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Jerusalem: Stadt der untergehenden Sonne
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Jerusalem: Stadt der untergehenden Sonne

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Jerusalem, heilige Stadt und Kampfplatz dreier Religionen, ein unbegreiflicher Ort: Klagemauer, Grabeskirche, Felsendom, Jaffator, Ölberg und steinerne Gassen, in denen die Geschichten ihrer Bewohner jeden Fremden, der sie betritt, in unendliche Verwirrung stürzen. In seinen dichten Reiseaufzeichnungen geht Alexander Ilitschewski der unermesslichen Vielschichtigkeit Jerusalems, der Stadt auf dem Vulkan, auf den Grund. Er lässt sich unmittelbar beeindrucken, beschreibt das Unbegreifliche, die Schönheit und Hässlichkeit dieser Stadt ›expressiv-impressionistisch‹ wie ein Jazzpianist und analysiert mit glasklarer Schärfe die Abgründe der Geschichte, die sich in der Stadt spiegeln und auf Schritt und Tritt fühlbar sind. Mit den Augen dieses ungewöhnlichen, kolossalen Schriftstellers wirft der Leser einen tiefen Blick in einen unbekannten Kosmos.
LanguageDeutsch
Release dateNov 3, 2017
ISBN9783957574916
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    Jerusalem - Alexander Ilitschewski

    Mauerspaziergänge

    1.

    Reiseliteratur ist ein unweigerlich unpräzises Genre, und darin liegt ihr Vorteil und ihre Schwäche. Die Schwäche besteht in der Nähe zum Objekt, gut beschrieben in der Redewendung: »Ich seh den Wald vor lauter Bäumen nicht.« Ihr Vorteil ist die verfremdende Distanz, dank der zum Beispiel Natascha Rostowa, die keinen Schimmer hatte, was da auf der Theaterbühne vor sich ging, das Wichtigste sah: den Pappmond, dessen Aufgehen den weiteren Verlauf des Romans bestimmen sollte – indem er sie dazu bewog, auf das Werben Kuragins einzugehen. Auf eine solche kindliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, die einen Blick in das Wesen einer anderen Welt gewährt, kann ein Reisender nur hoffen, wenn er sich zu Orten aufmacht, deren Straßenschilder und Warenetiketten sich seinem Verständnis entziehen.

    Mein liebstes Beispiel für die Kuriosität von Reisenotizen ist Lewis Carrolls Tagebuch seiner Reise durch Europa und Russland. In diesen Aufzeichnungen lassen sich, abgesehen von seiner besonderen Faszination für kleine Mädchen (Graf Golizyn konnte bis zuletzt nicht begreifen, warum es den englischen Schriftsteller so sehr nach einem Foto seiner Tochter in voller Größe gelüstete), ebenso Momente expressiver Treffsicherheit finden. Wenn Carroll beispielsweise die Berliner Synagoge besucht, liest sich das wie die Beschreibung einer Reise zu einem fremden Planeten; unter anderem hält er die goldenen Stickereien auf dem Tallit für Gebetsriemen. Dann wiederum bemerkt er, dass Spaziergänge durch Petersburg von weniger als fünfzehn Meilen wegen der enormen Entfernungen sinnlos sind: Es scheint, als ginge man durch eine Stadt, die von Riesen für Riesen erbaut worden ist. Carrolls Moskau ist eine Stadt aus Weiß mit grünen Dächern, mit vergoldeten Kuppeln und durch unüberwindliche Schlaglöcher verwüsteten Straßen; eine Stadt der Droschkenkutscher, die fordern, man möge ihnen ein Drittel draufschlagen, »weil heut die Kaiserin Geburtstag hat«. Nicht weniger meisterhaft hat der Autor von Alice den Jahrmarkt von Nischni Nowgorod und die dort Anwesenden beschrieben – seltsame Gestalten mit ungesunder Gesichtsfarbe in wehenden bunten Gewändern zwischen Persern und Chinesen; wer sie waren, werden wir nie erfahren, doch dafür werden wir uns immer an den Vergleich der Wehklage des Muezzins in der tatarischen Moschee mit dem Schrei der Unheil verkündenden Todesfee erinnern.

    Jerusalem – mein Reiseziel – ist in geografischer und historischer Hinsicht derart vielschichtig und unerschöpflich, dass jeder Reisende, der dorthin gerät, unvermeidlich mit Verfremdung konfrontiert ist, er muss prinzipiell danebengreifen bei dem Versuch, seinem Gedächtnis die durch die Bewegung im Raum angestoßenen Facetten zu entlocken. Thelonious Monk erreichte durch ein clowneskes Spiel mit steif gespreizten Fingern jene virtuose Unschärfe, jenes »expressiv Impressionistische«, das bisweilen treffender ist als jede mimetische Beschreibung des Klassizismus. Doch dafür muss man eben Thelonious Monk sein.

    2.

    Bekanntlich beginnt ein Theaterbesuch mit der Parkplatzsuche. Und der eines Landes – mit der Schlange am Check-in. »In jeder Passagiermenge findet sich in aller Regel ein Jude mit Pejes und Kindern / schließe dich seinem Reigen an«, schrieb Brodsky in seinem Gedicht Einladung zur Reise.¹ Und tatsächlich, zigmal überprüft bei Flügen in alle Himmelsrichtungen: Die richtige Schlange findet man, indem man nach einem breitkrempigen Hut mit Schläfenlocken darunter Ausschau hält.

    Am Schalter von El Al bilden die Pilger ein eigenes Schlangenende. Ein akkurater junger Hochwürden mit protestantischem Bärtchen wie Trotzkis (der momentane Trend in der Auslandsabteilung der Russisch-Orthodoxen Kirche, die vor dem Ausland zivilisiert wirken will) und einem riesigen goldenen Kreuz an einer dicken und doch eleganten – den Türketten in den Häusern der Neureichen ähnlichen – goldenen Kette (Prunk für Schönheit zu halten ist eine byzantinische Eigenart). Ein schneeweißer Kragen, den eine Frau zurechtzupft, wahrscheinlich seine Mutter; sie tritt zur Seite und betrachtet ihren Schützling aus der Distanz, mit unverhohlener Genugtuung: So jung und schon so eine hohe Position, eine große Karriere liegt vor ihm. In Anton Tschechows Erzählung Der Bischof bekommt seine Eminenz Besuch von der Mutter, die ihn einschüchtert und die man nur ungern zu ihm lässt … Jedenfalls ist dieser junge Priester übertrieben wohlerzogen, das Kreuz übertrieben groß und die Kette maßlos.

    3.

    Am Flughafen Moskau-Domodedowo, vor den zwei geöffneten Büdchen der Passkontrolle, eine riesige Menschenmenge, wie auf den Bahnhöfen zu Zeiten des Bürgerkriegs. Ich stehe da und denke ungefähr: »Die Bipolarität Russlands: Dreifaltigkeit und Dreigespann. Rubljow und Gogol. Wir beten und stehlen. Tschechow schrieb, dass es für den russischen Menschen Gott entweder gibt, oder es gibt Ihn nicht; eine aufgeklärte Mitte ist unerreichbar.«

    4.

    Der junge Securitymann ruft mich zum Schalter und verschwindet selbst. Ich schaue mich um. Plötzlich ist er wieder da, wie aus dem Nichts.

    »Wen suchen Sie da in der Menge?« – Fangfrage.

    »Sie.«

    Er lächelt, doch dann besinnt er sich auf die Anweisungen, das Gesicht wird streng.

    »Kennen Sie jemanden in der Schlange? Warum haben Sie sich umgesehen?«

    Nach und nach muss ich diesem gewissenhaften jungen Mann alles über mein Leben erzählen, über den Fonds Avi Chai, die Zeitschrift Lechaim, den Verlag Knischniki, darüber, wie mir meine Frau beim Kofferpacken geholfen hat, und worüber ich in Jerusalem schreiben will. Bis ich plötzlich das Gefühl habe, am Ende fliegt der noch mit – so gute Freunde sind wir geworden. Seine zwei Vorgesetzten, in anderer Uniform, durchbohren mit ihren Blicken derweil die Menge, mustern streng jeden Einzelnen. Und mir fällt wieder ein, wie ich vor zwanzig Jahren auf einem Schiff in den Hafen von Haifa einfuhr; bewegte See, die sich in der Bucht beruhigt; alle Passagiere an der Reling zusammengetrieben, damit die Leute vom Grenzschutz, mit einem Motorboot aus dem Hafen gekommen, sie gut sehen können. Jetzt, am Flughafen, spüre ich genau die gleichen durchdringenden Blicke auf mir wie von jenem Boot aus, das damals zwei, drei Runden um unser Schiff drehte. Kontrolle auf allen Ebenen – Aussehen, Verhalten, Herkunft usw. – ist die Gewähr für Sicherheit. Wenn man aus dem Haus geht, sieht man auch nach, ob Gas und Wasser abgedreht sind.

    5.

    Ich gehe zum Gate, wo das Flugzeug bereitsteht, und betrachte unauffällig die Menge; merke, wie das Auge auf jüdisch aussehenden Gesichtern ruht: Diese Gesichter vermitteln aus irgendeinem Grund Sicherheit; wahrscheinlich ist es das Gefühl der Zugehörigkeit – immerzu erinnert uns jemand an jemand anderen, wenn auch unbewusst … Ich trete ans Aussichtsfenster und beobachte die Flugzeuge auf dem Rollfeld. Ein bulliger, stämmiger Schlepper, der gerade eine Boeing 747, groß wie ein Schiff, von der Gangway gezogen hat, kriecht unten vorbei, auf seiner niedrigen Bordwand steht in riesigen Lettern: »EIMER ABSTELLEN VERBOTEN«.

    Ein leerer Gepäckwagenzug kreist beim Wenden unter den Flugzeugflügeln wie ein Karussell, traurig: ein leeres Karussell im herbstlichen Park, verwaiste Pferdchen, Raketen, Tiere – ein Symbol für das sich dem Ende zuneigende Fest des Sommers …

    Ein auffälliges Paar mit Kleinkind: Der junge Familienvater, ein bärtiger, schüchtern wirkender Schmächtling mit Brille, Käppi und Zizit, fügt sich den Kommandos einer Frau im Kopftuch, die ich erst für eine Pilgerin gehalten hatte. Sie ist herrisch und hat eine dezidierte Vorstellung davon, was aus dem Handgepäck rausund was drinbleiben soll; hinten auf dem Käppi des Mannes eine Känguru-Silhouette; der bezaubernde kleine Junge heißt Motja; mit dem spricht die Mutter nicht weniger herrisch und in demselben Vokabular wie mit ihrem Mann.

    Vor dem Fenster kriecht eine Boeing 787 Dreamliner vorbei, bemalt mit Chochloma-Mustern in hellblauen anstatt der traditionellen schwarz-goldenen Töne. Plötzlich wird mir bewusst, dass die Eltern des kleinen Motja eine sehr spezielle Art haben, miteinander zu reden: Ihre Sprache ist die der Schrift und keine mündliche. Das nervt – wie alles, was bemüht wirkt. Das gesprochene Russisch lässt genügend Raum für Intellekt wie für Noblesse, was beides seit jeher das Unterpfand für eine klare, lebendige Sprache war und nicht für Verkniffenheit. Diese beiden hier drücken sich in geschraubten Wendungen aus, und darin spürt man den kleinbürgerlichen Wunsch, gebildet zu wirken, was der Rede die starre Bandage der Schriftlichkeit anlegt und die Sprache verknöchert. Das kann auch mit den Mühen der Zweisprachigkeit zusammenhängen – wenn das Gesagte zugleich der Übersetzung zugänglich sein will. Das Dolmetschen ist nicht bloß eine Kunst, sondern eine praktische Unmöglichkeit. Nicht umsonst kann man die großen Simultanübersetzer an einer Hand abzählen. Am Ende verlangt Motjas Mutter, dass der Vater den Kinderwagen zusammenklappt, und der schlägt sich dermaßen hilflos mit der Konstruktion herum, dass ich mich in der Hoffnung wiege, er sei doch nicht ihr Mann, sondern der jüngere Bruder.

    6.

    Die Entfernung zum Horizont beträgt in einer Höhe von elftausend Metern dreihundertfünfundsiebzig Kilometer. Unter dem Flügel kriecht die Schwarzmeerküste vorbei, scharf umrissen durch die vielen Lichter entlang der Uferlinie, und dann taucht die Küste Kleinasiens vor uns auf, üppiger und weitläufiger übersät von Licht.

    Nachts aus dem Flugzeugfenster betrachtet, gleichen kleine Ortschaften phosphoreszierenden Spermien unterm Mikroskop: eine einzige beleuchtete Straße und ein Fleck locker hingestreuter leuchtender Fenster – ein Glühwürmchen mit Schwanz. Gut, wenn hinter jedem Fenster ein neues Leben seinen Anfang nimmt.

    7.

    Verwirrenderweise scheint es, als gäbe es am Flughafen von Tel Aviv weniger Juden als im Moskauer Bezirk Marjina Roschtscha. Das Auge ist an Kippas, Käppis, Hüte und Schläfenlocken dermaßen gewöhnt, dass es enttäuscht ist, wenn es sie nach der Landung nicht in ausreichender Menge vorfindet. Und es hängt sich mit Freude an die zerbrechliche Figur eines rothaarigen Jungen in Hut und bodenlangem Gehrock mit äußerst scharf umrissener fragiler Silhouette, schmalem Gesicht, umrahmt von zwei feuerroten, bei jedem Schritt hüpfenden Pejesspiralen, und jähen, abgehackten Armbewegungen, mit denen er zielstrebig durch die Ankunftshalle rudert.

    8.

    Gott wusste, wem er die Gebote übergab. Es wäre sinnlos gewesen, sie einem gewissenlosen Volk zu überlassen. Das Gewissen musste in dieser Gemeinschaft tief verankert sein, um so über Generationen hinweg das Befolgen der Vorschriften zu gewährleisten, die wiederum den Grundstein für Gewissenhaftigkeit legen. Und was ist Depressivität, wenn nicht Ausdruck des Gewissens – zumindest eine seiner Folgen? Darum ist die Psychoanalyse auch eine jüdische Erfindung.

    9.

    Ein alter Bahnhof in der Nähe von Jaffa. Von hier gelangte Agnon 1907 mit dem Zug nach Jerusalem. Kreosotgetränkte hölzerne Eisenbahnschwellen duften in der Sonne: ein Geruch aus der Kindheit; wo sind heute noch solcherart Eisenbahnschwellen aus Holz zu finden? In der Ferne schimmert das Meer, ausgeblichen von der Gluthitze, die Segel der Yachten darauf wie Kommas, ein schwarz-weißer Schiffskoloss im milchigen Dunst; auf dem Bahnhofsvorplatz wächst ein gigantischer Feigenbaum, in seiner Größe und der Pracht seiner Krone einem dreistöckigen Palast ähnlich. Darunter sind die Tischchen eines Restaurants aufgestellt, in der Ferne erklingt schmeichelnd ein orientalisches Saiteninstrument …

    Erstaunlich, wie die Israelis trotz aller ethnischen Vielfalt durch das wunderbare Wachs des Judentums miteinander verbunden sind. Das kann man von Bürgern anderer Staaten nicht unbedingt behaupten. Wo finden sich andere Beispiele eines solch informelltiefgreifenden, vereinigenden Prinzips? Ein Staat funktioniert als strukturgebender Faktor ganz gut, aber das Judentum ist eine sehr viel mächtigere und heißere Quelle für ein Schmelzfeuer – das Feuer, das eine Nation begründet und formt. Das Judentum ließe sich wunderbar in einen alle verbindenden anarchistischen Wesenskern verwandeln, der jene kluge Union aus autonomen Persönlichkeiten ermöglichte, von der Kropotkin und Bakunin träumten. Ist der Aufbau des israelischen Staates nicht deshalb so reich an horizontalen Verbindungen, die es möglich machen, einen beliebten Premierminister ohne Weiteres vor Gericht zu bringen?

    Wie kann man den Israelis vorwerfen, beim Aufbau des Staates würden sie von Nationalismus geleitet, wenn es einen solch schlagenden Gegenbeweis gibt wie die Operation Solomon: 1991 waren binnen 36 Stunden 18 000 Flüchtlinge aus Äthiopien nach Israel evakuiert worden. Meines Erachtens sind es wohl einzig die USA, die heute noch versuchen, eine neue nationale Synthese heranzuzüchten – die Nationalität des »Amerikaners«.

    Joseph Brodsky schrieb: »Und antworte, wenn einer dich fragt: ›wer bist du?‹ / ganz einfach ›ich bin – Niemand‹, wie dem Polyphem einst Odysseus.«²

    Im Leben beantwortete der Dichter diese Frage mit größerer Entschiedenheit: »Ich bin Jude.« Und das nicht nur, weil seine geliebte Marina Zwetajewa der Ansicht war, alle Dichter seien Juden.

    2007 wurde auf dem Jerusalemer Herzlberg ein Denkmal für die viertausend äthiopischen Flüchtlinge errichtet, die auf dem Weg nach Israel umgekommen waren.

    10.

    Die Kinder sind eine Augenweide. Das klingt vielleicht hart, aber in einem Land verrät das äußere Erscheinungsbild der Kinder mehr über Gesellschaft und Eltern als diese selbst. Soziale Benachteiligung und Missstände in der Kinderheilkunde erkennt man mit bloßem Auge.

    Über dem Strand kreist ein Hubschrauber, zwei-, dreimal fegt ein Flugzeug der U-Boot-Abwehr über das Meer hinweg. Ein extravaganter Lockenkopf mit Strohhut, dickem Bauch und buntem Blumensträußchen spaziert kokett am Ufer entlang. »Hallo, ich bin Ihre Tante!«³

    Der amerikanischen Botschaft mit Zugbrücke am Eingang fehlt nur noch der Burggraben.

    Sonne und stilles morgendliches Meer.

    11.

    Und dann freut man sich an den Frauengesichtern: orientalische, scharfe Züge, dichte und schmale hohe Brauen über riesigen Augen. Schönheit vermittelt Sicherheit; daher das wohlige Gefühl auf den Plätzen der Stadt: Auge und Hirn entspannen. In Moskau vermittelt fast jedes Gesicht Gleichgültigkeit oder Furcht.

    Freitagabend. Jabotinsky-Straße in Ramat Gan. Ein Glatzkopf in grünen Shorts und ausgeleiertem Unterhemd gerät im Laufschritt beinah unter die Räder. Der Stoßstange knapp entkommen, stürzt er sich auf den Fahrer, der sich demütig die Vorwürfe seines Beinaheopfers anhört. Ein Junge und sein Vater, in Festtagskleidung auf dem Weg zur Synagoge, mustern den Jogger von oben herab.

    In Kalifornien schrillen die Ampeln, wenn sie auf Grün schalten, und signalisieren damit den Blinden, dass sie nun über die Straße dürfen. In Tel Aviv knattern die Ampeln unentwegt wie gigantische Grillen, nur der Rhythmus wird schneller, wenn sie grün aufleuchten.

    Die Fischrestaurants an der Hafenpromenade verströmen strengen Jodgeruch. Vor einem hantiert ein Jongleur mit sieben Kautschukbällen; die Erwachsenen sind nicht weniger begeistert als ihre Kinder. »Zwölf Jahre hartes Training«, sagt der dürre lockenköpfige Artist, und ich kann mir tatsächlich gut vorstellen, wie schwierig das ist: Als Kind habe ich nach Wladislaw Tretjaks Torwarttrainigs-methoden zur Steigerung des Koordinationsvermögens haufenweise Tennisbälle gegen die Wand geschleudert.

    Am Saum der Brandung fädelt ein Fischer einen riesigen sich windenden Wattwurm auf einen Haken; oben leuchtet phosphoreszierend die Spitze seiner Angelrute.

    Auf der Promenade bewegt ein dicker Mann verstohlen den Joystick eines ferngesteuerten Spielzeugautos, das von selbst zu fahren scheint. Angepasst an das Tempo der Menschenmenge und die entgegenkommenden Hindernisse, gleicht es einem riesigen intelligenten Insekt. Die ganze Promenade ist wie ein Schiffsdeck mit Holzplanken ausgelegt; Kinder auf Inlineskates und Rollern, Hinfallen tut nicht weh. Auf den Gesichtern ihrer Eltern eine nie gesehene Vitalität: Sie sind Herr über ihr Leben – im eigenen Land, in der eigenen Zeit; nicht ein Fünkchen Selbstzufriedenheit, nur vollkommene Entspanntheit.

    Der frische Geruch des Meeres und die Gischt der an den Felsen zerberstenden Wellen. Nachts ist das Meer besonders archaisch. Seit vielen tausend Jahren unterscheidet es sich nicht von dem, das wir heute sehen. Dasselbe sah schon Jonah, ganz in der Nähe, an den Stränden von Jaffa, auf seinem Weg in das Innere des Wals.

    12.

    Weißer Oleander auf dem Mittelstreifen der Chaussee ist Vorbote des weißen Gesteins der Stadt. An den Hängen die Schrägen der Stützmauern. Der Aufstieg verursacht Druck auf den Ohren.

    Über Jahrtausende strebten Generationen nach Jerusalem. Der Traum ist Wirklichkeit geworden.

    Der Friedhof am Hang gleicht einem Bienengarten, wie es sie zuhauf in den Bergen von Armenien gibt; die Steingräber sind die feierlichen Bienenstöcke.

    Das Licht rinnt herab an Jerusalem, der Sabbat geht zu Ende. Über den Hügeln verdichtet sich die Dämmerung. Kinderstimmen sind zu hören. Aus der Synagoge dringt erhabener Gesang.

    Nachts erschrickst du vor zwei dunklen Gestalten unter einem Baum. Zwei junge Männer stehen da und wiegen sich leicht vor und zurück, während sie zum Mond beten, der als dünne Sichel dicht über der Böschung hängt.

    Der Jerusalem-Stein ist ein Mondstein: Im Licht des Mondes wirkt er gespenstisch; dann scheint es, als wäre nichts um dich herum wirklich da.

    13.

    In Agnons Ido und Enam erklingt eine besonders diachrone Darstellung des Heiligen Landes. Im Erzählstrom lagern verschiedene Zeitschichten übereinander, sodass der Eindruck von einer Gleichzeitigkeit vieler Epochen an diesem konkreten Ort entsteht. Das verleiht dem Heiligen Land ein metaphysisches Gefühl von Durchsichtigkeit, um das es später gehen wird. Der Autor und seine Freunde waren lange Zeit gezwungen, in Europa zu leben. Der alte Gelehrte Gerhard, um dessen Haus sich das Alter Ego des Autors kümmert, verlässt das Heilige Land für eine lange Zeit. Agnon selbst verlor zweimal sein ganzes Vermögen. Im Zuge der Pogrome von 1929 wurde sein Haus geplündert. Der Schriftsteller musste nicht verreisen, um die punktierte Zerbrechlichkeit des Seins zu spüren, um sich nicht mit Bindungen zu belasten und stets auf einen Wechsel des Wohnortes vorbereitet zu sein. Er abonnierte nicht einmal Zeitungen, sondern lieh sie sich zum Lesen von einem Nachbarn.

    Indem zwischen meinen Reisen mehrere Jahrzehnte verstrichen waren, wurde mir klar, dass in Israel anzukommen ist, als würde man aus dem Abgrund der Zeitlosigkeit an Bord des Schiffes Zeit steigen und sich umschauen, in dem Versuch, an den Sternen festzumachen, wo genau im Ozean sich in diesem Moment nicht das Schiff, sondern die Epoche selbst befindet.

    Das Gelobte Land war immer, und ist es heute besonders, ein Land der Pilger; die Reisen hierher haben in vielen Kulturen Spuren hinterlassen. Die Juden kamen nicht von hier, sie kamen hierher; im Prinzip ist der Großteil des Tanach ein Reisebericht, der mit den Worten: »Lech Lecha« – »Gehe hinweg!« beginnt und sich der Erforschung von Sehnsucht, Erlangung, Vertreibung und Heimkehr widmet. Agnons großer Roman Gestern, Vorgestern ist einer der bedeutendsten Reiseromane der Weltliteratur, gleich neben Kafkas Amerika und den Abenteuern des Huckleberry Finn.

    14.

    Ich habe mich in einem Bezirk niedergelassen, in dem auf den Straßen mehr Englisch zu hören ist als Hebräisch. Von dem steil aufragenden Hang aus sieht man die Knesset mit der wehenden Flagge obenauf, über die Hügel verstreute weiße Steinhäuser und viel Himmel. Früher waren hier, an diesem Hang, auf dessen oberster Ebene die Ussischkin-Straße verläuft, über viele Jahrzehnte die Kreativen angesiedelt – Schriftsteller, Dichter, Maler. Eine Art Montmartre, bloß gepflegter, ohne verarmte Boheme; noch heute findet man hier und dort ein bescheidenes Café, das von einem Schriftsteller betrieben wird – etwas in Russland schier Undenkbares. Doch die Zeiten haben sich geändert, in den letzten Jahren werden die Häuser in dieser Gegend zunehmend von reichen Amerikanern aufgekauft und saniert, die dann nur über die Herbstfeiertage nach Jerusalem kommen und sie für den Rest des Jahres leer und verschlossen lassen. Es ist der Abend vor Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, und es wimmelt vor fahrradfahrenden Jungs, die auf Englisch darum wetteifern, sich die Handlung des neuesten Teils von Fluch der Karibik zu erzählen.

    Der Kiryat-Wolfson-Komplex – hier wohne ich – grenzt an Rehavia, einen Stadtteil im Bauhausstil, entworfen 1922 von Richard Kauffmann. Dieser Bezirk sieht aus wie eine typische Jerusalemer Vorstadt: Häuser mit Rundbalkonen und schmalen Fenstern, umgeben von Gärten hinter gusseisernen Gitterzäunen. Ursprünglich war Rehavia von deutschen Migranten bewohnt, weswegen es in den 1920er Jahren als »preußische Insel im Meer des Orients« bezeichnet wurde. Hier lebten viele führende Köpfe des jüdischen Jischuw (Arthur Ruppin, Dov Yosef, Menachem Ussischkin, Golda Meir) und, für mich der

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