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Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922
Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922
Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922
Ebook535 pages9 hours

Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922

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About this ebook

Die turbulenten Jahre der Erfindung eines neuen Staates

Der Krieg ging zu Ende, die Monarchie lag in Trümmern, der Kaiser dankte ab. Eilig formten sich neue Staaten: Einer nannte sich Republik Deutschösterreich. Noch standen die Grenzen des neuen Staates nicht fest, es gab keine Verfassung, die die politische Ordnung regelte. Deutschösterreich wollte sich dem Deutschen Reich anschließen, Vorarlberg der Schweiz und einzelne Bundesländer kokettierten mit Freistaatideen. Doch zugleich waren die Gründungsjahre der Ersten Republik auch ein großer Aufbruch Richtung Moderne. Sie legten das Fundament für eine soziale Demokratie, beteiligten die Frauen am politischen Leben, brachten neue Lebenslust. Die Autoren zeigen in einem großen Panorama ein Versuchslabor der Selbstfindung eines Staates: der Republik Österreich.
LanguageDeutsch
Release dateNov 7, 2017
ISBN9783701745630
Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922

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    Book preview

    Die erste Stunde Null - Alfred Pfoser

    Alfred Pfoser

    Andreas Weigl

    Die erste Stunde Null

    Gründungsjahre

    der österreichischen Republik

    1918–1922

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.at

    © 2017 Residenz Verlag GmbH

    Salzburg – Wien

    Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

    Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

    Umschlagbild: Ausrufung der Republik Deutschösterreich 1918.

    Parlamentsrampe (ÖNB)

    Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN: 9783701734221

    ISBN ebook: 9783701745630

    INHALT

    Vorwort

    TEIL I: NIEDERLAGEN

    Der Scherbenhaufen

    Vom Sichten und Teilen der Erbschaft

    Auf der Suche nach dem Anschluss

    Die Grenzkonflikte

    Kein Ende des Durchhaltens

    Die Gezeichneten

    Schwindel

    TEIL II: AUFBRÜCHE

    Die uneingeschränkte Demokratie

    Die Geburt des Föderalismus

    Die militärische (Un-)Ordnung

    Die Habsburgergesetze

    Die sozialpolitische Revolution

    Das Problem mit Wien

    Die Genfer Sanierung und die Donauraumstrategie

    TEIL III: KULTURKÄMPFE

    Republik mit Vorbehalt

    Immer wieder Österreich!

    Der Politische Katholizismus

    »Der Jud ist schuld!«

    Helden oder Opfer? Der Streit um die Erinnerung

    Kampfzone Frau

    Die neue Lebenslust

    Anmerkungen

    Literaturverzeichnis

    Bildnachweis

    VORWORT

    100 Jahre Österreich. Das Republik-Jubiläum lässt uns zurückschauen in eine Zeit, die unsere gegenwärtigen Ängste und Probleme vergleichsweise harmlos erscheinen lässt. Nahezu alle Fragen der gesellschaftlichen Organisation standen damals zur Disposition. Die Ereignisse überschlugen sich regelrecht, die Rahmenbedingungen wechselten, die Stimmungen kippten. Was heute galt, war morgen bereits Makulatur. Alle Eckpfeiler eines Staates, die innere Zusammengehörigkeit, die Grenzen, das politische System, die Gesellschaftsordnung, waren infrage gestellt. Das Österreich der Ersten Republik war einer der bemerkenswertesten Fälle in der Geschichte der Staatenbildung, was sich darin ausdrückt, dass es zwei sehr unterschiedliche Versionen über diese Zeit gibt. In diesem Buch werden die beiden Lesarten in den ersten Abschnitten entfaltet: Den »Niederlagen« stehen die »Aufbrüche« gegenüber.

    Im ersten Abschnitt geht es um die Jahre 1918 bis 1922 als Zeit der Konfusion, der Extremsituationen und der alltäglichen Überlebenskämpfe. Er zeichnet nach, wieso die Gründungsjahre der Ersten Republik im politischen Diskurs, im kollektiven Gedächtnis und in der Historiografie eine schlechte Nachrede haben und mit Labels wie »Ein Staat, den keiner wollte«, »ideologische Missgeburt«, »ein lebensunfähiges, der Gnade und Ungnade der Sieger preisgegebenes Gebilde« versehen wurden. Da war etwa das Faktum, dass gleichzeitig mit der Gründung am 12. November 1918 der Anschluss an das Deutsche Reich beschlossen wurde. Österreich wurde als Notlösung, als Provisorium betrachtet. Über die territoriale Definition dessen, was »Österreich« sein wollte, herrschte zuerst Unklarheit, bis dann endgültig Verluste zu beklagen waren: Südtirol, die Untersteiermark, die deutschsprachigen Teile Böhmens und Mährens. Auch im Inneren war der Zusammenhalt immer wieder gefährdet; bis zur Genfer Sanierung stand die staatliche Kohäsion immer wieder auf dem Prüfstand. Die föderalen Egoismen, die sich auf ein tradiertes Landesbewusstsein stützen konnten, fanden in Sezessionsbestrebungen und wirtschaftlichen Absperrungsmaßnahmen ein reiches Betätigungsfeld. Der Staat, der im Herbst 1919 in der Pariser Friedenskonferenz diktiert wurde, schien nicht fähig, die Versorgung mit den elementarsten Dingen des (Über-)Lebens zu gewährleisten.

    Vielen schien, als würden die apokalyptischen Reiter durchs Land ziehen. Hunger und Kälte plagten die Menschen. Tuberkulose und Spanische Grippe rafften Junge wie Alte hinweg. Bei der grassierenden Hyperinflation lösten sich Vermögen und Fixgehälter in Luft auf. Spekulanten häuften gigantische Vermögen an. Die soziale Hierarchie purzelte durcheinander. »Der Untergang des Abendlandes« wurde bezeichnenderweise zum Lieblingsbuch der Mittelschicht. Das Ende des Krieges war, in der gefühlten Wahrnehmung vieler, nicht das Ende des Schreckens, sondern der Beginn eines Schreckens ohne Ende.

    Aus makroökonomischer Sicht bot sich den Zeitgenossen nach Kriegsende ein verheerendes Bild. Die Theorie von der Lebensunfähigkeit des neuen Staates setzte sich in nahezu allen Köpfen der politischen Eliten fest. Die pessimistische Prognose, Österreich würde auch mittel- und langfristig nicht in der Lage sein, eine ausgeglichene Leistungsbilanz zu erzielen, war »common sense«. Einer der einflussreichsten Publizisten, Gustav Stolper, sah als Hinterlassenschaft des alten Österreich eine »parasitäre« Ökonomie gegeben: »Deutschösterreich hat nie von seiner eigenen Produktion gelebt.« Der Anschluss an das Deutsche Reich schien die logische Lösung zu sein. Als Alternative gab es die Idee der Donauföderation. Beide Lösungsvarianten stießen in der Nachkriegsordnung auf unüberwindbare Hindernisse, der Anschluss auf den Widerstand der Entente, die Donauföderation auf den der Nachbarstaaten, die von einer Prolongierung der Wiener Vormachtstellung nichts wissen wollten.

    Aber es gibt auch eine andere Geschichte zu erzählen, die gern unterschlagen wird. Es ist leicht, die »erste Stunde Null« in düsteren Farben zu malen. Übersehen werden gern die großartigen Leistungen dieser Zeit, als in einer Ausnahme- und Notsituation Grundlagen geschaffen wurden, auf die die Republik noch heute zurückgreifen kann. Die erste Stunde Null bedeutete einen großen Aufbruch, denn in den ersten Jahren wurden von der Großen Koalition neue Fundamente des Zusammenlebens gesetzt. Darum geht es im zweiten Abschnitt des Buches.

    Das neue Österreich von 1918 war eine energische Reaktion auf die Niederlage der Monarchie. Die Mehrheit der Bevölkerung, vor allem die Arbeiterschaft und die Bauern, drängte auf die Ausrufung der Republik. Die etwa 400 000 Demonstranten auf der Wiener Ringstraße setzten am 12. November 1918 ein deutliches Zeichen, dass sie ein Ende der Monarchie herbeiwünschten und eine Vision hatten, wie dieser neue Staat sein sollte. Die Republik war eine starke Antwort darauf, dass der Erste Weltkrieg, 1914 aus Gründen der Ehre herbeigeführt, als Selbstmordunternehmen geendet hatte. Noch wenige Monate vor dem Zusammenbruch wiegten sich Kaiser und Militärführung in Zuversicht. Aber dann, infolge innerer Auszehrung, verschwand das 650-jährige Habsburgerreich innerhalb von Wochen von der weltgeschichtlichen Bildfläche und hinterließ eine Trümmerstätte. Alle Nachfolgestaaten versuchten, sich von der Erbschaft zu nehmen, was ihnen nach ihrer Auffassung zustand.

    Nicht genug zu rühmen ist: Österreich war in den Jahren 1918 bis 1922 im Vergleich zu vielen Nachbarstaaten geradezu ein Hort der Stabilität, setzte in Grenzfragen auf Verständigung und Volksabstimmungen und hatte der damals in Mittel- und Osteuropa durchaus gängigen militärischen Gewalt abgeschworen. Innenpolitisch blieb dem Land ein Bürgerkrieg erspart, Österreich schuf eine demokratische Republik nach westlichem Muster, in der in einer Art des moderierten Ausgleichs ein abgestuftes Regierungssystem etabliert wurde. Was immer man heute gegen den Föderalismus einwenden kann, er geht auf diese Gründerzeit zurück und wirkte konfliktdämpfend.

    Eine soziale Absicherung war in der extremen Klassengesellschaft der Monarchie nur sehr rudimentär vorhanden. Nun stand sie im Mittelpunkt der Innenpolitik. Die junge Republik gehörte zu den sozialpolitischen Vorreitern in Europa, ja in der Welt. Der Acht-Stunden-Tag, der bezahlte Arbeiterurlaub, die Arbeitslosenversicherung oder die Einbeziehung aller Arbeiter und Angestellten in das System der Krankenversicherung waren Pionierleistungen. Selbst Ansätze einer »Sozialpartnerschaft« waren zu erkennen. Und das »Rote Wien« hatte den Ehrgeiz, weltweit ein Modell sozialdemokratischer Stadtverwaltung zu werden. Das sind Belege dafür, dass Österreich, der Bettlerstaat, in der internationalen Welt ein Musterschüler sein wollte. Stolz auf die demokratische Republik stellte sich früh ein.

    Einer, der auch in Situationen von Misserfolg und Enttäuschung Gleichmut bewahrte und auch angesichts der Unterzeichnung des Vertrags von St. Germain der Weltuntergangsstimmung nicht das emotionale Terrain überlassen wollte, war Staatskanzler Karl Renner, der nach der Vertragsunterzeichnung im Parlament an die Österreicherinnen und Österreicher tröstend und anspornend appellierte: »Arbeiten, arbeiten, nicht verzweifeln, an die Zukunft glauben.« Karl Renner brachte bei seiner Rede in der Nationalversammlung am 17. Oktober 1919 einen Vergleich, der die Bemühungen der Großen Koalition pathetisch zusammenfasste: »Es geht uns nicht anders als zwei Touristen, die sonst im Leben Gegner waren und die zusammen von einem Schneesturm überrascht werden. Um nicht zu erfrieren, graben sie vereint eine Schneegrube, hüllen sich in denselben Mantel und harren Leib an Leib, sich gegenseitig erwärmend, auf die Wiederkehr der Sonne.«

    Einen Beweis, wie sehr die Jahre 1918 bis 1922 als Aufbruch erlebt wurden, lieferte das Jahr 1945. Die Gründung der Zweiten Republik war in mancherlei Hinsicht ein Remake. Staatskanzler wurde wieder Karl Renner, der 1945 meinte: »Und wenn in der Geschichte fast keine große Sache auf den ersten Hieb gelingt – auf den zweiten muss sie gelingen.« Als politische Grundlage wurde die Verfassung von 1920/29 übernommen. Der Föderalismus von einst wurde reinstalliert, Renner berief wieder Länderkonferenzen ein, um den in Trümmern liegenden Staat erneut zusammenzufügen. Die Große Koalition, am Anfang noch zusammen mit den Kommunisten, übernahm wieder die Macht im Land. Darüber, ob sich die Zweite Republik als vorbildlicher Sozialstaat verstehen sollte, brauchte nicht diskutiert zu werden. Im Rückgriff auf 1918 wollten die politischen Eliten aus der Geschichte lernen, den Neubeginn besser machen.

    Dieses Buch gibt im letzten Abschnitt den diversen Kulturkämpfen, die seit der Republikgründung aufregten und sich bisweilen bis zu einem mentalen Bürgerkrieg steigerten, breiten Raum. Der Populismus der Parteien kultivierte die Ressentiments, weil sie sich Nutzen davon versprachen. Das Unvermögen, gemeinsame Erfolge zu würdigen, war ein Grundzug der Ersten Republik. Innenpolitisch ließen sich in einem von Armut und Arbeitslosigkeit geplagten Land, so scheint es, nur mit Identitäts-, Erinnerungs- und Symbolpolitik Erfolge erzielen.

    So war eine neue republikanische Identität für das ganze Land nur sehr beschränkt durchzusetzen, denn kaum war das Pariser Diktat verkündet und eine potenzielle Räterepublik auch in Wien (wie in Budapest und München) abgewendet, zeigten sich Denkmuster, die gegen Demokratie und Republik gerichtet waren. Die Christlichsoziale Partei und deutschnationale Gruppierungen stellten zwar ab 1920 die Regierungen, aber sie hatten Probleme, diese Republik als die ihre zu sehen. Oft genug schien es für sie eine Unmöglichkeit zu sein, den Pluralismus der Moderne und den Aufstieg der Arbeiterklasse zu akzeptieren. Karl Kraus spottete über die antirepublikanischen Ressentiments und die bösartigen, ignoranten Verschiebungen, die diese produzierten: »Denn die Republik ist an allem schuld, auch an der Dummheit, und es hat sich gleich an ihrem ersten Tag herausgestellt, dass sie nicht imstande ist, die Schulden der Monarchie zu bezahlen, die Toten der Monarchie zu erwecken, den Krieg der Monarchie ungeschehen zu machen.«

    Dieses Buch zeigt das weite Panorama dieser Umbruchzeit. Es integriert politische Geschichte, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte. Die zwei Verfasser leitete das Bemühen, in die allgemeine Zusammenschau auch Besonderheiten einfließen zu lassen und sich vor allem die Widersprüche anzusehen. Ein Sprichwort besagt, dass jedes Ding klar scheint bis zu dem Tag, da man beginnt, sich mit ihm zu befassen. Das trifft auch auf die Beschäftigung mit den Gründungsjahren der Republik zu. Das Studium dieser heißen Phase der österreichischen Geschichte bleibt weiterhin spannend.

    TEIL I: NIEDERLAGEN

    DER SCHERBENHAUFEN

    DEMOBILISIERUNG

    »Es sind Bilder von packender Kraft, welche die Wiener Bahnhöfe in diesen Tagen bieten. Auf dem Westbahnhofe rollt alle 20 bis 25 Minuten ein Zug in die Halle, bis auf die Waggondecke hinauf mit Menschen gefüllt. Teile der aus Tirol zurückflutenden Armee, Insassen der Gefangenenlager in den alpenländischen Orten und jene wohlgenährt aussehenden Russen, denen es beschieden war, die Zeit ihres Zwangsaufenthaltes in Oesterreich als landwirtschaftliche Hilfsarbeiter verbringen zu können. Seit Tagen unterwegs, zum Teil in offenen Güterwagen fahrend, starren sie alle von Ruß und Schmutz. Aus den übernächtigen Gesichtern mit dem verwilderten Bart spricht deutlicher als jede andere Empfindung die Sehnsucht nach der Heimat. Nur nach Hause, nach Hause!«¹

    Es ist retrospektiv betrachtet eines der Wunder dieser Tage, dass es bei der Demobilisierung der Hunderttausenden nicht zu mehr Zusammenstößen und Gewaltakten kam. Die Angst der heimischen Bevölkerung vor den Heimkehrern war riesig. Die Heeresleitung appellierte an die Alliierten, die Sicherung der Eisenbahnstrecken zu übernehmen, um die Massenströme zu kontrollieren und für die Verpflegung zu sorgen. Selbst Gefangennahme schien für vorgesetzte Behörden akzeptabler als die Verheerung durch marodierende, plündernde Soldaten. In Wien suchten Polizei und Volkswehr die Ordnung einigermaßen aufrechtzuerhalten; in vielen Orten bildeten sich Heimwehren, um sich vor den hungrigen, ausgemergelten, elend gekleideten Gestalten zu schützen. In Mürzzuschlag, in Gloggnitz, in Wiener Neustadt plünderten Soldaten im großen Stil gemeinsam mit Kriegsgefangenen und Frauen. In Wörgl, Kitzbühel und Kufstein stopften sich Heimkehrer und Hungernde aus der Zivilbevölkerung all das in Tornister und Rucksäcke, dessen sie habhaft werden konnten.² Die Fliegerkaserne in Wiener Neustadt brannte. Gerüchte, dass 10 000 italienische Kriegsgefangene auf Wien zumarschieren würden, lösten in der Stadt Panik aus.

    Und doch war der Demobilisierungsspuk erstaunlich rasch vorbei. Die von Experten auf zwei Jahre veranschlagte Demobilmachung³ dauerte drei bis vier Wochen.⁴ Nach Abschluss des Waffenstillstandes waren 1,6 Millionen Soldaten aller Nationalitäten von der Südfront zurückzutransportieren. Die Hauptlast hatte die Eisenbahnlinie Triest–Laibach–Graz–Wien zu tragen, aber auch die Züge über Innsbruck nach Salzburg und Oberösterreich waren total überfüllt. Die Bahnhöfe in Wien oder Laibach hatten täglich 100 000 Heimkehrer zu bewältigen.⁵ Der Ansturm auf die Züge war derart groß, dass sich selbst auf Waggondächern, Puffern und Trittbrettern Soldaten drängten, die nichts als schnell nach Hause wollten.⁶ Das Generalstabswerk »Österreich-Ungarns letzter Krieg« spricht von mehreren Hundert Toten, die bei diesen Massenbewegungen zu beklagen gewesen seien, viele wurden während der Fahrt, etwa in Tunnels, bei scharfen Biegungen oder unter Brückenträgern, von den Waggons geschleudert, getötet oder verletzt.⁷ Die Gegenzüge waren voll mit Hunderttausenden italienischen Kriegsgefangenen.

    DIE ANGST VOR DEM BOLSCHEWISMUS

    Schon seit dem mit Russland geschlossenen Frieden von Brest-Litowsk vom 10. Februar 1918 strömten aus dem Osten Soldaten und Kriegsgefangene zurück. Zwei Millionen Soldaten der k.u.k. Armee waren dort gefangen gehalten worden, die sich nun unter meist abenteuerlichen Bedingungen Richtung Heimat aufmachten und oft in den russischen Bürgerkrieg gerieten. Viele von ihnen steckten auf ihrer Odyssee monate- und jahrelang in Sibirien fest, viele konnten erst nach den Revolutionskriegen, also 1921, zurückkehren. So traf Heimito von Doderer, der am 12. Juli 1916 in Kriegsgefangenschaft geraten war und seine Erfahrungen in den Lagern in kürzere Berichte und Erzählungen⁸ und in den Roman »Der Grenzwald« einarbeitete, erst am 14. August 1920 wieder in Wien ein.⁹

    Die Heimkehr der Soldaten vollzog sich oft genug unter demütigenden Bedingungen, weil sie über die Umstände ihrer Gefangennahme genauestens befragt und der Desertion verdächtigt wurden. Durch Abwehrorgane und V-Männer wurden Verfahren eingeleitet, die Rückkehrer gerieten ins Visier der Militärjustiz, die auch ausfindig machen wollte, ob die gerade der Hölle des Krieges Entkommenen mit der Revolution sympathisierten und nun den »bolschewistischen Bazillus« nach Österreich einschleppten. Weltanschauliche Schulungen sollten sie zurück auf den Pfad der vaterländischen Tugend bringen. Waren schon diese Erfahrungen empörend, wie viel mehr Zorn löste der Befehl aus, dass sie nach mehrwöchiger Quarantäne, nach medizinischer und ideologischer Perlustrierung und einem vierwöchigen Urlaub wieder in Ersatzkörper und Marschbataillone der k.u.k. Armee eingereiht und an die italienische Front geschickt wurden.

    Heimkehrer waren an Rebellionen von Armeeteilen beteiligt, »Hass auf den Krieg, Hass auf jene, die ihn führten«, machte sich immer mehr breit. Die lächerlichen bis brutalen Methoden der »Bolschewikenreinigung« verursachten genau das Gegenteil dessen, was die Militärführung beabsichtigte.¹⁰ Wenn Proteste aufflammten, schritten die Militärs zu drakonischen Maßnahmen, glaubten, nur mit größter Härte, durch Erschießungen und Kerkerhaft, die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. Gegen die Miseren der materiellen Realität hatten sie allerdings wenig zu bieten. Die Heimkehrer erlebten, wie schlecht es um die Versorgung ihrer Familien und der ganzen Bevölkerung in Österreich-Ungarn stand, wie schwierig bis unmöglich es war, die zerrissenen Uniformen gegen neue Kleider zu tauschen.

    Dem Historiker Pieter Judson ist recht zu geben, wenn er nachdrücklich darauf verweist, dass Verschwörungsparanoia, sinnlose Opferoffensiven, Größenwahn und Realitätsverweigerung der Eliten, schließlich Hunger und materielle Erschöpfung im Hinterland und an der Front die Grundfesten der Habsburgermonarchie zum Einsturz brachten. Nicht die Nationalitätenkonflikte, nicht die sezessionistischen Führer der Nachfolgestaaten betrieben mit Erfolg das Zerstörungswerk, sondern die Unfähigkeit des Staates, die Versorgung zu sichern, vor Krankheit und Tod zu schützen und den Militärapparat in seinem Aktionismus in Zaum zu halten.

    DIE K.U.K. ARMEE ZERFÄLLT

    Lange Zeit war die Armee ein Hort der Stabilität. Selbst die vielen Toten der ersten Kriegsmonate, die Hunderttausenden Opfer der Serbien-Offensive oder der Karpatenschlachten vermochten die Fundamente des Heeres nicht zu erschüttern. Die Positionen wurden nachbesetzt. Noch wurde das Heer gut versorgt, hielten Disziplin und Unterordnung, schmiedeten die Offensiven der Feinde und militärische Erfolge ab Mitte 1915 die k.u.k. Armee zusammen, funktionierte der Zusammenhalt der multiethnischen Truppen.

    Den versprochenen schnellen Sieg (»Bis Weihnachten sind wir wieder zu Hause«) gab es allerdings nicht. Der extreme Ausnahmezustand in Schützengräben, Hochgebirgsstellungen und verschlammten Sumpfgebieten entpuppte sich als Dauererscheinung. Was in der Literatur als »Stahl- und Blutbad« und Geburt eines »neuen Menschen« gefeiert wurde, bedeutete für die Mehrheit der Soldaten die Hölle auf Erden, eine endlose Tortur von »Erschöpfung, Verschleiß, Verwüstung und Vernichtung«.¹¹ Endlose Langeweile wechselte ab mit exzessiven Grenzerfahrungen, Soldaten waren harschen Naturgewalten wie endlosen Regenfällen, eisiger Kälte, Hitze oder Lawinen ausgesetzt. Jede Front hatte ihre spezifischen Qualen.

    Die ersten Auflösungserscheinungen zeichneten sich an Front und Etappe ab, als die Lebensmittelknappheit auch für die Truppen spürbar wurde. Im Januar 1918 versprach die Führung noch, mit Lebensmittellieferungen aus dem besetzten Rumänien und aus der Ukraine eine Linderung der Situation im Hinterland und an der Front, aber die Ansagen entpuppten sich weitgehend als Fata Morgana.

    In den einzelnen Heeresteilen nahmen im Lauf des letzten Kriegsjahres Desertionen sprunghaft zu, Meutereien flammten in Kasernen auf und führten zu standgerichtlichen Prozessen und Hinrichtungen.¹² Militär war im Einsatz, um Fahnenflüchtige aufzugreifen und versteckte Nahrungsmittel aufzustöbern. Der Zusammenhalt im Land war in Auflösung, fast jeder in einen brutalen Überlebenskampf verstrickt, mit furchtbaren Verdächtigungen der einzelnen Institutionen, Nationalitäten, Gruppen gegeneinander.

    Nach dem Scheitern der Piave-Offensive im Juni 1918 bekamen die Auflösungserscheinungen den finalen Schub, beschleunigt durch die Alliierten, die sich auf die Auflösung der Monarchie geeinigt hatten und das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten zum Programm erhoben. Im Herbst 1918 machte sich in der Wiener Regierung endgültig Resignation breit, militärisch war keine neue Initiative mehr zu erwarten, die kämpfenden Truppen konnten weder mit genügend neuen Waffen und frischer Munition noch mit ausreichender Versorgung rechnen. Am 14. September 1918 sandte Kaiser Karl, allerdings vergeblich, eine Friedensnote an alle alliierten und neutralen Länder.¹³

    Im Oktober 1918 überstürzten sich die Ereignisse; innerhalb eines Monats vollzog sich die Auflösung der Monarchie. Am 1. Oktober kündete Ministerpräsident Max Freiherr Hussarek-Heinlein die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat an. Am 6. Oktober traten erstmals in Zagreb Reichsrats- und Landtagsabgeordnete zu einem gemeinsamen »Nationalrat« der Slowenen, Kroaten und Serben zusammen. Am gleichen Tag beschlossen die Siebenbürgen-, Banater und Bukowina-Rumänen den Anschluss ihrer Gebiete an Rumänien. Am 7. Oktober forderte der Warschauer Regentschaftsrat den Anschluss aller polnischen Gebiete an einen souveränen polnischen Staat. Am 14. Oktober gab Edvard Beneš in Paris die Zusammensetzung der interimistischen tschechoslowakischen Regierung bekannt.

    Der letzte Versuch, das Reich auf neuer Basis zusammenzuhalten, beschleunigte noch den Prozess der Auflösung. Kaiser Karls »Vielvölkermanifest« vom 16. Oktober 1918 verschaffte den nationalen Parlamenten die Legitimation für die nächsten Schritte. Gleichzeitig stiftete das Manifest Verwirrung, denn es galt nur für den cisleithanischen Teil. Noch konnte man dem, was in den nächsten Tagen passierte, die Absicht unterlegen, Österreich-Ungarn in einen Bund autonomer Staaten umzuwandeln. Aber hinter den Kulissen bereitete sich die Verselbständigung der Staatenbildung vor, die auch die ungarische Reichshälfte einbezog. Am 18. Oktober konstituierte sich der ukrainische Nationalrat in Lemberg. Die deutschsprachigen Abgeordneten reagierten auf Karls »Vielvölkermanifest« mit der Einberufung eines provisorischen »Nationalrates« für den 21. Oktober in Wien.¹⁴

    Am 27. Oktober wurde die letzte kaiserliche Regierung durch Heinrich Lammasch gebildet. Sie war der letzte, verzweifelte Versuch, die Umwandlung der Monarchie in eine Föderation selbstständiger Staaten zu moderieren. Die Ernüchterung kam in den nächsten Tagen. Am 28. Oktober wurde in Prag die tschechoslowakische Republik ausgerufen. Am 31. Oktober übernahm in Budapest die »nationalbürgerliche« Revolution um Mihály Károly die Regierung, der langjährige Ministerpräsident Stephan Tisza wurde erschossen. Am gleichen Tag übernahmen polnische Truppen die Macht in Krakau.¹⁵ Die neuen Regierungen, die sich durch die Alliierten unterstützt fühlen durften, erklärten ihre Unabhängigkeit, setzten militärisch Fakten und erklärten Teile des Staatsgebietes zu ihrem Territorium.

    DIE KAPITULATION

    Erosion im Inneren und äußere Bedrohung lösten bei der k.u.k. Armee den endgültigen Auflösungsprozess aus. Die Österreicher planten bereits den Rückzug aus den vorgeschobenen Positionen in Italien, als am 24. Oktober 1918 die Offensive der Alliierten an der Italien-Front begann. Noch am 24. Oktober kam eine Weisung der ungarischen Regierung an die Honvéds und ungarischen Angehörigen des gemeinsamen Heeres, den Marsch Richtung Heimat anzutreten, um Vorstößen der Alliierten auf ungarisches Staatsgebiet zuvorzukommen. Bis dahin loyale tschechische, mährische oder kroatische Truppen folgten ihrem Beispiel. Als Formationen der österreichischen Heeresteile Befehl erhielten, abziehende Kräfte zu ersetzen, widersetzten sie sich. Die militärische Befehlsordnung hatte keine Kraft mehr, Truppenteile verließen einfach die Front, andere kämpften weiter. Die Heeresleitung verlor jede Übersicht über Vorhandensein und Einsatzbereitschaft der Kompanien. Österreich wollte, oder besser, musste um einen Waffenstillstand ansuchen.

    Die alten Eliten um den Kaiser in Wien verfielen in eine Art geistige Schockstarre. Noch vor wenigen Wochen hatten sie an den militärischen Erfolg der Monarchie geglaubt, aber jetzt war alles anders. Auf diese Entwicklung waren sie nicht vorbereitet, diese Katastrophe hatten sie selbst in den schlimmsten Albträumen der Kriegsjahre nicht erwartet. Viel zu spät fasste Kaiser Karl den Entschluss zu einem Waffenstillstand, allerdings wollte er ihn nicht selbst unterzeichnen. Er suchte hektisch nach Verantwortlichen, die diese Aufgabe für ihn erledigen sollten. So bat er den Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner, Demonstrationen für einen Waffenstillstand zu organisieren, versuchte die neue deutschösterreichische Nationalversammlung zur Unterzeichnung zu gewinnen, aber Victor Adler beschied ihm, dass der Faktor, der den Krieg begonnen habe, ihn auch beenden müsse. Karl zögerte, suchte nach Notlösungen und vermehrte dadurch das Führungschaos, das schließlich zum Debakel führte. Der Abschluss des Waffenstillstandes in der Villa Giusti bei Padua am 3. November 1918¹⁶ geschah unter den denkbar nachteiligsten Bedingungen. Während die Italiener die Verhandlungen erst einmal eröffnen wollten, stand die k.u.k. Armee unter Zeitdruck und wollte so schnell wie möglich einen Vertrag zustande bringen. Österreich-Ungarn hatte einen Waffenstillstand im Sinn, die Alliierten verlangten eine Kapitulation mit strengen Bedingungen, unter anderem mit kompletter Bewegungsfreiheit ihrer Truppen in der Habsburgermonarchie. Die Österreicher zögerten, die Alliierten verlangten ultimativ die Annahme der Bedingungen, sonst würde die Offensive mit aller Macht fortgeführt. Der Kaiser gab zwar die Zustimmung zur Unterschrift, wollte aber die Verantwortung abgeben und die Krone heraushalten. Was folgte, war eine tragische Schmierenkomödie: Weil sich trotz Anweisung des Kaisers General Arthur Arz von Straußenburg weigerte, als Armeeoberkommandant den Waffenstillstand zu unterzeichnen, wurde die Fiktion erzeugt, der abwesende, nicht erreichbare General Hermann Baron Kövess hätte ihn unterzeichnet. Die Österreicher wollten die Einstellung der Kämpfe mit 3. November, 15 Uhr, die italienische Heeresleitung sah keinen Anlass zur Eile und argumentierte damit, dass sie ihre Truppen nicht so schnell informieren könne.¹⁷

    Italienische Truppen nutzten die Verwirrung, überholten mit Vorauskommandos die verstreuten k.u.k. Truppen, schufen mit der Besetzung der Brenner-Grenze, des Kanaltals und Triests vollendete Tatsachen, sammelten Kriegsgefangene ein oder ließen nach Entwaffnung Truppen ziehen. Entkräftete österreichisch-ungarische Soldaten wurden leichte Beute an allen Teilen der Südwestfront. Die Ströme der Marschierenden und Trains blockierten einander. Hunderte Autos und Tausende Fuhrwerke blieben auf den Straßen liegen, Abertausende Pferde irrten herrenlos herum, kleine Gruppen von Soldaten riskierten den Rückzug übers Gebirge, Massen von hungernden, schlecht gekleideten Desperados drängten durch die großen Täler, immer auf der Suche nach Lebensmitteldepots.¹⁸

    Eine Folge dieses gigantischen Chaos war, dass nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes Hunderttausende Soldaten in italienische Kriegsgefangenschaft gerieten.¹⁹ Allen Erwartungen einer raschen Heimkehr zum Trotz wurden sie unter den miserablen Bedingungen von Novemberkälte und schlechter Ernährung in Zeltlagern in der Nähe von Verona festgehalten, Zehntausende starben an Lagerkrankheiten (Grippe, Typhus, Malaria). Die zäheren Naturen wurden zu Aufräumarbeiten an der ehemaligen Front eingesetzt, große Gruppen als eine Art Geisel in abgelegene Teile Italiens verfrachtet, so auf die Toteninsel Asinara bei Sardinien. Erst mit Herbst 1919, nach Unterzeichnung des Friedensvertrages von Saint Germain, konnte die große Masse der Kriegsgefangenen den Weg in die Heimat antreten.²⁰

    Die Bilanz dieses Krieges, den die Habsburgermonarchie zur höheren Ehre des Reiches hatte führen wollen, war verheerend: Bis zum Ende der Kämpfe waren neun Millionen Soldaten im Einsatz, ungefähr 1,5 Millionen starben im Krieg bzw. an seinen Folgen, zwei Millionen wurden verwundet und eineinhalb bis zwei Millionen gerieten in Gefangenschaft.²¹

    VOM SICHTEN UND TEILEN DER ERBSCHAFT²²

    WELCHE GRENZEN?

    1918 feierte das Narrativ des bürgerlich-demokratischen Nationalstaates seinen Triumph. Die Geschichte der Habsburgermonarchie war nach diesem Konzept an ein logisches Ende gekommen, die alten Nationalitätenkonflikte im k.u.k. Reich waren beim Finale angelangt, die geschichtliche Notwendigkeit hatte das zusammengestückelte Feudalreich aufgelöst. Theoretisch, nach der reinen Idee des Nationalstaats, sollten die neuen Grenzen den inneren Zusammenhalt der Völker festigen und den Umgang miteinander erleichtern. Aber so schnell und klar wie in der Theorie waren in Mittel- und Osteuropa weder eindeutig definierte ethnische Grenzen noch stabile Gebilde in der staatlichen Neuordnung zu haben. Der Anspruch, moderne, ethnisch konsistente und lebensfähige Nationalstaaten zu begründen, stand im Widerspruch zu den harten, kärglichen Realitäten der Nachkriegszeit. Die meisten Nachfolgestaaten waren so multiethnisch wie die verhasste Habsburgermonarchie, was ihnen eine innenpolitische Krise nach der anderen bescherte.²³

    Der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte in dem 14-Punkte-Programm des Januar 1918 eine politische Neuordnung Europas entworfen: Liberale, bürgerlich-demokratische Nationalstaaten nach westlichem Muster sollten nun auch Mittel- und Osteuropa neu strukturieren, der Völkerbund sollte als übergeordnete Instanz die internationalen Beziehungen zivilisieren und moderieren. Einen zentralen Baustein in Wilsons ideologischem Gefüge bildete das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Neu war dieses Argument zwar nicht, aber die Besiegten setzten alle Hoffnung in die Zauberformel der Selbstbestimmung, um ihre Position zu verbessern. Es sollte sich sehr schnell erweisen, dass Wilsons Programm keineswegs so klar gefasst war, wie der Begriff nahelegte. Wilsons Ansage sah nicht vor, dass bei der Staatenbildung Gemeinde für Gemeinde, Region für Region die staatliche Zugehörigkeit per Volksentscheid bestimmt wurde, dass es bei der Definition der Staatsgrenzen auch andere Argumente abzuwägen galt, die in manchen Fällen schwerer wogen.

    Erst nach und nach kam das Wiener Parlament in den neuen Realitäten der Nachkriegszeit an. Es musste registrieren, dass Österreich, von den Alliierten als Rechtsnachfolger der untergegangenen Monarchie eingestuft, bei den Grenzkonflikten mit den Nachbarländern mit Ausnahme Ungarns aus mehreren Gründen schlechte Karten hatte.²⁴

    Für Italien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei (und natürlich auch Polen, Rumänien und die Ukraine, doch diese Länder hatten keine gemeinsame Grenze mit Deutschösterreich) galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich für alte Demütigungen zu rächen. Das neue Österreich mochte noch so oft den Geist der friedlichen Kooperation und des gegenseitigen Nutzens beschwören und in diesem Sinne auch viele Gesten und Vorschläge einbringen: Prag, Belgrad oder Rom sahen das »alte Österreich« am Werk und setzten die in Wien agierenden politischen Eliten mit dem Habsburgerreich gleich. Bei Sichtung und Verteilung des Erbes bestand der Verdacht, dass sich Österreich bloß durch eine an den Zeitgeist angepasste Rhetorik aus der Verantwortung stehlen und möglichst viel aus der gemeinsamen Vermögensmasse retten wollte.

    Die Eliten der »Nachfolgestaaten« erinnerten zur Untermauerung ihrer Ansprüche an die Fatalitäten, Schizophrenien und den feudal-autoritären Charakter des »alten Österreich«. Und dann gab es da noch die Erinnerung an den gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg, in dem dominierende deutschnationale Gruppierungen sich an Mitteleuropa-Projekten begeistert hatten, die eine Kolonisierung des slawischen Ostens und Südostens unter deutscher Führung vorsahen.

    Diese Vergangenheit war nicht vergessen, als die siegreichen Alliierten die Pariser Friedenskonferenz eröffneten und die verbündeten »Nachfolgestaaten« zur Darstellung ihrer Vorstellungen einluden. Seit dem 18. Januar 1919 tagte in Paris offiziell die Friedenskonferenz der fünf Großmächte (USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan). Die Feindmächte, unter ihnen Österreich, waren grundsätzlich ausgeschlossen. Delegationen der befreundeten Länder, wie der Tschechoslowakei und Jugoslawiens, konnten sich in Plenarsitzungen und Unterkommissionen, in Vorkonferenzen, hinter den Kulissen oder gar im Obersten Rat in die Beratungen und Entscheidungen einbringen. Die Regie sah vor, dass der in monatelangen Verhandlungen ausgearbeitete Vertrag den gegnerischen Mächten vorgelegt werden sollte. Diese hatten die Möglichkeit, in schriftlicher Form ihre Kommentare und Korrekturvorschläge vorzutragen; die Eingaben wurden vom Obersten Rat und gegebenenfalls von Kommissionen behandelt und in die Schlussversion des Vertrages eingearbeitet. Mündliche Verhandlungen waren nicht vorgesehen.

    Von allen Verliererstaaten wurde das wie ein Zivilprozess organisierte Verfahren als Diktat empfunden. Die österreichische Politik hatte mit diplomatischer Isolierung zu kämpfen, nur über indirekte Kanäle konnten eigene Vorstellungen an die Siegerstaaten herangetragen werden. Direkter Kontakt mit den führenden Politikern der Alliierten war nicht möglich, Deutschösterreich hatte keine Botschaften in den alliierten Staaten. Kommuniziert und verhandelt werden konnte nur über die Botschaften neutraler Staaten oder kurzfristig mit nach Wien entsandten alliierten Kommissionen. Das Verhandlungsregime war prädestiniert, eine Atmosphäre der allseitigen Ungewissheit, der Vermutungen und Gerüchte, der tausend Pläne und Strategiepapiere, der Kontaktversuche und Kompromissvorschläge zu erzeugen. Wer behielt den Überblick, welche Lösungen waren unter den gegebenen Umständen optimal?

    Vergeblich mühten sich die Regierungen in Berlin, Wien und Budapest um Gleichberechtigung aller beteiligten Mächte, verwiesen auf den Regimewechsel, stießen allerdings auf den Widerspruch der siegreichen Alliierten, die die Verhandlungen als Sieger aufnehmen und den Besiegten fertige Vertragsbedingungen präsentieren wollten. An Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe war trotz des Anspruchs, einen Frieden zu schaffen, der alle Kriege beendete, nicht gedacht. Die Friedensverträge von Versailles (mit dem Deutschen Reich), St. Germain (mit Österreich), Trianon (mit Ungarn) und Sèvres (mit dem Osmanischen Reich) waren in ihrer gesamten Inszenierung Diktate, bei denen es für Einsprüche, Proteste oder Gegenvorstellungen nur beschränkt Raum gab. Die Bedingungen sahen eine eindeutige Zuweisung von Schuld und Sühne, von Restriktionen und Reparationen vor. Die alliierten Staatsmänner aus Frankreich und Italien beriefen sich dabei auf die Erwartungen ihrer Völker, die nach dem militärischen Sieg, nach jahrelangen Opfern und Entbehrungen, nach Hunderttausenden Toten und Verletzten, nach Verwüstungen großer Landstriche Vergeltung und Wiedergutmachung einforderten. Die Siegermächte konnten den Verlierern die Grenzen diktieren, so wie es die Mittelmächte in purem Imperialismus im Friedensvertrag mit Sowjetrussland in Brest-Litowsk vorgemacht hatten. Gleichzeitig bestand bei den Alliierten ein Interesse, keine neuen Brandherde und Kriege entstehen zu lassen.

    SIEGER UND BESIEGTE

    Am 7. Mai 1919 wurden dem Deutschen Reich im Schloss Versailles die Friedensbedingungen übergeben.²⁵ Die Summe der Vorgaben – Reparationen für die erlittenen Schäden, Reduzierung der Militärmacht, Verlust Elsass-Lothringens, Besetzung deutscher Gebiete als Sicherheitsgarantie und last but not least der Vermerk der deutschen Kriegsschuld – wurde als »Verbrechen«, als »Unglück ohne Grenzen« empfunden. Nach monatelangen Verhandlungen wurden einige besonders drastische Bestimmungen gemildert. Am Inhalt änderte sich trotzdem wenig.²⁶ Die deutschen Erwartungen, ganz an Wilsons »14 Punkten« orientiert, stürzten in bodenlose Enttäuschung. Auch die sozialdemokratisch geführte deutsche Regierung verfiel tiefstem Jammer. Trotzdem blieb der Deutschen Nationalversammlung nichts anderes übrig, als am 22. Juni 1919 dem Vertrag zuzustimmen.

    Bei der Behandlung von Österreich und Ungarn waren sich die Alliierten weniger sicher, hier kamen die Ansprüche der Nachfolgestaaten ins Spiel, die sich zum Teil als Alliierte und Assoziierte militärische Meriten erworben und das Ende der Habsburgermonarchie herbeigeführt hatten und in künftige Bündnissysteme eingebunden sein sollten. Alle am Grenzkonflikt beteiligten Staaten, natürlich auch die siegreichen Alliierten als Schiedsrichter, standen unter Druck, mussten sie doch nicht nur die Interessenkollision zwischen »Siegern« und »Verlierern« bewältigen, sondern auch die zwischen den »Verlierern« untereinander ausgleichen und erst recht jene zwischen den »Siegern«.

    Die deutschösterreichische Regierung steckte überdies im Dilemma, dass sie ihre Ansprüche nach einander widersprechenden Kriterien erhob. Im Norden, im Fall Böhmens und Mährens, verbat sie sich die Grenzziehung nach den Trennlinien der alten Kronländer, während sie im Fall Kärntens genau darauf setzte. Für Tirol war eine territoriale Argumentation mit dem alten Kronland sinnlos, da man wusste, dass »Welsch-Tirol« verloren war; hier grub man sich in die Forderung nach den sprachlich eindeutig deutschsprachigen Gebieten ein. Im Fall Südtirols betonten die Italiener die Hohen Tauern als natürliche geografische Grenze, im Fall Kärntens tauchte dieses Argument mit Verweis auf die Barriere der Karawanken wieder auf, diesmal auf österreichischer Seite. Die Wiener Regierung, im Wissen um dieses Dilemma, ruderte bei Kärnten zurück und forderte, den Konflikt in einer Volksabstimmung zu entscheiden. Zumindest nach außen sollte die deutschösterreichische Regierung eine scheinbar konzise, einheitliche Position verfolgen, die als Mantra wiederholt werden konnte: Alle deutschsprachigen Gebiete zu Deutschösterreich, in Streitfällen international kontrollierte Volksabstimmungen. Und als oberstes Prinzip: keine Kriege, keine militärischen Aktionen, sondern Verhandlungen und gegebenenfalls internationale Schiedssprüche.²⁷

    Realpolitisch war Deutschösterreich gegenüber seinen Nachbarn bei wichtigen Faktoren in einer denkbar schlechten Position. Die Waffenstillstandsbedingungen zwangen ihm eine relative Demilitarisierung auf, über die Stärke der Volkswehr musste stets mit den Alliierten verhandelt werden. Alliierte Truppen, und dazu zählten neben dem italienischen Heer tendenziell auch tschechoslowakische und

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