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Ich bin eine Hutterin: Die faszinierende Geschichte meiner Herkunft
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Ich bin eine Hutterin: Die faszinierende Geschichte meiner Herkunft

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Von der Außenwelt abgeschottet, ähneln die "Bruderhöfe" der Hutterer den Amischen. Sie teilen den Glauben, den alten deutschen Dialekt und ihr Hab und Gut. Eine Traum-Kindheit für Ann-Marie: kindliche Abenteuer in der kanadischen Wildnis, Romanzen und Raufereien. Doch über Nacht verlassen ihre Eltern die Gemeinschaft. Für die zehnjährige Ann-Marie bricht eine Welt zusammen. Erst als Erwachsene wagt sie sich wieder auf die aufregende Reise in ihre eigene Vergangenheit.
LanguageDeutsch
PublisherSCM Hänssler
Release dateDec 20, 2016
ISBN9783775173742
Ich bin eine Hutterin: Die faszinierende Geschichte meiner Herkunft
Author

Mary-Ann Kirkby

eigentlich Ann-Marie Kirkby, verbrachte ihre Kindheit in der Hutterer-Kolonie Fairholme, Kanada. Später arbeitete sie als Journalistin und TV-Reporterin. Sie gewann zweimal den Can-Pro-Award des kanadischen Fernsehens, einmal für ihre politischen Reportagen und einmal für ihre Arbeit als Kindermoderatorin. Sie lebt mit ihrem Mann und Kind in Prince Albert, Saskatchewan, in Kanada. In ihrem Biografie "Ich bin eine Hutterin" berichtet sie von ihrer Kindheit in der Kolonie und dem Zusammenbruch ihrer Welt, als die Familie die Hutterer über Nacht verlässt.

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    Book preview

    Ich bin eine Hutterin - Mary-Ann Kirkby

    Vorwort

    Mary-Anne Kirkby traf ich zum ersten Mal im Jahr 1999, als sie auf einer Tagung mit dem Thema Frauen unter sich sprach, bei deren Organisation ich mitwirkte. Wie gebannt hingen wir an ihren Lippen, als sie das Leben in einer hutterischen Kolonie beschrieb und mit gemischten Gefühlen davon berichtete, wie sie die Kolonie verließ und versuchte, sich in eine neue Kultur zu integrieren. Besonders packend war die Erzählperspektive ihrer Geschichte: die Stimme einer lebhaften, fröhlichen, aber bisweilen verwirrten und eingeschüchterten Zehnjährigen, die sich nach Angenommensein sehnte. »Für Außenstehende waren wir Hutterer und deshalb anders«, erklärte sie. Auch als Journalistin hielt sie ihre Vergangenheit geheim. Sie sprach höchst ungern über ihr kulturelles Erbe, als befürchte sie das Aufbrechen alter Verletzungen, die ihr durch Vorurteile und Misstrauen zugefügt wurden.

    Die Tagungsteilnehmerinnen waren von ihrer Geschichte so bewegt, dass sie sie ermutigten, mehr zu schreiben.

    Und das tat sie dann auch.

    Sieben Jahre lang arbeitete sie an dem Manuskript. Doch wie bei einer archäologischen Ausgrabung bestand kein Grund zur Eile. Im Lauf der Zeit kamen immer neue Bruchstücke zutage und bald erkannten wir, dass die Geschichte, die wir ans Licht brachten, in mehreren Schichten tief unter der Oberfläche verborgen lag. Oft, wenn wir nicht mehr weiterwussten, kam unerwartet jemand mit einem Foto oder einem Brief, der in einer untersten Schublade gelegen hatte, oder erzählte eine Erinnerung aus längst vergangenen Zeiten.

    Gelegentlich nahm Mary-Ann mich in eine hutterische Kolonie mit. Hutterer hatte ich öfter schon beim Einkaufen in großen Kaufhäusern, im Eingangsbereich von Krankenhäusern oder auf den Bauernmärkten gesehen, wo sie frisches Obst und Gemüse verkauften. Wegen ihres bescheidenen Auftretens und ihrer altmodischen Kleidung dachte ich, sie seien schüchtern und zurückhaltend, doch bald erkannte ich, dass ihr Leben in ihrer Kolonie genauso bunt und komplex war wie das Leben »draußen«. In der großen Gemeinschaftsküche der Kolonie Fairholme beneidete ich die Oberköchin um ihre gut gefüllte Speisekammer und die Profi-Haushaltsgeräte, konnte jedoch mitfühlen, wenn sie über die Schwierigkeit klagte, einen abwechslungsreichen Speiseplan aufzustellen und sich fragte, welches Rezept für Dattelkuchen wohl am besten schmeckt. Manchmal planten wir unsere Besuche so, dass wir in New Rosedale nachmittags am Lunschen teilnehmen konnten, und während wir warteten, bis der Teekessel kochte, verschlangen wir einen Teller voll frisch gebackener Brötchen und diskutierten über Kindererziehung und Politik. Jedes Mal, wenn ich weise alte Menschen kennenlernte, die auf ein erfülltes Leben zurückblicken konnten, oder die Kunstwerke junger Menschen betrachtete oder ihre wundervollen Gesänge hörte, begann ich zu verstehen, warum Mary-Ann die Entscheidung, ihre Geschichte mitzuteilen, so schwerfiel: Ihre Erzählung würde nicht nur ihre Vergangenheit aufdecken, sondern auch einen einzigartigen Einblick in die Herzen und Gedanken der Hutterer geben.

    Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fiel Mary-Ann wirklich nicht immer leicht, doch sie half ihr, besser zu verstehen, wer sie heute ist. Ihre unsagbar ergreifende Schilderung ist Balsam für die Seelen aller, die Spott und Ablehnung erfahren haben, denn sie unterstreicht, dass nicht unsere Kleidung, nicht unsere Lieder und nicht die Menschen in unserem Umfeld bestimmen, wer wir sind, sondern etwas tief in unserem Herzen.

    Anfangs meinte ich, die Arbeit wäre mit Beendigung des Buches abgeschlossen, doch jetzt weiß ich, dass die wirkliche Chance für Veränderung in der Zukunft liegt. Als Jakob Hutter die hutterische Kirche gründete, gehörte zu seiner Vision eine Welt ohne Gewalt, in der alles geteilt wird. Ich hoffe, dieses Buch erinnert uns daran, dass wir alle zur Menschheitsfamilie gehören und dass wahrer Friede ohne Furcht und Verurteilungen, aber mit Liebe, gegenseitiger Annahme und Mitgefühl erreicht werden kann.

    A.G.

    Arvel Gray wohnt in Winnipeg und ist Autorin und Rundfunksprecherin sowie Geschäftsführerin von »Waking the World«, einem Projekt, das Frauen weltweit zusammenbringt und eine Stimme verleiht.

    Eine kurze Geschichte der Hutterer

    Alle Gläubigen kamen regelmäßig zusammen und teilten alles miteinander, was sie besaßen. Sie verkauften ihren Besitz und teilten den Erlös mit allen, die bedürftig waren.

    Apostelgeschichte 2,44-45

    Der hutterische Glaube nahm seinen Anfang im sechzehnten Jahrhundert, als Jakob Hutter, ein österreichischer Hutmacher, eine kleine Gruppe von Wiedertäufern zu einer neuen Art christlicher Gemeinschaft zusammenführte. Auf einem staubigen Pfad in Mähren legten im Jahr 1528 eine Handvoll Flüchtlinge aus Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz eine einfache Decke auf den Boden, auf die sie alle ihren Besitz legten, sogar das, was sie in den Taschen hatten. Das war der Beginn unserer Geschichte.

    Nach dem Vorbild der Urgemeinde in Jerusalem lebten sie ihren Glauben so, wie es im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte in den Versen 44 und 45 beschrieben ist: »Alle Gläubigen kamen regelmäßig zusammen und teilten alles miteinander, was sie besaßen. Sie verkauften ihren Besitz und teilten den Erlös mit allen, die bedürftig waren.« Hutters begeisterte Vision von einer Gesellschaft, in der aller Besitz geteilt wird und die Menschen zum Wohl aller zusammenarbeiten, führte zur Gründung der hutterischen Kirche und der hutterischen Lebensweise. Doch seine Lehre von einem Leben in Gemeinschaft, der Erwachsenentaufe und des Pazifismus rief den Hass und die Intoleranz des Staates und der vorherrschenden Religionen hervor, und die Hutterer mussten fast vierhundert Jahre lang in Europa von einem Land zum anderen fliehen.

    1536 wurde Hutter in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er sich weigerte, seinem Glauben abzuschwören. Er teilte somit das Schicksal vieler unserer Vorväter. Doch einige überlebten und fanden 1770 Zuflucht in der Ukraine, bis ihre Befreiung von der Wehrpflicht widerrufen wurde und sie beschlossen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

    Am 5. Juli 1874 kamen die Hutterer an Bord der Hammonia aus Russland in New York an. Gebeutelt, aber nicht geschlagen waren sie fest entschlossen, ihre Mittel zusammenzulegen und von Neuem zu beginnen. Mein Urgroßvater Jakob Maendel gehörte zu ihnen. Die erste hutterische Kolonie auf nordamerikanischem Boden wurde 1874 am Ufer des Missouri in der Nähe von Yankton in South Dakota gegründet. Für alle Hutterer hat sie heute noch eine besondere geschichtliche Bedeutung und sie ist immer noch in Betrieb.

    Im Verlauf des Ersten Weltkriegs zogen ganze hutterische Gemeinschaften nach Kanada, um der Verfolgung als Kriegsdienstverweigerer zu entgehen. Nach dem Krieg erkannte die amerikanische Regierung ihren Wert als Ackerbauer und Viehzüchter und lud sie zur Rückkehr in die Vereinigten Staaten ein. Ein Drittel von ihnen kam dieser Aufforderung gerne nach, doch der Rest blieb in Kanada und gründete neue Kolonien in ganz Westkanada, einschließlich meiner Heimatkolonien New Rosedale und Fairholme in Manitoba.

    Mit ihrem Bekenntnis zur Gütergemeinschaft unterscheiden sich die Hutterer von den Amish und den Mennoniten und zeichnen sich als bestes und erfolgreichstes Beispiel des Gemeinschaftslebens in der Neuzeit aus. Heute gibt es ungefähr 45 000 Hutterer, die in vierhundert Kolonien im Nordwesten der Vereinigten Staaten und in den kanadischen Prärien leben.

    Einleitung

    Im Juli 2002 sprach mich eine Freundin, die Journalistin war, an und fragte, ob ich nicht für eine Zeitschrift einen Artikel über hutterische Gärten schreiben wollte. In Manitoba gibt es über hundert hutterische Kolonien, aber ich wusste genau, welche ich aufsuchen würde. Es war nicht leicht, der Obergärtnerin der Kolonie Fairholme die Idee schmackhaft zu machen. Judy Maendel war nicht davon überzeugt, dass ihr Garten eine Geschichte wert ist.

    »Du lieber Himmel, in diesem Jahr haben wir nur einen ganz kleinen Garten.« Sie seufzt am Telefon. »Warum versuchst du es nicht in New Rosedale oder James Valley? Deren Gärten sind so groß, dass sie sogar Gemüse verkaufen.« Aber ich will unbedingt nach Fairholme gehen und lasse nicht locker.

    Dicke weiße Wolken, die an die Zeichnung eines Kindes erinnern, stehen am Himmel, der sich über die weite Prärie wölbt, als ich meinen fünfjährigen Sohn Levi ins Auto setze und mich auf die Reise mache. Ich brauche keine Wegbeschreibung. Ich kenne den Weg so gut wie die Stimme meines Sohnes. Die reichen, erdigen Gerüche des Sommers von Manitoba tanzen durch das offene Autofenster, als ich auf der Fernstraße Richtung Westen fahre. Auf beiden Seiten der Autobahn erstrecken sich gelbe Rapsfelder, so weit das Auge reicht.

    »Es war einmal …«, beginnt die Robin-Hood-Kassette, die Levi sich herausgesucht hat.

    Ja. Es war einmal! Erinnerungen strömen auf mich ein und ich höre fast den Klang der Küchenglocke der Kolonie, die die Frauen zur Arbeit ruft. Ein Traktor mit Anhänger wartet ungeduldig neben einem sandigen Weg, der sich zu den Gärten am Ufer des Flusses Assiniboine hinunterschlängelt. Ich sehe, wie meine Mutter und die anderen Frauen auf die Pritsche des Anhängers steigen, jede mit einem Zehnlitereimer aus Edelstahl für die Ernte des Tages. Ihre charakteristische Kleidung drückt Sicherheit, Pflichtbewusstsein und Mutterschaft aus. Jede hat ein Tiechel auf dem Kopf, ein schwarzes Kopftuch mit weißen, erbsengroßen Punkten. Bei den Frauen ist auch Judys Mutter Sara, die Obergärtnerin. Mit geröteten Gesichtern und verfleckten Fingern kehren sie ein paar Stunden später zurück zum Lunschen, dem gemeinsamen Essen am Nachmittag – die Eimer voll roter Erdbeeren für die Kinderschar, die auf sie wartet. In ihren einfachen Küchen schütten sie die Früchte in Schüsseln und richten sie mit frischer Sahne und etwas Zucker an. Ihre ausgeschlafenen, hungrigen Kinder drängen sich um den Tisch und essen, bis sie fast platzen. Bald wird die Glocke wieder ertönen und die Frauen müssen zur Arbeit zurück. Der größte Teil der Erdbeeren wartet im kühlen Keller der großen Gemeinschaftsküche, bis er zu Kuchen und köstlicher Marmelade verarbeitet wird …Von Winnipeg aus ist es noch eine Stunde Fahrt bis zur Kolonie Fairholme. Eine staubige Schotterstraße, die auf beiden Seiten mit majestätischen Eichen gesäumt ist, führt uns ins Herz von Fairholme, wo bunte Blumengärten den schlichten alten Häusern ein festliches Aussehen verleihen.

    Mein Sohn und ich gehen zu Judys Haus. Ihre Schwester Selma, die Oberköchin, wartet auf uns. Bald sind wir von einer Schar neugieriger barfüßiger Kinder umringt. Die Mädchen tragen schwarze Hauben, ihre sonnengebräunten Gesichter strahlen eine natürliche Gesundheit aus. »Du tust mir leid mit deinem Kleid«, begrüßt mich Selma. Ich trage ein eng anliegendes Kleid, das ich vor ein paar Wochen in einem Kaufhaus erstanden hatte. »Es ist zu eng!« Sie zeigt auf ein Haus in der Nähe. »Gehen wir zu Tamara!« Noch unter der Tür ruft Selma: »Mary-Ann braucht etwas zum Anziehen. Sie fühlt sich nicht recht wohl in ihrem Kleid.« Eine junge Frau mit Engelsgesicht erhebt sich von einer Nähmaschine und bietet mir ein Kleidungsstück aus ihrem Schrank an. Es hat ein rosenfarbiges Muster und einen weiten, gerafften Rock. Der Bund ist locker und figurtolerant, der Stoff fühlt sich weich und kühl auf der Haut an. Ein Hauch getrockneter Baumwolle und Sonnenschein entströmt dem offenen Schrank, und ich fühle mich in die Sommer meiner Kindheit zurückversetzt.

    Die Kinder, die uns folgten, finden es lustig, mich in hutterischer Kleidung zu sehen. »Bin ich schön?«, scherze ich in Hutterisch, ihrer Muttersprache, einem 450 Jahre alten deutschen Dialekt aus Kärnten in Österreich. Die Kinder kichern und nicken. Ich zwinkere meinem Sohn zu, der auch kichert.

    Als Judy erscheint, zwängen wir uns alle in mein kleines Auto, um zum Garten zu fahren. »Das Auto ist voller Hutterer«, berichtet Levi vom Rücksitz aus und sorgt damit für allgemeines Gelächter.

    Am Ziel angekommen, ziehen wir unsere Schuhe aus und machen uns zu einem gemächlichen Rundgang auf. »Es ist ein schöner Garten«, gibt Judy zu und geht voran. Unsere kleinen Fremdenführer, mit Levi im Schlepptau, verschwinden bald im Erbsenfeld. Aufgrund des Bewässerungssystems der Gemeinschaft ist der »kleine«, fünf Hektar große Garten üppig grün. Endlose Gemüsereihen sind eingerahmt von bunten Feldblumen und hohem Präriegras. »In diesem Jahr reicht es nur für uns«, erklärt Judy und meint damit die etwa neunzig Gemeinschaftsmitglieder, die mit dem versorgt werden, was in dem Garten wächst.

    Am Spätnachmittag verweile ich in der Gemeinschaftsküche, wo das Abendessen vorbereitet wird. Lachend bewegen sich die Frauen zwischen Herd, Bratpfanne und Töpfen mit kochendem Gemüse. Ich kann mich nur schwer von ihnen trennen. Ich setze Levi auf das Holzkarussell und lasse ihn ein paar Runden drehen. Er hat so wenig Lust wie ich zu gehen. Auf dem Weg zum Auto begegnen wir einer der Bewohnerinnen. »Mary-Ann!«, ruft Thelma und schließt mich in die Arme. »Wie schön du aussiehst, ohne all die Farbe auf dem Gesicht.« Ich lache über ihre Offenheit. Hier muss man keine Gedanken lesen.

    Ich fülle den Rücksitz meines Autos mit einem Strauß Feldblumen und Weidenkätzchen, die meiner Mutter so sehr gefallen, dann fahren wir zu einem kleinen eingezäunten Friedhof am Rand von Fairholme. Die Zeit scheint stillzustehen, als ich meinen Sohn zu einem kleinen Grabstein führe, auf dem steht »Reynold Dornn, 1963–1965, Ruhe in Frieden bei Jesus«.

    »Levi«, beginne ich und suche nach den richtigen Worten. »Ein kleiner Junge ist hier begraben. Sein Name ist Renie, und er ist mein Bruder.« Als wir uns über das kleine Grab beugen, schließt Levi die Augen und beginnt zu beten: »Lieber Jesus, danke, dass du für Mamas Bruder sorgst, auch wenn er unter der Erde liegt. Hilf, dass er wieder aufersteht.« Bei diesen unerwarteten Worten füllen sich meine Augen mit Tränen.

    Vor 33 Jahren, als ich ein argloses kleines zehnjähriges Mädchen war, fassten meine Eltern den schmerzlichen Beschluss, die Kolonie Fairholme mit sieben Kindern und sonst fast nichts zu verlassen. Diese Gemeinschaft war einmal meine Heimat. Hier, auf diesem einfachen Friedhof liegt eine nüchterne Erinnerung an unsere Herkunft; hier haben wir einen kostbaren Teil von uns selbst zurückgelassen.

    Hand in Hand gehen wir zum Auto zurück. Ich bin ganz in Gedanken, als Levi mich aus meinen Träumen reißt: »Mama«, fragt er mit einem gespannten Ausdruck auf seinem kleinen runden Gesicht. »Bist du eine Hutterin?« Die unschuldige Frage meines Sohnes ist für mich der Beginn einer Reise in die innersten Winkel des Herzens, wo die tiefsten Geheimnisse verborgen liegen und die Wahrheit aufbewahrt wird.

    Dieses Buch ist meine Reise, mit der ich mich auf meine Vergangenheit zurückbesann, eine Vergangenheit, die ich jahrelang verborgen hielt, da ich mich nicht tief eingewurzelten Vorurteilen und Spott aussetzen wollte. Heute weiß ich zweifelsfrei, dass unser Menschsein das ist, was wir gemeinsam haben, dass aber unser kulturelles Erbe das besondere Geschenk ist, das jeder bei der Geburt erhält. Solange wir nicht annehmen, wer wir sind und wirklich die Kraft schätzen, die dadurch in unser Leben kommt, können wir unsere wahren Fähigkeiten nicht ausschöpfen. Wie viele gute Geschichten, beginnt meine Geschichte mit meiner Mutter, der unvergleichlichen Mary Maendel.

    Mary-Ann Kirkby

    Kapitel 1

    »Der g'hört mein!«

    »Der gehört mir!«

    »In der relativen Sicherheit von Sana Basels Haus warf Mary zum ersten Mal einen Blick auf Ronald Dornn.«

    Bild

    Mary Maendel, 18 Jahre alt, Kolonie New Rosedale

    Die hutterische Kolonie New Rosedale, Westkanada, November 1952

    Meine Mutter Mary Maendel stand am Sonntagmorgen früh auf und schob sachte das Federbett auf ihrer Seite zurück, um ihre Nichte Sarah, die reglos neben ihr lag, nicht aufzuwecken. Niemand bewegte sich in der Schlafnische nebenan, in der Lena, Katie, Susie und Judie, ihre anderen Nichten, tief und fest schlummerten. Sie holte ihre Kleider von einem Stuhl, zog ihr kurzes weißes Hemd oder Pfaht, ihre Weste oder Mieder, einen knöchellangen gerafften Rock oder Kittel und eine plissierte Schürze, Fittig genannt, an und stieg lautlos die Treppe hinunter.

    Gestern war Reinemachetag in der Kolonie, und die Fußböden und Möbel wurden gründlich abgewaschen und gewischt. Doch in einer Kultur, in der Reinlichkeit und Gottesfurcht als Tugenden verehrt wurden, war Mary fest entschlossen, dass ausgerechnet heute das Haus tiptop zu sein hatte. Ein Stück Specksaften (hausgemachte Seife), das wie ein Stück Butter aussah, schmolz in ihrem Eimer mit heißem Wasser und füllte ihn mit schaumigen Blasen. Auf den Knien schrubbte sie die Böden. Ihre geschickten jungen Hände wischten um die Schlofbänk (Schlafbänke) herum, auf denen Kinder tief und fest schliefen. Die Bewegungen ihres Putzlappens waren so geräuschlos wie ihr Atem, und bald roch das ganze Haus nach feuchtem Holz und Wachs.

    Gegen 8 Uhr war sie mit ihrer Arbeit fertig. Draußen schüttelte der Wind die leblosen Äste der alten Eichen, die den sauberen Halbkreis der Wohnhäuser von den Scheunen und Maschinenhallen der Kolonie trennten.

    Durchs Fenster konnten sie sehen, wie Erwachsene und Kinder in die Gemeinschaftsküche zum Frühstück eilten. Männer mit Bart und schwarzen Jacken und Hosen aus selbst gesponnenem Tuch, Frauen in knöchellangen, gemusterten Röcken und Westen – manche banden noch im Gehen ihr gepunktetes Kopftuch unter dem Kinn fest – schritten zielgerichtet und im Gänsemarsch auf ein großes zentrales Gebäude zu, in dem sie sich dreimal am Tag zu den Mahlzeiten trafen. Junge Mädchen mit Mützen (Hauben) und langen geblümten Kleidern und lebhafte Jungen, die wie Miniaturen ihrer Eltern aussahen, gingen in einer Reihe hinter ihnen her, als würden sie von einer unsichtbaren Leine gezogen. Mary war dieser Anblick so vertraut wie der Sonnenaufgang, doch ein Außenstehender hätte den Eindruck gehabt, dass die Situation und die historischen Kleidungsstücke nach dem Vorbild der Bauern aus dem 16. Jahrhundert in Szene gesetzt waren – so als ob ein Film über eine jahrhundertealte Geschichte gedreht würde.

    Mary, die aus dem Fenster schaute, hätte man für eine Schauspielerin halten können, die auf ihren Einsatz wartete. Doch dies war kein Film. Es war das Leben in der hutterischen Kolonie New Rosedale im südlichen Teil von Manitoba, und die etwa hundert Männer, Frauen und Kinder, die hier wohnten, führten ihr Leben wie ihre europäischen Vorfahren vor fast fünfhundert Jahren.

    »Mein Himmel, eilt's! Lieber Himmel, beeilt euch!«, rief Marys Schwager Paul Hofer und trieb seine Kinderschar, die im ganzen Haus verstreut war, zur Eile an. Seine Frau Sana, die Oberköchin, war schon seit Tagesanbruch auf den Beinen und kochte in der Gemeinschaftsküche auserlesene Rindfleischstücke für das heutige besondere Mittagsmahl und überwachte das Frühstück aus gekochten Eiern, gebuttertem warmem Toastbrot und Schmuggi (ein selbst gemachter Weichkäse, der mit Kümmel bestreut wird).

    Die dreizehn Hofer-Kinder fegten an Mary vorbei, um sich dem Zug anzuschließen. Mary fröstelte, als ein kalter Windstoß durch die offene Tür blies. An einem gewöhnlichen Tag wäre sie mit ihnen gegangen, doch heute war eine Ausnahme. Heute war ihre Hochzeit. Nach der morgendlichen Lehr (Gottesdienst) würde sie ihr feierliches Eheversprechen ablegen, und dadurch würde sie von der Stellung einer Diene, einer jungen Frau, in den Stand eines Weibes, einer Ehefrau, erhoben, was zu einer Erhöhung ihres Wertes und ihrer Arbeitsbelastung in der Gemeinschaft führen würde.

    Die Einundzwanzigjährige stieg die enge Holztreppe zu ihrem Schlafzimmer hoch, dankbar für die sieben Jahre Obdach, die ihre Schwester ihr gewährt hatte, aber froh, endlich den übervollen Haushalt zu verlassen und in ein eigenes Heim zu ziehen.

    Bis zum Alter von dreizehn Jahren hatte Mary in der hutterischen Kolonie Old Rosedale etwa hundert Kilometer nordöstlich gelebt, wo ihr Vater, der geachtete Joseph Maendel, der Leiter der größten und erfolgreichsten Kolonie Manitobas war. An ihn hatten sich viele Kolonien gewandt und um finanzielle Unterstützung gebeten. Der Wohlstand von Old Rosedale wurzelte in seiner Vielseitigkeit und in seiner Betriebsführung.

    Joseph Maendel war ein geschickter Verwalter, der dafür sorgte, dass die Kolonie beneidenswerte Gewinne aus ihren Feldfrüchten und ihrer Tierhaltung erzielte. Im Jahr 1931, einem katastrophalen Dürrejahr für die meisten Farmer, erwirtschaftete Old Rosedale ein fürstliches Einkommen von 60 000 Dollar aus Getreide und anderen Wirtschaftszweigen. Dazu gehörten 900 Schweine, 250 Gänse, mehrere Hundert Rinder und Schafe und eine Imkerei, die jedes Jahr etwa 20 000 Kilo Honig produzierte.

    Seine Frau Katrina war die Obergärtnerin und Köchin für die Kranken, und als sie plötzlich im Alter von 45 Jahren an einer Gallenkolik starb, hinterließ sie ihren Mann und die Kolonie in einem Schockzustand und sechzehn Kinder ohne Mutter, darunter die einjährige Mary.

    Der am Boden zerstörte Joseph Maendel ließ in einem Brief an seine Schwägerin in der Kolonie James Valley seiner Trauer freien Lauf.

    Meine liebe Schwägerin, es war sehr, sehr traurig für uns, so getroffen zu werden. Als unsere dringend benötigte, geliebte Mutter tot vor uns lag, konnten wir sie nur ungläubig anstarren.

    Ihre Schwester Rebecca schrie laut: »Allmächtiger Gott, wie kannst du eine Mutter wie diese aus ihrer Familie reißen!« Doch nichts half. Unsere liebe Mutter war in der Ewigkeit bei Gott. Ich sagte unseren Töchtern und all den Kindern: »Lasst uns fleißig zu Gott beten, damit uns nicht ein weiteres Unglück widerfährt.« Wie traurig wäre es, wenn ich, der Vater, auch nicht mehr bei ihnen sein könnte. Wir hoffen und beten und flehen, dass Gott sich aller Witwen und Witwer und Waisen erbarmt.

    Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau begann Joseph Maendel, an geeignete Frauen und Witwen aus anderen Kolonien zu schreiben, um für seine kleineren Kinder eine Mutter zu finden. Nach ein paar abschlägigen Antworten erklärte sich Rachel Gross, eine Witwe mit sechs Kindern aus der hutterischen Kolonie Maxwell, bereit, ihn zu heiraten, womit die Kinderschar auf 22 stieg. Trotz all ihrer Bemühungen war die sanfte Rachel nicht in der Lage, so viele Kinder angemessen zu versorgen, und Mary wurde der Fürsorge ihrer älteren Schwestern überlassen und klammerte sich an ihren Vater, der ihr die elterliche Liebe und Anleitung gab, nach der sie sich sehnte.

    Zwei Jahre später wurde die zusammengewürfelte Familie von einem weiteren Schlag getroffen, als bei dem fünfzigjährigen Joseph Maendel Darmkrebs festgestellt wurde und er sich einer größeren Operation in Winnipeg unterziehen musste. In den turbulenten Zeiten in Old Rosedale hatte er immer ausgleichend gewirkt, doch jetzt bedrohte seine Krankheit die politische Stabilität, für die er in der Gemeinschaft unermüdlich gewirkt hatte. Als die Krankheit seine Kräfte immer mehr aufzehrte, wurde Marilein, »die kleine Mary«, oft von seinem Bett weggeschickt. An einem warmen Septembernachmittag, als sie unter den Bäumen am Rand der Kolonie spielte, empfand sie plötzlich den Drang, nach Hause zu gehen und fand die Erwachsenen in hellster Aufregung vor. »Wo warst du?«, schrien sie. »Wir haben dich überall gesucht!« Ihr Vater hatte sich von ihr verabschieden wollen, doch sie war zu spät gekommen. Fassungslos barg das kleine Mädchen das Gesicht in den Händen und weinte.

    Im Alter von fünf Jahren war Mary in erster Linie ein Waisenkind. Ihre drei erwachsenen Schwestern heirateten eine nach der anderen, und sie wurde in die Obhut von einem zum anderen geschoben. Es war, als würde sie ihre Mutter immer wieder verlieren. Tagsüber gelang es ihr, ihren Verlust zu vergessen, wenn sie auf den weiten offenen Landflächen der Kolonie herumtoben und spielen konnte oder wenn sie am Spätnachmittag einen Stock nahm und mit den anderen Kindern die Gänse der Gemeinschaft vom Flussufer in die Ställe trieb. Jede der zehn Familien in Old Rosedale hatte sieben Gänse zu versorgen und Mary geleitete die Gänse der Maendels gerne nach Hause, damit sie in den Holznestern, die ihr Vater gebaut hatte, ihre Eier legten. Sie kannte jede mit Namen und wusste genau, welche zu ihrer Familie gehörten.

    Nachts, wenn sie alleine im Bett lag, konnte sie den Schmerz der Einsamkeit in ihrem Herzen nicht unterdrücken. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter und versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, sich an den Geruch ihrer Haut und die Geborgenheit in ihren Armen zu erinnern. Unter ihrer Bettdecke sagte sie in der Dunkelheit immer wieder Muetter (»Mutter«). Doch dann kamen ihr die Tränen und jedes Mal, wenn sie so weinte, erschien Katrina mit einer brennenden Kerze am Fuß ihres Bettes. Jede Nacht kam Katrina so zu ihrer Tochter, doch das Kind bekam solche Angst, dass es nicht

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