und Schirin. Ai-Nor hatte wohl keinen Augenblick daran gedacht, welches Opfer Taschpulat ihrem künftigen Glück zuliebe brachte! Und in Rachim Taschmatows Kibitka würde es jetzt still werden, einsam und kalt. Kein Nachbar würde mehr am Duwal stehenbleiben, um dem Gesang seiner Pflegetochter zuzuhören, niemand mehr sagen: »Eine Nachtigall singt in Rachims Garten!« Und nie mehr würde er beim Erwachen ihr liebes, über seinen grauen Kopf geneigtes Gesicht lächeln sehen … Von solchen Gedanken bekam er einen stechenden Schmerz in der Brust. Um ihn zu besänftigen, dachte Rachim immer wieder an das, was er Ai-Nors Vater kurz vor seinem Tod geschworen hatte, und das Bewusstsein, dass Mamur Iminows Seele jetzt voller Freude war und Rachims Werk segnete, milderte den Gegensatz zwischen seinen sich widersprechenden Gefühlen. Mag sie glücklich werden, ich habe ja nicht mehr lange zu leben!, dachte er traurig, wie stets in solchen Minuten, und obwohl ihn der Schmerz noch immer nicht verlassen wollte, war er doch nicht mehr so scharf wir vorher. Vielleicht irrte er, wenn er Ai-Nors jetzige Gefügigkeit als Einverständnis auslegte? Heute hatte ihn ein flüchtiger, doch vorwurfsvoller Blick von ihr überrascht, und zum ersten Mal während der ganzen Woche war er unsicher geworden, ob für Ai-Nor die Ehe mit Taschpulat wirklich ein Glück bedeutete. Was war mit ihr? Hatte sich das Mädchen in jemand verliebt?

    »Der Ljagan-Kanal ist schon etwas Großes, doch …« – Tadshibai langte nach einer Fleischpastete, betastete sie und legte sie wieder auf den Dostarchan zurück – »woran sieht man denn, dass die Isfairam plötzlich rückwärts fließt? Laufe ich zum Beispiel nach Fergana, und mache ich, sagen wir, bei Margelan kehrt, so kann man das schon als ›rückwärts‹ bezeichnen. Wie aber, wenn ich vor dem Gang in die Tschaichana bei Rachim-Aka vorbeigehe! Bei Allah, da wird doch niemand behaupten können, ich sei von meiner Pforte aus ›rückwärts‹ gegangen! Man sagt einfach: Tadshibai-Baba ist zu seinem Nachbarn gegangen. Habe ich recht, Balabar?« Seine Anhänger nickten ihm bejahend zu. »Was nun die Köpfe anbetrifft, da ist mir etwas anderes bekannt: Wenn der Kopf denkt, ruht die Zunge. Ein kluger Mensch, der Erwachsene sich an Märchen laben sieht, schüttelt vielleicht den Kopf, sagt aber nichts – wozu stören, wenn es selbstvergessenen Menschen soviel Spaß macht? Als die Ljaganer ihren Kanal ausgedacht und sich an die Regierung gewandt hatten, erhielten sie zur Antwort, sie mögen nur bauen. Heute strotzen alle Zeitungen von solchen Anträgen, aber …« Tadshibais Gegner wechselten einen Blick: In der Tat, warum schwieg die Regierung? »Du wolltest mir doch etwas entgegnen, Rachim-Aka?«, fragte Tadshibai triumphierend. Rachim fuhr zusammen und sah seine Freunde mit einem Lächeln an, das ebenso seine Verwirrung ausdrückte wie eine Bitte um Entschuldigung. »Hältst du es für möglich, die Syr-Darja durch unsere Gegend fließen zu lassen?«

    Rachim zuckte unbestimmt die Schultern: Hatte er nicht schon mehr als einmal seine Meinung geäußert? Dann sagte er: »Flüsse strömen weder vorwärts noch rückwärts, sondern immer abwärts, und Kara-Wadi liegt viel höher als die ferne Syr-Darja. Einen Fluss den Berg hinaufzuzerren ist genauso schwer wie …« – er fand nicht den richtigen Ausdruck und machte eine Handbewegung, als wollte er ihn aus der Luft greifen – »ihn zum Umkehren zwingen. Aber das Volk spricht ja von etwas anderem – es will den Naryn von der Syr-Darja trennen, einen Kanal durch das ganze Tal ziehen und den Naryn in unsere Kara-Darja fließen lassen, aber …« Jetzt sitzt sie wahrscheinlich von ihren Freundinnen und von alten Weibern umringt und stickt an einem Belbog für Taschpulat, und ihre Augen sind genauso wie heute Morgen, dachte er.

    »Halt es bitte für keine zu große Mühe, uns mitzuteilen, was du mit diesem ›aber‹ sagen willst«, bat Tadshibai aufhorchend.

    »Aber viele Felsen versperren den Weg des Naryn zur Kara-Darja. Ich bin nicht dort gewesen, doch ich kenne sehr gut die Berge von Schachimardan, und Felsen sind überall gleich. Ob man sie mit dem Ketmen durchdringen kann? Fragt den Himmel! Ich habe einmal von einem Mann erzählen hören, der es versucht hat – er hieß Abdu-Selim …«

    Tadshibai nickte Rachim dankbar zu und sah dann seinen Nachbar streng an.

    »Eh, warte doch, Aka!«, rief dieser empört. »Wozu alten und jungen Wein in denselben Krug gießen? Während Abdu-Selim von Kolchosen nicht einmal geträumt hat, sind wir, Allah sei Dank, selber Kolchosleute.«

    »Ist Ljagan nicht ein überzeugendes Beispiel?«, unterstützte ihn der Greis mit dem rissigen Freskogesicht. »Dieser Kanal in nur siebzehn Tagen! Towba! Towba!«

    Tadshibai lachte gallig: »Der Naryn ist nicht die Isfairam, und die Syr-Darja keine Mutter, von der man erwarten könnte, dass sie euch ihre Brust nur darum bietet, weil ihr nicht einzeln, sondern kolchosweise eure Münder aufsperrt!«

    Der Streit begann von neuem. Muchitdin schüttelte sich die Krümel von den Knien und erhob sich vom Teppich.

    Er war nur auf einen Sprung gekommen, um mit Rachim ein paar Fragen wegen der Hochzeit zu besprechen, auf der er die ehrenvolle Rolle eines Toibaschi übernehmen sollte, es sah aber ganz so aus, als sei er nicht zur rechten Stunde erschienen. So amüsant dieser Streit der alten Männer auch war, ihn konnte er keineswegs in Hitze bringen. Er war im Innern überzeugt davon, dass der Kanal etwas Unmögliches sei, und meinte, leeren Geredes wegen sollte man sich nicht aufregen.

    »Mit Eurer Erlaubnis, Baba, komme ich später noch einmal – wenn es Euch recht ist, bei Tagesanbruch.«

    Nachdenklich streichelte sich der Mirab den Bart – es war peinlich, einen Menschen unverrichteter Dinge wieder gehen zu lassen, doch das Gespräch über die Hochzeit und alles, was mit ihr zusammenhing, würde ihn jetzt nur bedrücken.

    »Wichtige Fragen, Muchitdin-Dshan?«

    »O nein, Baba, nichts von Bedeutung.« Muchitdin drückte die Hand an seine Brust und verabschiedete sich durch eine ehrfürchtige Verbeugung.

    Als er die Pforte hinter sich geschlossen hatte, blickte er bedächtig in beiden Richtungen die Straße hinunter. Menschengestalten huschten durch den Nebel, und es roch nach Rauch. Als der Wind kühl sein Gesicht berührte, verspürte Muchitdin den Duft von in Butter gebratenem Hammelfleisch. Dieser Duft kam von den Höfen her, deren Besitzer sich freiwillig bereit erklärt hatten, für den morgigen Hochzeitstoi Speisen beizusteuern.

    Wohin also – dorthin oder zu Taschpulat, der sicherlich schon aus der Bezirksstadt zurück war?

    Ein paar Schritte von der Pforte entfernt, erinnerte er sich an des Miraben Worte von den Felsen, und ein geringschätziges Lächeln verlor sich in dem düsteren Dickicht seines welligen, leicht angegrauten Bartes. Es gab wohl niemanden, der in der Lage gewesen wäre, mit größerer Sachkenntnis als Muchitdin über die Festigkeit und Bezwingbarkeit verschiedener Arten von Bergen zu urteilen – so viel bergiges Gelände hatte er auf seiner Flucht vor den Rotarmisten durchstreifen müssen. Er kannte die Bergketten von Schachimardan genauso gründlich wie den dämmerigen Pjandsh und die Gletscher des Pamirs. Der raubtierhafte Glanz in seinen Augen währte jedoch nur einen Augenblick. »Die Asche verbrannter Tage ist etwas, worin man nicht wühlen soll«, wies er sich unwirsch selbst zurecht.

    Taschpulat wohnte am anderen Ende des Kischlaks. Schon von weitem vernahm Muchitdin eine lustige Melodie; silberhelle klare Klänge perlten und schmolzen in der Luft.

    Der dort spielte, konnte nur Mirsa Radshibi sein – in Kara-Wadi war er der Einzige, der der eigensinnigen und feinstimmigen Pascha-Paschi solche zauberhaften Melodien entlocken konnte.

    Die Pforte war nicht abgeschlossen. Als Muchitdin sie hinter sich zumachte, überflog er mit einem geschäftigen Blick den Hof, in dem einige Obstbäume standen.

    Auf einer Bodenerhebung neben dem Kibitka-Eingang saßen und standen junge und auch ältere Kolchosbauern im Kreis um einen Burschen, der einen speckigen Kittel anhatte und Pascha-Paschi blies. Auf dem Nachbarhof waren bereits Kessel für Plow aufgestellt worden, und mit Begeisterung rissen halbnackte Burschen die Reste der Zwischenmauer mit ihren Ketmens nieder. Unter ihren dumpfen Schlägen spritzten die Steinsplitter, und eine trübe Wolke Staub stieg auf.

    In der Nähe stand ein schieläugiger Greis, der sich ratlos den Hinterkopf kratzte und von einem Fuß auf den andern trat. Beim Anblick Muchitdins trippelte er mit einer für sein ehrwürdiges Alter erstaunlichen Geschwindigkeit zur Pforte.

    »Stimmt das, Muchitdin-Dshan, dass mein Duwal sofort nach dem Toi wiederaufgebaut wird?«

    »Unverzüglich! Ihr werdet nichts dabei einbüßen, Baba! Euer Duwal war reichlich alt und drohte von selbst einzufallen. Und der neue, den Ihr schon am Morgen nach dem Toi bekommen werdet, wird nicht nur Euch, sondern auch noch Euren Enkeln gute Dienste leisten.«

    Der Alte richtete den Blick seines einzigen Auges auf sein Haus, das ihm von dem fremden Hof aus ebenso unanständig erschien wie eine Frau ohne Parandsha: »Chop!«

    »Ist Taschpulat schon zurück?«

    »Nein.«

    Sie gingen auf den spielenden Radshibi zu, und der Alte sagte: »Ich komme eben aus der Tschaichana. Wir haben beschlossen, dass dem Toi unbedingt der Katta-Kommunist beiwohnen soll.« Muchitdin war zumute, als weiche er einem plötzlichen Windstoß. »Weshalb?«

    »Wieso – weshalb? Diese Hochzeit – und was für eine Hochzeit – wird doch von einem ehemaligen Landarbeiter gefeiert! Und sein Vater war ebenfalls Landarbeiter! Hat es in früheren Jahren schon einmal so ein Wunder gegeben? Niemals! Und dieses Wunder ist das leibliche Kind von deinem Kolchos, der seinerseits wieder ein leibliches Kind des Kommunismus ist. Darum ist es nur recht und billig, den Kommunisten den ersten Platz einzuräumen auf dem Toi morgen. So denken alle alten Leute, und das haben wir auch dem Vorsitzenden des Kischlaksowjets berichtet.«

    »Und er?«

    Der Alte hob die Schultern. »Juldasch kann denken, was er will; das geht uns nichts an – jede Melone hat ihre eigenen Samen. Wir wollen nur, er soll zu dem Toi den Mann kommen lassen, dem wir alle Ehren erweisen wollen.«

    »Ihr hättet euch erst mit mir beratschlagen sollen«, sagte Muchitdin gereizt, »bin ich nicht der Toibaschi?«

    Das Auge des Alten blinkerte vor Verwunderung.

    »Ist Muchitdin-Dshan etwa unzufrieden, dass er einen so ehrenvollen Gast auf dem Toi begrüßen muss?«

    Muchitdin schwieg.

    Neben dem Tandyr, in dem es nur so zischte und knallte, wirtschafteten emsig ein paar Frauen herum, so alt, dass sie sich nicht mehr vor den Männern zu verhüllen brauchten. Zitternde Flammenreflexe fielen auf das Gesicht des Musikers, der mit geschlossenen Augen dasaß.

    Muchitdin wunderte sich, warum er früher nicht bemerkt hatte, dass Radshibis Wimpern fast so dicht und so lang waren wie bei einem Mädchen, doch sein Staunen war nur von kurzer Dauer, weil seine Aufmerksamkeit von einem ungewöhnlich reinen Ton gefesselt wurde, der einem schwarzlackierten Röhrchen entströmte und sich gleichsam in mondbeschienene Höhen verlor. Man musste befürchten, er könne jeden Augenblick entzweibrechen, um mit einem kläglichen Laut auf den Boden zu fallen und in die winzigsten Klangsplitter zu zerspringen – wie ein Glas, das wuchtig auf Stein schlägt. Mirsa Radshibis Stirn stand voller Schweißtropfen. Wie im Nebel sah Muchitdin einen rothaarigen Greis neben sich stehen, der mit geschlossenen Augen hochentzückt vor sich hin lächelte, während der Ton seinen schwindelnden Höhenflug fortsetzte.

    Schließlich brach er ab und fiel scheinbar vom Himmel herab – in Wirklichkeit war sein Zerplatzen nur Radshibis spitzbübisches Lachen, das wie eine Fontäne aus dem Röhrchen spritzte.

    Er setzte die Pascha-Paschi ab und musterte die Zuhörer mit seinen hellbraunen Augen. Totenstille herrschte einige Sekunden lang, bis jemand Atem holte und ein anderer flüsterte: »Ein Zauberer!«

    Und das Entzücken der Zuhörer entlud sich in einem dröhnenden Beifallssturm.

    »Nicht übel! Das ist ja …« Muchitdin beendete seinen Lobspruch nicht, weil er sich durch Radshibis aufleuchtenden Blick verletzt fühlte. Diese großen, mit langen Wimpern verbrämten Augen waren von einer spöttischen Beredsamkeit: Oho, Muchitdin-Aka, dass du dich von der Musik übermannen lässt, ist ja eine tolle Überraschung!, schienen sie zu sagen.

    »Weiter, Mirsa-Dshan! Spiel doch weiter!«, riefen die Burschen.

    »Wiederhole wenigstens den Schluss, Mirsa, nichts weiter als den Schluss!«, baten die Alten, als er lächelnd den Kopf schüttelte.

    »Ich kann nicht mehr. Ich habe meinem Traktor, der den ganzen Tag gehustet hat, versprochen, ihn heute Abend zu verarzten.«

    Entschlossen steckte Mirsa die Pascha-Paschi in die Tasche und stand auf.

    »Aber morgen spielst du uns bestimmt etwas vor!«

    »Das werde ich ganz bestimmt nicht tun, Muchitdin-Aka.«

    Ein zaghaftes Lächeln kräuselte Muchitdins Lippen: »Warum denn nicht?«

    »Wenn einer schwitzt, sieht er nicht gern zu, wie die andern baden. Warum sollte Mirsa auf dem Hochzeitstoi seines Freundes nur seine Augen am Plow laben und nicht auch den Magen?«

    Die Männer warfen einander Blicke zu, die voller Anerkennung waren für Mirsas Findigkeit. Dieser Bursche war immer so rasch mit seinen Antworten, als habe er die passenden Worte schon auf der Zungenspitze, ehe man noch mit der Frage heraus war.

    Ein lustiger Dshigit! Es hatte schon seinen Grund, dass es im ganzen Kischlak hieß, Sainab Radshibi, seine Mutter, sei so glücklich gewesen, als sie ihn im Schoß trug, und habe selbst in den Wehen lachen müssen, weil er sie schon damals mit seinen Scherzen unterhalten habe!

    »Auf Wiedersehen!«, sagte er plötzlich und verließ mit einer Verbeugung den Hof.

    Eine Frau erschien in der Kibitkatür und gab Muchitdin ein Zeichen, näher zu treten. Er folgte ihrem Wink. Als die Männer, die der Türe am nächsten saßen, die Hausfrau den Namen Junus Tadshibajew nennen hörten, horchten sie auf.

    »Junus ist Taschpulats Jugendfreund«, sagte Muchitdin ruhig. »Ich sehe nicht ein, warum Taschpulat ihn nicht zu seiner Hochzeit einladen sollte.«

    »Muchitdin-Aka, ich habe gehört, die Einladung sei auf deinen Rat hin erfolgt«, erwiderte Taschpulats Mutter mit etwas lauterer Stimme. – Einer der lauschenden Männer schnalzte mit der Zunge, woraufhin ein anderer deutlich vernehmbar »Towba!« vor sich hin flüsterte.

    Der ganze Kischlak wusste von dem heftigen Streit zwischen Tadshibai und seinem Enkel. Er hatte sich im vorigen Herbst abgespielt, und jedermann wusste, dass seine Ursache in der Heirat von Muchitdin und Amljachon zu suchen war: Man erzählte, Tadshibai habe sich von Muchitdin, dem Vorsitzenden des Erntesowjets, heimlich beschenken lassen, und als Junus das von seiner Mutter erfuhr, hatte er gedroht, seinen Großvater und Muchitdin zu verklagen. Seit jenem Tage war der Student kein einziges Mal mehr im Kischlak erschienen.

    »Hoffentlich gibt es keine …«, begann die Frau zaghaft.

    »Beruhige dich, Janojat-Oim, es wird überhaupt nichts geschehen. Wir werden Frieden schließen.«

    Das Gespräch wurde durch das Erscheinen dreier Frauen unterbrochen, die zur Pforte hereingelaufen kamen und Janojat zu sprechen wünschten. Sich im Saum ihres langen Kleides verwickelnd, eilte sie den Dreien sogleich entgegen, die sie umringten und ihr etwas zuflüsterten.

    »Mein Gott!«, rief sie entsetzt aus, und als sie Muchitdin herbeieilen sah, vergaß sie sich und entblößte ihr noch jugendliches, volles Gesicht, das im Gegensatz zu ihren zornerfüllten Augen Verwirrung ausdrückte. »Diese Ai-Nor …«

    »Du hältst mich wohl für ein Weib?«, sagte Muchitdin kalt.

    Janojat wurde rot und ließ die Parandsha wieder herab.

    »Nun? Was ist mit Ai-Nor?«

    »Sie ist ausgerückt!«, presste Janojat mühselig hervor.

    »Wa-a-as?« Muchitdin musterte die verschleierten Botinnen mit einem scharfen Blick.

    »So ist es, Muchitdin-Aka«, plapperte eine von ihnen aufgeregt drauflos. »Als wir Ai-Nor gratulieren wollten, hat sie uns plötzlich beiseite gestoßen, sich die Parandsha übergeworfen und ist zur Tür hinausgestürzt. Rachim-Baba und seine Gäste haben erst gar nicht gewusst, dass es Ai-Nor war, die an ihnen vorbeigelaufen ist.«

    »Taschpulat kommt angefahren!«, riefen die Straßenjungen, die lärmend den Hof überfluteten.

    ZWEITES KAPITEL

    Außerhalb des Kischlaks entledigte sich Ai-Nor der Parandsha. Irgendwo ertönten die feinen Pfeiflaute von Feldmäusen, und auf dem Sand erschien der schwarze Schatten der weit ausgebreiteten Schwingen eines Königsadlers, der über ihr dahinzog. Das Mädchen vernahm ein hartes Geräusch, vielleicht von einer aufgescheuchten Schlange oder von einer Riesenspinne, die mit ihren zottigen Beinen den trockenen Sand aufscharrte. Vom Kischlak her waren gedämpfte Stimmen, Hundegebell und das Knarren der heimkehrenden Arbas zu hören, vermischt mit dem wehmütigen Eselsgebrüll und dem Rattern eines Traktors.

    Ai-Nor stand wie versteinert da und bot ihr Gesicht dem staubigen, stachligen Wind.

    Hat das Leben einen Sinn? Noch vor einer Woche hätte Ai-Nor diese Frage wahrscheinlich gar nicht verstanden. Da hätte sie sich umgeschaut, voll Gier und mit Genuss tief eingeatmet und weit ihre Arme ausgebreitet, als wollte sie die zärtlich glühenden Sonnenstrahlen, die Kühle der schattigen Gärten und das leise Geriesel der Aryks umfangen – alle irdischen und alle himmlischen Dinge und selbst den Wind, der mit der gleichen Leichtigkeit scharfen Staub, betäubende Blütendüfte und klangvolle Mädchenlieder weiterträgt. So war noch vor einer Woche ihr Leben gewesen! Mit Worten hätte sie es nicht beschreiben können, und sie hätte das auch niemals versucht. Sie wusste, dass das Leben gut war, und das war ihr genug. Ihr Pflegevater hatte ihr volle kindliche Freiheit gewährt: Sie spielte, wenn sie spielen wollte, und wollte sie singen, dann sang sie … Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

    Ihr ganzes Gesicht, vor allem aber der eigensinnige Schnitt ihrer kindlich schwellenden Lippen, strahlte jenen besonderen Zauber halbwüchsiger Mädchen aus, der die nahende weibliche Reife schon ahnen lässt und in jedem seiner Züge den Unwillen, von der Kindheit Abschied zu nehmen.

    Ein jäher Windstoß presste das Kleid an Ai-Nors schlanken Körper. Sie zupfte den Gürtel zurecht, rieb sich die Augen und sah in die Höhe. Am östlichen Himmel hingen bereits einige Sterne. Sie waren winzig klein und glichen mattweißen, an ein Stück ausgeblichenen blauen Kattun angefrorenen Eiskrümeln. Einer flammte unvermutet auf und erlosch augenblicklich wieder wie in jähem Schrecken. Inmitten dieser zaghaft schimmernden Sterne strahlte ein selbstzufrieden lächelnder Vollmond, der in irgendeiner schwer zu bestimmenden Weise wie das runde Gesicht eines Mullas wirkte, der ein Verlobungsgebet plappert.

    Weithin zog sich die menschenleere Wüste. Der gelbe Sand wölkte stellenweise auf und legte sich in Falten wieder nieder.

    Mit tränenden Augen betrachtete Ai-Nor die chaotische Hügellandschaft. Ein toter Kischlak! Wie oft war sie mit Mariam in dieser Friedhofswüste herumgeklettert, in der sie sogar ihr Lieblingsplätzchen hatten: die Ruine einer großen Kibitka mit einem gut erhaltenen Herd. Sie hatten Feuer darin gemacht, eine Schurpa gekocht und sich dann Märchen erzählt, die unbedingt gruselig sein mussten. So laut wie Schüsse hatte das Feuer im Herd geknallt, und selbst Geflüster klang dort unwahrscheinlich laut. Jedes Geräusch, das sie nicht selbst hervorriefen, hatte sie frösteln gemacht; das Rieseln von Sand hörte sich an wie Schritte von guten Geistern, und wenn etwas Schweres auf den Erdboden schlug, war es selbstverständlich ein Dew.

    Wann hatten sie zum letzten Male dort gesessen? Das ist schon lange her!, dachte Ai-Nor, obwohl nur eine Woche seitdem verflossen war. Es war an jenem Abend gewesen, als ihr der alte Rachim erklärt hatte, dass sie fortan Taschpulats Braut sei.

    Ai-Nor verspürte bitteres Tränensalz an ihren Lippen, während ihr Herz zornig schlug und sich ihrer wie zusammengeschnürten, heftig atmenden Brust ein dumpfes Stöhnen entrang. Diese Hochzeit war ein Anschlag auf ihre Freiheit, auf ihre ungebundene Jugend! Nie mehr wird sie mit der lustigen Schar ihrer Freundinnen hierherkommen dürfen, um sich ausgelassen im Triebsand zu tummeln. Er war so heiß, dass er fast die Fußsohlen versengte – kichernd und lachend hatten sie sich die rot gewordene Haut gerieben. Ob hier oder in den Kischlakgärten – überall werden wie immer Mädchenstimmen ertönen, nur ihre nicht mehr … Wie einen Vogel in den Käfig wird sie Taschpulat in seinen Itschkari sperren!

    Ai-Nors Hände ballten sich zu Fäusten, und in ihren Augen flackerte ein böses Flämmchen auf, doch nur für einen Augenblick.

    Gut, Ai-Nor, du bist also ausgerückt – aber was kommt nun? sagte eine spöttische Stimme in ihrem Innern. Sie überflog die grenzenlose Wüstenei, und ihre Fäuste lösten sich: In der Tat – was konnte sie jetzt tun? Wohin sollte sie gehen?

    Das ist doch völlig gleichgültig, sagte ihr eine andere Stimme. Nur nicht nach Hause, nicht zu diesen ekelhaften Nachbarinnen zurück, die sie mit ihren Segenswünschen belästigten und um ihr »Glück« beneideten! Sie sah sich nach dem Kischlak um, warf die Kapuze zurück und watete durch den Sand auf die dunklen Hügelgestalten zu.

    Noch niemals war sie allein dort gewesen, und zum ersten Mal fiel es ihr schwer, durch den Sand zu gehen. Als sie endlich den toten Kischlak erreicht hatte, zitterten ihr die Knie, und ihr ganzer Körper war feucht. Um an die Stelle zu kommen, wo sie sonst mit Mariam gewesen war, musste sie über verschiedene Ruinen und durch eine Menge Erdlöcher klettern. Bald erblickte sie die vertraute Kibitka, aber nun wandte sie sich gleichgültig ab. Neben ihr ragte ein grauer Klumpen aus dem Sand, wahrscheinlich der Rest eines Tandyrs, der vor etwa einem halben Jahrhundert zum letzten Mal geraucht haben mochte; auf den setzte sie sich.

    Das, was sie seit einer Woche und besonders heute so brennend gewünscht hatte, war nun in Erfüllung gegangen – sie war allein. Doch nun empfand sie weder Freude noch Erleichterung, sondern nur Grauen bei dem Gedanken an die Heimkehr.

    In der Ferne zeichneten sich die blauen Zacken des Schachimardan-Gebirges vom Himmel ab. Die Schneemassen auf den Berggipfeln wirkten wie erstarrte weiße Wolken. Unweit dieser Berge lag eine Stadt, die so grün war wie keine andere Stadt auf der ganzen Welt – dort wohnte Junus, der Bruder von Amljachon, die im vorigen Jahre Muchitdin heiraten musste. Junus hatte seiner Schwester erzählt, in den Straßen von Fergana treffe man nur selten Frauen mit Parandshas – sie gingen dort mit offenen Gesichtern umher, und niemand halte das für verwerflich. In Kara-Wadi nannte man solche Frauen »Schamlose«, und als Ai-Nor ihren Pflegevater einmal mit Fragen über diese bestürmte, hatte Rachim die Brauen gerunzelt und abweisend gesagt: »Das sind doch keine Usbekinnen, das sind Töchter des Schaitans! Dir ziemt es nicht, an sie zu denken, Ai-Nor!«

    Ein andermal hatte sie gehört, wie Tadshibai auf der Straße zu jemandem sagte: »Nacktgesichtige kann es nur dort geben, wo man den Koran vergessen hat. Wir hier werden das niemals erleben! Wenn bei uns eine solche Hündin erscheinen sollte, werfe ich mit meiner alten Hand den ersten Stein in ihr schamloses Gesicht.«

    Diese Worte der schärfsten Ablehnung waren von der Wut auf die »Nacktgesichtigen« erfüllt, und Ai-Nor hatte sie mit einer Verlegenheit und einem Schuldgefühl angehört, als hätten sie ihr selbst gegolten.

    Die Parandsha … Sechs Jahre waren seit dem Tag vergangen, als der Pflegevater überrascht zu ihr gesagt hatte: »Nun bist du ein erwachsener Mensch geworden, Tochter!« Dann war er nach Margelan gefahren und mit einem »schwarzen Leichentuch« zurückgekommen. Dieses finstere Gewand hatte sie damals ohne jeden Widerspruch hingenommen; das dichte Netz aus Rosshaar, das ihr Gesicht verhüllte, schmeichelte ihrem kindlichen Geltungsbedürfnis, denn es führte sie, die eigentlich noch ein kleines Mädchen war, in die unverständliche Welt der Erwachsenen ein. Eigentlich war es nicht angenehm, durch dieses Netz zu schauen; die Menschen und die Bäume, ja sogar die Sonne – alles erschien ihr in grauen Farben, und an schwülen und staubigen Tagen beklemmte es obendrein den Atem. Doch die kleine Ai-Nor fand sich standhaft mit allen diesen Unbequemlichkeiten ab, und zwar aus einem recht gewichtigen Grunde: Lausbuben, die sie früher ungeniert an den Zöpfen gezogen hatten, machten ihr jetzt den Weg frei, und ihre Freundinnen, die noch mit offenen Gesichtern gingen, befühlten nicht ohne Neid das Netz und den Tschapan, dessen Ärmel wie bei »richtigen«, das heißt erwachsenen, Frauen hinten fest verknotet waren. Zuerst war das wie ein Spiel gewesen. Während jedoch jedes Spiel ein Ende hatte, erwies sich die Parandsha als etwas Beständiges.

    Der Wüstenwind legte sich allmählich, doch die Sterne schimmerten genauso eisig wie vorher. Ai-Nor schlug die Tschapansäume fest übereinander. In ihren großen, weit offenen Augen spiegelte sich der grünliche Mondschein wider.

    Sie richtete ihren Blick auf die fernen Berge, doch sie sah nicht die Berge, sondern eine fremde städtische Straße voll lustiger und schmucker Burschen und voll glücklicher Mädchen mit entblößten Gesichtern. Junus hatte ihr erzählt, die Mädchen suchten sich dort die Ehegatten selbst aus, und niemand habe das Recht, sie gewaltsam mit jemandem zu verheiraten.

    Wie wär’s, wenn ich nach Fergana fliehen würde?, überlegte sie. Dann wäre ich beide auf einmal los, die Hochzeit und die Parandsha!

    Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in Fergana ohne Parandsha durch die Straßen geht, und eine heiße Welle der Scham ergoß sich über ihren ganzen Leib.

    Nein, um keinen Preis! Das wäre ja, als würde ich mich dem ersten Besten zum Weibe anbieten!

    Sie erinnerte sich daran, mit welchen Augen Taschpulat ihr Gesicht im Spiegel angesehen hatte, und sie dachte: Ich würde mich zu Tode schämen.

    Ihr war so heiß geworden, dass sie das Kleid aufknöpfen musste. Der Wind strich kühl über ihre Brust. Um ihre Schultern zu entblößen, zog sie an den Ärmeln. Dann schien es ihr, als werde sie beobachtet – sie zuckte zusammen. Doch sie hatte sich geirrt, es war niemand in ihrer Nähe. Nur vom Kischlak her kam von weitem jemand auf sie zu.

    Ist das Mariam?, dachte sie. Erst nach vielen Minuten konnte sie unterscheiden, dass sich der herankommende Mensch auf einen Stock stützte und dass sein langer Schatten etwas gekrümmt war. Vater!, durchzuckte es Ai-Nor. Sie erhob sich, aber sie war zu schwach, um davonzulaufen.

    Seinem Schicksal kann man nicht entrinnen, ging es ihr durch den Kopf, als sie sich wieder hinsetzte und ihre kindlich spitzen Schultern in einem Weinkrampf zuckten.

    DRITTES KAPITEL

    Bei Ai-Nor angelangt, wischte sich Rachim-Baba mit der Tjubeteika das Gesicht. Das Gehen über den Triebsand kostete den alten Mann eine große Anstrengung.

    Ai-Nor wich seinen Blicken aus, um ihm ihre Tränen nicht zu zeigen, die sie jetzt erst recht außer Fassung zu bringen drohten. Ihre Schultern ließen sich nicht zum Stillstand zwingen und zuckten noch immer.

    »Knöpf dein Kleid zu!«, ermahnte Rachim seine Pflegetochter. Ai-Nor errötete, sie hatte völlig vergessen, dass sie halb nackt dasaß.

    Warum ist er mir nachgekommen?, dachte sie, während sie mit zitternden Fingern ihr Kleid zuknöpfte.

    Rachims blanker Schädel mit den spärlichen Haarbüscheln schimmerte kalt, und seine etwas gekrümmte Gestalt warf einen langen Schatten über zerfallene Duwale und Kibitkas; er schien sich über den ganzen toten Kischlak hinzuziehen.

    »Ich bin fortgegangen, weil die Luft auf dem Hof so stickig war«, sagte Ai-Nor, als ihr das Schweigen so lästig wurde, dass sie sprechen musste.

    Rachim ließ sich auf die Erde nieder und bohrte mit einem tiefen Seufzer seinen Stock in den Sand.

    »Vierzehnmal haben die Gärten seit jener Zeit ein neues Gewand angelegt, vierzehnmal ist die Erde weiß von Baumwolle geworden. Du warst damals erst drei Jahre alt, Ai-Nor, und du trugst einen Namen, der in Vergessenheit geraten ist«, sagte er, als setze er eine begonnene Erzählung fort, und verstummte wieder.

    In seiner Erinnerung erstanden die glücklichen Gesichter der Nachbarn. Zum ersten Mal seit vielen Jahren, vielleicht sogar zum ersten Mal überhaupt, herrschte in Kara-Wadi Jubel unter den Dechkanen, deren Lachen und Singen aus kindlich reinen Herzen strömte. Es ertönte Orchestermusik, und alle Menschen tanzten auf der Straße, fielen einander um den Hals und weinten. In aller Munde war der Name des mächtigsten aller Recken, die jemals auf der Welt gelebt hatten: Lenin. Dinge, von denen man nicht einmal zu träumen wagte, wurden plötzlich wie durch ein Wunder zur Wirklichkeit: Die Beis hatten ihren Grundbesitz den armen Dechkanen überlassen müssen. Spielend und singend zogen alle Kischlakbewohner auf das Feld, an der Spitze, mit seinem Ketmen in der Hand und einer roten Binde am Ärmel, Mamur Iminow, Ai-Nors leiblicher Vater. Und nachts …

    Rachim schüttelte wehmütig den Kopf.

    »Möge Allah meine Vermessenheit verzeihen, wenn ich sage, dass mir seine Schöpfung ohne diese böse Nacht besser gefiele.« Bei diesen Worten hob er seine traurigen Augen zu Ai-Nor auf. »Der Kischlak erwachte vom Wehgeschrei der weinenden Menschen, und als ich auf die Straße lief, erblickte ich Reiter mit schneeweißen Turbanen. Towba! Towba! Mein altes Blut erstarrte mir in den Adern, es waren die Basmatschen von Rustam-Beg! Ich wusste nicht, ob dieser verdammte Beg mit dabei war, den niemand von uns kannte und dessen Gesicht angeblich abstoßender war als das des Teufels. Auf ihren wohlgenährten Pferden jagten sie den halbnackten Menschen nach, während das dumme Echo ihre Worte wiederholte und ihr böses Lachen. ›Allah ist groß, und Mohammed ist sein Prophet!‹, flüsterte ich und schloss sorgfältig die Pforte ab. Das war alles, was ich mit leeren Händen gegen diese Schaitansbrut ausrichten konnte, an deren Schultern englische Gewehre baumelten und in deren Händen Stahlklingen blinkten.«

    Mit angehaltenem Atem sah Ai-Nor in Rachims raues, zerfurchtes Gesicht. Die Geschichte dieser grauenvollen Nacht hatte sie bisher nur von ihren Nachbarinnen gehört; aus Rachim, der mehr als die andern von dem Tod ihrer Eltern wusste, hatte sie kein einziges Wort herausbringen können.

    »Als ich vor Sonnenaufgang wieder auf die Straße ging, waren diese verfluchten Hunde bereits fort. Die Vergangenheit lässt sich ebenso wenig wiederbeleben wie eine zerbrochene Phiale zusammenkleben – ein Mensch, dessen Seele so klar ist wie der Tag, wird das leicht erkennen können. Wie ist es jedoch, wenn sie vor Verzweiflung und Zorn so trübe wird wie die Nacht? Ich stand da und hörte: Fast in jedem Gehöft stöhnte das menschliche Leid, dessen furchtbare Stimme sich in den Himmel bohrte. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass meinen alten Ohren die Stille auffiel auf dem Hofe Mamur Iminows, der dein Vater war und mein Nachbar. Die Pforte stand offen. ›Allah sei uns gnädig‹, sagte ich und betrat den Hof. Mit dem Gesicht nach unten lag Mamur vor der Kibitkatür, aus seinem gespaltenen Kopf strömte das Blut.«

    Rachim rieb sich die Augen. »Scheint etwas Staub reingekommen zu sein«, murmelte er verlegen und streichelte Ai-Nors Hand.

    »Ja, Ai-Nor, mein Töchterchen, dein Vater war ein schöner Dshigit, mit Augen, die so groß waren wie deine. Die Alten hatten Respekt vor Mamur. Schon damals, als er noch Landarbeiter bei Mirsatschil-Bei war, nannten ihn seine Nachbarn den ›Gerechten‹. Ein wahres Wort, Ai-Nor! Denn das Herz deines Vaters war wohl heiß, doch voller Verständnis. Als bei uns das Gerücht aufkam, die Russen hätten den Zaren gestürzt, wurden die Beis unruhig. Sie beteten öfter denn je, und in ihren Höfen wurden Kisten abgeladen mit Gewehren und Munition. Dein Vater, Ai-Nor, war zu der Zeit aus dem Kischlak verschwunden, und erst viele Tage später erfuhren wir, er sei zur Fahne jenes großen Heerführers gegangen, den alle, sowohl die Usbeken als auch die Kasachen und Turkmenen, in ihren Liedern Frunse-Ata nennen. Dein Vater war dabei, als man aus Buchara den Emir und die Engländer vertrieb, die schon davon geträumt hatten, das usbekische Volk werde bereitwillig unter ihr Joch kriechen. Dein Vater war der erste Mensch, der in unserem Kischlak das perlengleiche Wort aussprach: Die Sowjetmacht! Möge ihm Allah dafür alle Wonnen und einen fetten Plow an der Tafel seines Propheten Mohammed bereiten! Ja, ein würdiger Dshigit war dein Vater, Ai-Nor. Ich stand am Eingang in die Kibitka und sah voller Schmerz, wie ihn die zweibeinigen Rustam-Beg-Hunde zugerichtet hatten. Peitschenschwingende Fremdlinge in flaschenförmigen Hosen hatten sie von der Kette gelassen und bis an die Zähne bewaffnet.«

    Rachim holte tief Atem, und Ai-Nor rief: »Und was geschah mit meiner Mutter? Erzähl mir von meiner Mutter, Ata!«

    Mit einem schiefen Blick auf ihr glühendes Gesicht missbilligte der Alte Ai-Nors Verhalten: Es gehörte sich nicht, einen Älteren zu unterbrechen, und für ein Weib schon gar nicht. Er schob ihre Hand, die er soeben gestreichelt hatte, von sich und versank in langes Schweigen, seine rot gewordenen Augen in die dunstige Ferne gerichtet.

    »Höre, was mir mein Gedächtnis erzählt: Während ich so dastand und das Blut rinnen sah aus dem Kopf deines toten Vaters, kroch ein schreiendes Mädchen über den Hof. Ich dachte, sie wäre noch zu klein, um etwas zu verstehen, und rief nach Sotti, wie deine Mutter bei ihren Lebzeiten hieß, doch sie meldete sich nicht. Ich ging in den Itschkari und sah … nun, ich will kein Geheimnis aus der Erinnerung meiner Augen machen – ich sah Sotti mit blau angelaufenem Gesicht an der Decke hängen, ihr Kleid war zerrissen und voller Blutflecke.«

    Ai-Nor erbebte. Sie hatte sich immer eingebildet, alle Erinnerung an ihre Mutter schon verloren zu haben, jetzt aber, da sie sich so lebhaft in die damalige Zeit zurückversetzte, erblickte sie wie im Nebel ein junges Gesicht und zwei gütige Augen, die zu ihr herabsahen. Aji, Aji!, schrie es in ihrem wunden Herzen.

    »Grimmiger Frost macht das Wasser starr und das Grauen die menschliche Seele«, sprach Rachim, dessen bebende Stimme seine Erregung verriet, mit dem Blick noch immer die Ferne durchdringend. »Ich spürte, jemand berührte meine Beine. Ich hob dich auf, drückte deinen zitternden kleinen Leib an meine Brust und verließ mit dir die Kibitka. Da befahl mir mein Herz, vor deinem Vater stehenzubleiben, und ich hielt an und sagte: ›Mamur, du hörst mich, deinen Nachbar, nicht, doch ich spreche zu deiner Seele und rufe den Himmel zu meinem Zeugen. Zur Strafe für meine Sünden oder für die Sünden meiner Vorfahren hat Allah meinem Hause den Kindersegen versagt. Mit Wehmut betrachte ich seit Jahren die Söhne anderer. Ich sehne mich danach, ein mir nahes Wesen liebkosen zu können, Mamur, und ich habe keine Stütze für mein Alter. Immer öfter habe ich Allah mit der Bitte in den Ohren gelegen, mir einen Waisenknaben, den ich an Sohnes statt annehmen könnte, auf meinem Lebensweg entgegenzusenden. Und Allah – sein Name sei ewig gepriesen! – gibt mir jetzt Antwort auf meine Bitte: Er schenkt mir eine Tochter. Was ist dabei, dass es nicht ein Knabe ist, sondern ein Mädchen – ich nehme es, Mamur. Deine Seele braucht sich nicht zu beunruhigen, ich werde dieses dumme Mädchen mehr lieben als andere ihre leiblichen Töchter. Das schwöre ich dir im Angesicht deines furchtbaren Todes! Leb wohl, Nachbar!‹ Um dem Brauche Genüge zu leisten, verneigte ich mich vor Mamur und ging dann in meine Kibitka. Ich kannte deinen Namen nicht, und keiner der Nachbarn konnte ihn mir nennen. Nun, in der Nacht, da Rustam-Beg dich deiner Eltern beraubte, war Vollmond gewesen …« Rachim betrachtete den Himmel. »Nicht wie heute, sondern heller … Und ich gab dir den Namen Ai-Nor. So bist du meine Tochter geworden.«

    Als Ai-Nor seine letzten Worte vernahm, schwebte vor ihrem inneren Blick noch immer das Gesicht ihrer Mutter. So bist du meine Tochter geworden, wiederholte sie in Gedanken, und alle Zärtlichkeit, die in ihr erwacht war beim vermeintlichen Anblick ihrer Mutter, übertrug sich plötzlich auf den alten Mann, der ihr zu Füßen saß und die neue Verkörperung ihres Vaters und ihrer Mutter war.

    »Ata!« Sie fiel ihm um den Hals und schmiegte sich mit ihrem ganzen Leib an ihn. »Ata-Dshan!«

    Um den Tränen Einhalt zu gebieten, schloss der Alte die Augen.

    »Allah weiß es: Ich gebe Taschpulat das, was meine greise Seele am wenigsten entbehren kann«, flüsterte er und fuhr Ai-Nor zärtlich über das Haar.

    Ai-Nor wich zurück, als hätte sie sich verbrannt. Taschpulat … Hochzeit … regte es sich in ihr. Niemand kümmert sich darum, wie es in meinem Herzen aussieht, ich bin eine Waise, der niemand beistehen will.

    »Wenn Vater und Mutter nicht tot wären, würden sie dann wünschen, mein ganzes Leben in Staub zu treten?«

    Rachim betrachtete das Mädchen eine Weile mit runden Augen. Als er sich dann erhob und mit verschränkten Armen vor Ai-Nor stand, sah er aus wie ein steinernes Mal. Das einzig Bewegliche an ihm war sein im Winde wehender Bart.

    Ai-Nor begriff: Dieses Schweigen war für sie der Befehl, aufzustehen.

    »Ein Mann, der umherirrt, kann auf Ruhm stoßen …«, begann Rachim.

    Ai-Nor kannte die andere Hälfte dieses Sprichwortes: »… doch treibt sich ein Weib herum, kann es leicht seine Ehre verlieren.«

    Doch Rachim sagte etwas anderes: »Der ganze Kischlak wundert sich über dein Benehmen, Ai-Nor. Alle Weiber reden nur noch von deiner Flucht. Jede böse Tat enthält Nahrung für einen schlechten Leumund. Ich hörte viele Fragen und musste meine Augen niederschlagen.«

    Die Trockenheit, mit der diese Worte ausgesprochen wurden, erinnerte Ai-Nor ein weiteres Mal an die Unabänderlichkeit ihres Schicksals. Es gab keinen Ausweg, und jeder Widerstand war sinnlos. Sie stand auf.

    Sein Stock versank tief im Triebsand, doch Rachims Empörung über die schnöde Undankbarkeit seiner Pflegetochter war so groß, dass ihm der Weg keine Mühe bereitete.

    »Taschpulat ist der beste Dshigit im ganzen Kischlak«, sagte er dumpf.

    Ai-Nor schwieg.

    »In Kara-Wadi gibt es viele Mädchen, und jedes von ihnen hielte es für eine große Gnade Allahs, an deiner Stelle sein zu dürfen.«

    Ai-Nor schwieg noch immer und sah Rachim nicht einmal an.

    Das Blut pochte in Rachims Schläfen. Ihm, der sie niemals hart hatte anfassen können, brannte jetzt der Stock in der Hand. Um der Versuchung nicht zu unterliegen, gab er sich ebenfalls Mühe, wegzublicken.

    Der wellige gelbe Sand regte sich. Diese Steppe, rau und ohne einen Tropfen Wasser! Rachims Gedächtnis reichte bis in die Zeit zurück, da sie den Kischlak, zwischen dessen Trümmern sie eben gesessen hatten, in ein Trümmerfeld verwandelte.

    Warum geben die Felsen dem Ketmen nicht nach?, dachte er unvermittelt. Gewiss, Abdu-Selim ist einsam gewesen; erheben sich aber Tausende, das ganze Volk, so werden an die Stelle der Müdegewordenen stets andere treten können. Fallende Tropfen höhlen den Stein aus – können Ketmens, Tausende und Zehntausende von Ketmens, das nicht viel besser und schneller tun? Wahrhaftig, so verrückt sind die Leute gar nicht, die von dem Katta-Kanal reden!

    Rachim versuchte sich vorzustellen, wie anders die grimmige Steppe aussehen wird, wenn das Wasser des Naryn sie einmal durchflutet.

    Als Ai-Nor sein Keuchen nicht mehr hörte, drehte sie sich um und verlangsamte vor Überraschung den Schritt; der Alte lächelte.

    Er ist in Gedanken schon beim Hochzeitstoi, vermutete sie arglos. Seit sie sich erhoben hatte und Rachim gefolgt war, trug sie einen dumpfen Schmerz in sich, der sie mit Gleichgültigkeit erfüllte. Nur ganz tief in ihr war so etwas wie ein mit Asche zugestreuter Winkel, in dem, halb unbewusst, die Hoffnung lebte, diesen morgigen Tag werde es vielleicht gar nicht geben; das alles sei vielleicht nur ein Traum.

    Immer fester wurde der Sand unter den Füßen. Im Nebel erschienen die Umrisse der Duwale. Ai-Nor vernahm ferne Männerstimmen und ließ die Parandsha herab.

    Der Kischlak schlief noch nicht. Hier und dort blökten Schafe, bellten Hunde. Menschen standen in kleinen Gruppen auf der Straße und verneigten sich achtungsvoll vor Rachim.

    »Noch niemals gab es in unserem Kischlak eine so feierliche Hochzeit«, sagte er zu Ai-Nor. »Der Himmel erweist dir eine große Gnade, du schuldest ihm Dank dafür.«

    »Ja, Ata«, drang Ai-Nors müde Stimme durch die Parandsha.

    An der Tür des Kischlaksowjets standen mehrere alte Männer und ein reckenhaft gebauter Bursche in einem gestreiften Kittel, der die Brust bloß ließ und von einem grünen Belbog zusammengehalten wurde.

    Dieser Bursche war Taschpulat. Zur Begrüßung des Miraben legte er eine Hand auf die Brust, doch seine Augen waren unstet und finster. Die. Alten brachen ihre Unterhaltung ab und schossen neugierige Blicke nach Ai-Nor, die sich an den Duwal lehnte.

    »Die Kleine hat sich von der Steppe verabschieden wollen«, sagte Rachim. »Sie weiß, morgen beginnt für sie ein neues Leben.«

    »Ach so«, murmelte Taschpulat. Ein Lächeln entblößte seine weißen Zähne, und sein Gesicht wurde weich und freundlich.

    Das Lächeln übertrug sich auf die Greise, und Taschpulats schieläugiger Nachbar rief eilig: »Hei! Juldasch-Dshan!« Und dem alten Rachim erklärte er: »Wir wollen den Vorsitzenden in die Bezirksstadt schicken, damit er den Katta-Kommunisten zum Toi einlädt.«

    Der Mirab nickte befriedigt mit dem Kopf.

    Als er aus dem Hause des Kischlaksowjets heraustrat, kratzte sich Juldasch Sulimow nachdenklich das schwarze Krausbärtchen. Von diesem Einfall war er keineswegs begeistert, doch er musste sich fügen. Er war kein Freund von Streitigkeiten, und die konnten leicht entstehen, wenn man den Alten widersprach. Wozu auch? Wer die Grauhaarigen kränkt, kommt um die Erfüllung seiner Wünsche. Abgesehen davon, gehörte auch noch eine Menge Mut dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die den Alten wider den Strich gingen, denn in der Kolchosverwaltung, im Kischlaksowjet und im Erntesowjet bildeten die Grauhaarigen die überwältigende Mehrheit. Noch kannte er den neuen Sekretär des Bezirkskomitees nicht, der vor anderthalb Jahren an die Stelle seines verhafteten Vorgängers getreten war – statt Juldasch zu sich einzuladen, bombardierte er ihn mit Briefen voll Fragen und Paragrafen, über denen Juldasch Blut und Wasser schwitzen musste. Diesen Mann einzuladen, war eine peinliche Sache.

    Vor dem Kischlaksowjet fand zum Schluss folgender Wortwechsel statt. Juldasch war unzufrieden und sagte zu Tadshibai: »Meinetwegen, Balabar, ich fahre schon hin, aber …«

    »So ein ›aber‹ paßt gut zu einem Esel, dann kommt er nämlich endlich von der Stelle, doch von dir, Juldasch-Dshan erwarten wir, dass du uns ein festes Jawort vom Katta-Kommunisten heimbringst.« Tadshibai sah selbstzufrieden seine Freunde an, die ihm eifrig zunickten. »Wenn es das Volk will, wird der Sekretär schon kommen müssen!«

    Daraufhin klopfte Taschpulats schieläugiger Nachbar dem Vorsitzenden auf die Schulter und stieß ihn sanft zu dem geduldig wartenden Esel hin.

    »Erkundige dich auch über den Kanal, Juldasch-Dshan! Vergiß das nicht!«, riefen die Alten.

    »Chop!«

    Rachim verbeugte sich vor allen Anwesenden. Taschpulats Augen brannten, als er die schwarze Mädchensilhouette sich von dem Duwal lösen und dem Miraben folgen sah.

    VIERTES KAPITEL

    In diesem Jahr gab es einen zeitigen Frühling, die Märzsonne war schon fast so heiß wie im Sommer.

    Warme Luft drang in das Arbeitszimmer, an dessen offenem Fenster Nasira Islamowa stand. Auf den trockenen Erdboden, rissig wie ein zu scharf gebackener Fladen, fielen kurze Baumschatten. Hinter der Ecke eines Hauses kamen zwei in Parandshas gehüllte Frauen hervor, von denen man nicht ohne weiteres sagen konnte, ob es alte Weiber mit gelben und runzligen Gesichtern waren oder blühende junge Mädchen. Sie gingen, am Fenster vorbei, auf das Speisehaus zu, vor dem Arbas mit vorgespannten Kamelen sowie einige Esel und gesattelte Pferde standen. Aus den offenen Fenstern des Speisehauses drangen die Stimmen der Kolchosleute, die hergekommen waren, um etwas Neues über den Kanalbau zu erfahren.

    Nasira Islamowa wandte sich vom Fenster ab.

    »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, legt man bei Ihnen keinen besonderen Wert auf die Arbeit unter den Frauen.«

    Ihre nicht gerade großen und etwas schrägen Augen glitten mit einem kalten und strengen Ausdruck über das Gesicht des wichtigsten Mannes im ganzen Kara-Wadiner Kischlaksowjet. Juldasch, der in achtungsvoller Entfernung von dem Tisch auf einem Hocker saß, sagte zögernd: »An mir liegt es nicht, Genossin Islamowa! Ich bin zu gering, um daran etwas ändern zu können.«

    Juldasch wusste, dass es nicht allein die Hitze war, die ihm das Hemd am Rücken kleben ließ; schon in dem Augenblick, als er über die Schwelle trat und einen weiblichen Sekretär am Tisch sitzen sah, war ihm der Schweiß ausgebrochen.

    Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie die alten Leute das Erscheinen einer »Nacktgesichtigen« auf dem Toi aufnehmen würden, und während er über den Kolchos und sonstige Kischlakangelegenheiten berichtete, dachte er unausgesetzt: Soll ich sie einladen oder lasse ich’s lieber?

    »Ich bin zu unbedeutend«, wiederholte er und wagte nicht, sein Gegenüber anzusehen.

    »Es gibt keine unbedeutenden Kandidaten«, rümpfte Nasira Islamowa die Nase, doch in Gedanken erteilte sie sich eine Rüge: Was sage ich da? Andere Worte sind hier nötig, einfachere und eindrucksvollere.

    Einen schwierigen Bezirk hatte sie abbekommen!, über vieles war sie bereits vorher im Bilde gewesen, und als ihr Vorgänger ihr sein Amt übergab, hatte er seine Genugtuung darüber nicht verheimlicht.

    »Zwei Rügen habe ich mir hier verdient«, hatte er gekränkt gesagt. »Und wofür? Das Gebietskomitee weiß doch Bescheid, was für ein Erbe ich seinerzeit angetreten habe.«

    Gewiss, die Ikramower hatten alles unternommen, um die Kischlaks weiterhin in ihrer barbarischen Unwissenheit darben zu lassen. Alle, die der Partei treu geblieben waren, wurden beiseitegeschoben, verfolgt, verleumdet und sogar erpresst. Ein Kolchos konnte nur hochkommen, wenn er sich dem Einfluss der Ikramower zu entziehen verstand. Solche Kolchosen gab es, und sie waren reich und zeichneten sich durch üppiges Wachstum aus. Das kunterbunte Durcheinander einiger Bezirke fand darin eine teilweise Erklärung; während die meisten Kischlaks frei und ungehindert emporblühten und von so unbändigem Leben erfüllt waren, dass einem das Herz überlief vor Freude, fand man gar nicht weit davon entfernt auch solche Kischlaks wie, Kara-Wadi mit all seinem rückständigen Drum und Dran; den Parandshas und Mullas und den hohen Duwalen um die fensterlosen Kibitkas. Die gemeine Wühlarbeit der Ikramower hatte es einmal gegeben, gab es nicht mehr – und schob man auch jetzt noch die eigenen Misserfolge auf die Ikramower, an die man sich kaum noch erinnerte, so tat man ganz gewiss mehr, als man verantworten konnte. Was hatte das neue Bezirkskomitee schon ausgerichtet? Es war zu bequem gewesen, sich gründlich genug mit dem Bezirk bekannt zu machen. In Kara-Wadi zum Beispiel kannte man keinen einzigen Sekretär von Angesicht zu Angesicht, und selbst die Bezirksinstruktoren vernachlässigten allzu gern ihre Pflichten; vor den Wahlen zum Obersten Sowjet der Union zeigten sie sich nur zweimal im Kischlak, und dabei ließen sie es bewenden. In ihren Arbeitsräumen zu hocken und mit Instruktionen und Direktiven um sich zu werfen, war natürlich entschieden gemütlicher, als auf den aufgeweichten Straßen herumzufahren. Die Situation kann nicht geduldet werden und muss sich bald ändern! Nasira lächelte bei dem Gedanken an diese verschwommene Phrase, die im Bezirkskomitee von Protokoll zu Protokoll gewandert war. Allein schon der Ingenieur Sabirow, dem das Allerwichtigste, das Bewässerungssystem, unterstellt war, hatte diesen Satz mehrere Male zur Kenntnis nehmen müssen, obwohl es entschieden ratsamer gewesen wäre, diesen Müßiggänger ohne viel Federlesens davonzujagen. Wer Papier sät, erntet Papier – den Gekränkten spielen und dem Gebietskomitee Ungerechtigkeit vorwerfen, war also ganz überflüssig. Was es brauchte, war nicht Papier, sondern Taten, was konnte das Gebietskomitee dafür, dass die Leute vom Bezirkskomitee nicht nur die Genossen vom Staatsapparat ausschließlich vom Hörensagen kannten, sondern sogar auch ihr eigenes Parteiaktiv und ihre eigenen Kolchosbauern! Die Personalakten vieler Parteimitglieder und -kandidaten enthielten nur Personen- und Ortsnamen, und niemand wusste, wer diese Menschen waren und was sie taten. Und dieser Juldasch Sulimow glich einer traurigen Anekdote: Seit drei Jahren stand er bereits auf der Kandidatenliste! Wenn er wenigstens der einzige dieser Art wäre!

    Zwar waren die Kolchosen Lenintschi und Urtak vorbildlich, doch die verdankten ihre Erfolge vor allem ihren eigenen Parteiorganisationen, die so schnell emporgewachsen und kräftig geworden waren, dass die Feinde des Volkes vergeblich nach einem Angriffsziel suchten. Der Ruhm dieser Kollektivmillionäre hatte sich schon längst über das ganze Land verbreitet.

    Die Wasserlosigkeit war zweifellos ein Hemmschuh für das Blühen und Gedeihen des Kolchos, nicht minder aber auch die alten Lebensgewohnheiten mit all ihren feudalen Überbleibseln. War denn die Parandsha eine so angenehme Einrichtung, dass sich viele Frauen in diesem Bezirk nicht von ihr trennen wollten? War die Jugend in Kara-Wadi anders als in Lenintschi? Warum stand Kara-Wadi abseits vom Komsomol?

    »Ja, Genosse Sulimow, es gibt keine geringen Parteikandidaten«, wiederholte Nasira, ohne die Worte gefunden zu haben, nach denen ihr wachsender Missmut verlangte. »Sie haben kein Recht, sich darauf zu berufen! Entweder werden sie groß und bedeutend, oder …«

    Von einer scharfen Bewegung lockerten sich ihre prallen Zöpfe, die einen Kranz um die Tjubeteika bildeten, und ein Zopfende fiel ihr schwer auf die Schulter.

    Ein Weib und, hast du nicht gesehen, Sekretär des Bezirkskomitees!, wunderte sich Juldasch wieder. Offen und nicht ohne Neugier betrachtete er, wie Nasira ihr Haar ordnete. Er dachte, sie müsse das anders machen als die gewöhnlichen Weiber, doch darin war sie genau wie seine Frau. Das kränkte und erbitterte ihn. Wie ist man nur darauf gekommen, ein Weib einen ganzen Bezirk verwalten zu lassen? Erst war er verwirrt, jetzt schämte er sich, und zwar darum, weil er durch seine Schüchternheit die Manneswürde vergessen hatte. Kühn, fast dreist betrachtete er jetzt Nasira, bekam jedoch einen roten Kopf und schlug die Augen nieder. Nasira merkte nichts davon. Sie band die Zopfenden zusammen und dachte an das »oder«, das ihr unversehens entschlüpft und das, da sie über die Kischlak-Angelegenheiten gesprochen hatten, von besonderer Bedeutung war. Sollte sie Sulimow absetzen lassen?

    Sie musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Seine breiten Backen und der kurze Krausbart gefielen ihr, sie verliehen dem ganzen Gesicht einen Ausdruck von Güte und Einfachheit. Und seine Verlegenheit ließ ihn kindlich erscheinen – er war ein großes, bärtiges Kind.

    Sie schlug ihr Notizbüchlein auf und schrieb ein: »Frage über die Kandidaten aufwerfen, deren Frist längst abgelaufen ist. Juldasch Sulimow?«

    Das Telefon schnarrte. Der Chauffeur meldete aus der Garage, der Wagen sei fahrbereit.

    »Fahren Sie beim Bezirkskomitee vor«, sagte Nasira und stand auf.

    Juldasch fiel ihre Veranlagung zur Fülle auf, doch jetzt war sie noch schlank und anziehend.

    »Ihr sucht Wasser? Das ist gut«, sagte Nasira weich, »doch Wasser allein, Urtak Sulimow, wird euch nicht glücklich machen. Noch wichtiger sind die Menschen. Warum versteckt ihr eure Frauen, Schwestern und Töchter hinter Parandshas? Weil ihr widerlichen Vorurteilen zuliebe selbst auch Parandshas tragt.«

    Die Tür ging leise auf, und es erschien der Chauffeur, der eine Lederjacke und Lederhandschuhe trug. Nasira befahl ihm, zu warten. Sie legte ihre Hand auf Juldaschs Schulter und sagte: »Urtak Sulimow, es ist Zeit, mit offener Seele zu leben. Du erreichst es, wenn du die Fäulnis bekämpfst, die wir von der alten Zeit geerbt haben. Fangen wir mit dir an. Du bist doch sicherlich verheiratet?«

    Schweigend sah er zum Fenster hinaus.

    »Ich gebe dir einen freundschaftlichen Rat: Mach dich selbst zum Ausgangspunkt der Veränderung. Wenn du heimkommst, sag zu deiner Frau: Gib mir mal dein Leichentuch und mach den Ofen an!« Juldaschs Schulter zuckte unter ihrer Hand, und sie spürte es. »Und nächste Woche komme ich bestimmt zu euch, um dir zu gratulieren, weil du als erster Mann in Kara-Wadi verstanden hast, dass es schändlich ist, die Frau zu erniedrigen, und weil du deine Lebenskameradin von dem schmutzigen Netz befreit hast. Und außerdem möchte ich deine Frau kennenlernen.«

    Juldasch versuchte, ihre Hand abzuschütteln, bekam es jedoch nicht fertig. Er sah, dass ihre Augen im Gegensatz zu ihrer weichen Stimme streng geblieben waren. Sie schienen ihn zu durchdringen und in seinem Herzen zu lesen, in dem bereits eine glühende Wut gegen dieses Weib aufkochte, das ihn im ganzen Kischlak blamieren wollte.

    »Sollte das aber nicht geschehen, Urtak Sulimow«, hörte er wie von weitem Nasiras Stimme, »dann werden wir einen anderen Ton anschlagen müssen. Einen Menschen, der das nächste aller Wesen, sein Eheweib, zu einer Sklavin macht, duldet die Partei in ihren Reihen nicht.« Sie machte eine Pause und fragte dann scharf: »Ich habe zu dir gesprochen, Urtak Sulimow – worüber denkst du jetzt nach?«

    Er funkelte mit den Augen und erwiderte nichts. Nasiras Wangen röteten sich.

    »Du brauchst nicht zu antworten, ich weiß, was du denkst: Da haben sie uns ein Weib vor die Nase gesetzt, und nach ihrer Pfeife sollen wir nun tanzen!«, sagte sie höhnisch und fügte hinzu: »Und außerdem denkst du: Auch der Esel kriegt rote Ohren, wenn er Weiber fahren muss! – schäm dich, Urtak Sulimow!«

    Juldaschs Gesicht wurde dunkelrot – Nasira konnte tatsächlich Gedanken lesen! Verflixtes Frauenzimmer! Ich bin für sie wie eine Zeitung!, dachte er, übermannt von der Angst vor dieser Frau mit den spöttischen Augen. Und der vermaledeite Schweiß lief ihm über die Backen, tropfte von seiner Nasenspitze und machte seinen Bart zu einem nassen Klumpen.

    »Einen Menschen, der dich nicht gekränkt hat, solltest du ebenfalls nicht kränken, Urtak Sekretärin«, sagte er schließlich und wischte sich mit dem Kittelsaum den Schweiß. »Die Alten haben mich wegen einer bestimmten Sache zu dir geschickt, und das ist es, worüber ich nachgedacht habe.«

    »Die Alten?«

    Sie sah auf die Uhr, sah den Chauffeur an und setzte sich wieder hin.

    Juldasch kratzte sich den Hinterkopf. Er wusste nicht, wie er diese Worte hatte aussprechen können, nachdem er doch beschlossen hatte, die Sache mit der Einladung für sich zu behalten. An einen Rückzug war nun nicht mehr zu denken – ein entschlüpftes Wort lässt sich nicht wieder einfangen.

    In Erwartung dessen, was Sulimow noch vorzubringen hatte, zog Nasira ein Blatt Papier zu sich heran, auf das sie während seines Berichtes von Kara-Wadi etwas gezeichnet hatte. Die untere

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