Fernnahe Liebe: Niklaus und Dorothea von Flüe
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About this ebook
Dieses Buch lässt Dorothea sprechen. Sie erzählt vom Leben einer großen Bauernfamilie in der Zentralschweiz im 15. Jahrhundert, von 20 glücklichen Ehejahren, von Niklaus' überraschender Lebenswende mit 50 und von ihrem eigenen Werden.
Dabei zeigt sich das Bild zweier kantiger Persönlichkeiten und ihrer Lebenswege, die sich verbunden haben und die trotz Trennung untrennbar geblieben sind. So geht es nicht nur um Mystik und Politik des Heiligen, sondern ebenso um eine Ehe- und Liebesgeschichte, die um Verantwortung, Bindung und Freiheit weiß.
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Book preview
Fernnahe Liebe - Nikolaus Kuster
NAVIGATION
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Inhalt
So fern – so nah
Hinführung
1
Jugendzeit
Blicke über den Sarnersee
2
Ehejahre
Im Haus der Familie
3
Krisenzeit
Schritte in die Lebenswende
4
Aufbruch und Abstieg
Über Liestal in den Ranft
5
Angekommen
Wunderfasten und reiche Nahrung für Besuchende
6
Kraft aus der Tiefe
Politik im Ranft und Besucher im Flüeli
7
Zwei Heilige
Vollendung und Verehrung
8
Impulse ins Heute
Wozu Niklaus und Dorothea moderne
Menschen ermutigen
Chronologie
Literatur
Anmerkungen
Über die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
So fern – so nah
Hinführung
Im Mai 1474 besucht der sächsische Kaufmann Hans von Waltheym den Ranft.1 Sein Tagebuch beschreibt uns anschaulich die Begegnungen mit Bruder Klaus, der seit sieben Jahren in der Melchaaschlucht lebt, und mit dessen Eremitenfreund Ulrich von Memmingen. Der frühere Bürgermeister aus Halle an der Saale reist nicht weiter, ohne Dorothea zu treffen. Er schildert die Ehefrau des Aussteigers – »noch keine 40 Jahre alt« – und lernt auch den kleinen Niklaus kennen, den siebenjährigen jüngsten Sohn des Paares.2 Das Interesse des deutschen Besuchers an Niklaus wie Dorothea, an dem Gottesmann und seiner Angetrauten, dem Einsiedler und seiner bäuerlichen Familie inspiriert dieses Buch, das seine Aufmerksamkeit beiden schenkt.
Seit sechs Jahrhunderten widmen sich Bücher über den Schweizer Nationalheiligen hauptsächlich ihm, Niklaus. Dorothea kommt meist nur am Rande vor. Erst Heinrich Wölflin nennt 1501 ihren Vornamen,3 und ihren Familiennamen Wyss erfahren wir 1529 aus der Chronik des Valerius Anshelm. Seit Hans von Waltheym4 fragen Menschen aller Generationen jedoch auch nach der starken Frau, mit der Niklaus gern »zu Tanze ging« und der er seine zehn Kinder verdankt. Seit Jahrhunderten wird auch Dorothea im Volk verehrt, und Papst Johannes Paul II. betete am 14. Juni 1984 bei seinem Besuch am Grab des Heiligen ebenso zu »seiner heiligmäßigen Frau Dorothee«.5 1995 versuchte der Kapuziner Anselm Keel in einem kleinen Taschenbuch eine Annährung an das »nicht alltägliche Ehepaar«.6 Das wachsende Interesse an der Frau und Mutter der von Flüe stößt darin und bis heute an eine Mauer: Nur wenige Quellen erzählen uns Näheres von Dorothea.7
1982 schrieb Klara Obermüller ein Hörspiel, das Dorothea aus dem Schatten der Geschichte treten lässt. Die Journalistin spricht darin als moderne Single mit der verlassenen Ehefrau, fragt nach ihren Erfahrungen und Gefühlen, ihren Zweifeln und Klarheiten. Das Gespräch unter Frauen trägt den Titel »Ganz nah und weit weg« – ein Motiv, das sich sowohl auf die äußere Lebenssituation wie auch auf die innere Verbundenheit des speziellen Paares bezieht.8 Das im Hörspiel wiederholte Motiv erinnert zugleich an eine Mystikerin, die Niklaus vorausging. Die französische Begine Margarete Porète erfährt Gott selbst als den »Loin-Près« – einen fernnahen Liebhaber.9
Dieses Buch über Dorothea und Niklaus knüpft an beides an: Es lässt Dorothea sprechen und beleuchtet den persönlichen Weg des Bauern, Familienmannes und Eremiten aus der Sicht seiner Frau. Es interessiert sich über die menschlichen Lebenswege der beiden hinaus auch für ihre Gottesgeschichte.
Anders als im Hörspiel geht es nicht um ein Gespräch unter Frauen. Das schreibende Duo vereint zwei unterschiedliche Optiken: eine weibliche und eine männliche, die Sicht eines Bruders, der sich als Franziskaner ebenfalls Niklaus nennt, und die Wahrnehmung einer Frau nahe der Lebensmitte, die mit den Wegen der Liebe vertraut als Single lebt. Glücklich darüber, in diesem Buch weit mehr Raum zu haben als den eines Hörspiels, lassen wir Dorothea zwei Lebenswege nachzeichnen, den eigenen und den ihres Gatten.
Ihr Erzählen lässt die damalige Zeit lebendig werden: Obwalden im 15. Jahrhundert, das Leben einer Bauernfamilie auf dem Sachslerberg, Niklaus’ prägende Jugenderfahrungen und Karriere in seinem Tal, 20 glückliche Ehejahre, Dorotheas Sorge für die Großfamilie und Niklaus’ überraschende Lebenswende mit 50. Die Ehe der beiden blieb bestehen, auch wenn der Familienvater fortan im Ranft lebte und seine Frau mit den Kindern keine zehn Minuten entfernt wohnte. Dorothea erlebte und trug Niklaus’ neue Erfahrungen in »Mystik und Politik« mit10 – fernnah. Sie überlebte sowohl ihren Mann wie den jüngsten Sohn Niklaus als eine eindrückliche Frau, über welche die Verehrungsgeschichte mehr aussagt als die Quellen zu ihrem eigenen Leben.
Die literarische Freiheit, die sich in Dorotheas Erzählen zeigt, verbindet sich mit der Gewissenhaftigkeit, die bekannten Fakten und unser heutiges Wissen über Land und Leute Obwaldens im 15. Jahrhundert zu einem sensiblen und plausiblen Gesamtbild zu vereinen.11
Damit unser Nachzeichnen der Geschichte überprüfbar ist, weisen wir die verwendeten Quellen und die maßgebende Literatur in den Endnoten aus.
Das Buch skizziert das Bild zweier Personen und ihrer Lebenswege, die sich verbunden haben und die untrennbar geblieben sind. Niklaus wäre ohne Dorothea nicht zum Friedenstifter und weisen Ratgeber geworden, als der er weit über die Schweiz hinaus verehrt wird. Dorothea wurde durch ihn nicht nur Mutter von zehn Kindern, sondern auch eine Frau, deren bewegte Paarbeziehung und durchbrochene Lebensgeschichte aus dem späten Mittelalter in Biographien und Partnerschaftswege von heute spricht. Nicht nur Mystik und Politik des Heiligen sind daher von Interesse, sondern ebenso eine Ehe- und Liebesgeschichte, die von Verantwortung, Bindung und Freiheiten spricht. Niklaus und Dorothea gaben Gott in ihrer Paarbeziehung besonderen Raum und erfüllten dann auf spezielle Weise, was Papst Franziskus in »Amoris laetitia« schreibt: Das größte Werk der Liebe sei, dem und der anderen zu helfen, das Beste in seiner und ihrer Person zu entfalten.12
Wir widmen dieses Buch,
das einer bewegenden Familiengeschichte gilt,
unseren eigenen Familien:
unseren Eltern,
die uns sorgsam auf ein beherztes Leben
in dieser Welt vorbereitet haben,
unseren Geschwistern,
mit denen wir zu teilen lernten
und die uns fern-nah verbunden bleiben,
allen Freundinnen und Freunden,
mit denen wir vertraut geworden sind,
und all unseren Gefährten und Gefährtinnen,
die gemeinsame Wege mitgehen.
Flüeli-Ranft, 25. September 2016
am Fest des Niklaus – und der Dorothea
Br. Niklaus Kuster
Nadia Rudolf von Rohr
1
Jugendzeit
Blicke über den Sarnersee
Dorothea schaut mit modernen Menschen von der Schwendi hinüber zum Sachslerberg und überblickt das ganze Tal der Sarner Aa. Die überschaubare Welt ihrer eigenen Kindheit und der Jugend ihres künftigen Mannes ist Obwalden zwischen den markanten Felswänden des Pilatus und dem sanften Brünigpass.
Es ist lieblich und überschaubar, das Tal, in dem Niklaus und ich auf die Welt gekommen sind. Die Sarner Aa durchfließt es von der Brünighöhe bis zum Alpnachersee. Der Pilatusberg, der zu unserer Zeit noch Fräkmünt oder »gespaltener Berg« hieß, schützt es gegen Norden. Als Bäuerin hörte ich erstmals die Sage, der Statthalter Pilatus habe in seinem französischen Exil nach dem Tod keine Ruhe gefunden und seine gehetzte Seele wohne nun in einem kleinen See hoch oben auf der Luzerner Seite des Berges. Damit erklärte sich die Stadt denn auch Überschwemmungen, wenn bei heftigen Unwettern der Krienbach über die Ufer trat: eine Mahnung des unglücklichen Richters über Jesus, inständiger für ihn zu beten. 1 Auf dem Wasserweg reisten unsere Leute in die Stadt Luzern für alles, was auf unseren dörflichen Märkten nicht käuflich war. Das Korn für unser Brot kam aus dem Aargau und fand über die Leuchtenstadt in unsere Haushalte. 2 Über den alten Passweg des Brünig gelangten wir südwärts nach Meiringen und gegen Bern oder über die Grimsel und den Nufenen nach Norditalien. Dorthin trieben unsere jungen Männer das Vieh, das wir in der Lombardei verkaufen konnten. Wenn der Schnee im Frühsommer weg war, stiegen unsere Herden auf die Alpweiden, die sich auf den sonnigen Höhen der Seitentäler ausbreiteten: des Tals der Großen Schliere im Westen sowie des Kleinen und des Großen Melchtals, das sich hinter dem Flüeli bis zu den Ausläufern des ewig weißen Titlis erstreckt. 3
Du, Niklaus, bist auf der rechten Seite unseres Tales aufgewachsen. Ich auf der linken, der sonnigen Seite. Meine Familie wohnte auf der lieblichen Terrasse der Schwendi über dem Sarnersee. Deine Wiege stand auf der Schattenseite des Tales. Ob das auch unsere Seelen geprägt hat? Schon als Junge hattest du den Ruf, ernsthaft und nachdenklich zu sein, manchmal auch etwas schwermütig. Dein pflichtbewusstes Wesen hat früh Anteil genommen an dem, was die Welt bewegt. Dunkles legte schnell seine Schatten auf dein Gemüt. Unrecht konntest du nur schwer ertragen. Ich bin da heiterer und freue mich an allem Schönen und Geglückten.
Vielleicht war das auch ein Privileg von uns Frauen. Unsere Aufgaben bezogen sich auf Haus und Garten, die Kinder und die Familie. Verantwortungsvolle Pflichten, jedoch in naher Verbundenheit mit der Schöpfung. Und die Frucht von unserer Hände Arbeit ließ sich unmittelbar sehen und genießen. Politisches hingegen war den Männern vorbehalten. Mein Vater Ruedi Wyss war Ratsherr, wie du es später auch geworden bist.4 Auch wenn er zu Hause nicht viel aus dem Rat berichtete, so war doch spürbar, dass dieses Amt manches Mal schwer wog. Auch dich hat Politisches früh schon bekümmert. Und dein tiefer Glaube zusammen mit deinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat dich als verantwortungsbewussten jungen Mann schwer gefordert.
Du hast dir immer viel abverlangt. Deine Jugendfreunde Erni Anderhalden und Erni Rohrer erzählten mir öfter, wie du schon damals immer wieder die Stille suchtest und dich zurückgezogen hast. Du brauchtest das regelmäßige Gebet und die Rückbesinnung auf deinen Schöpfer mehr als ausgelassenes Spiel mit deinen Freunden und Entspannung nach getaner Arbeit. Deine Freunde registrierten befremdet und fasziniert zugleich, dass du schon als kleiner Junge angefangen hast, am Freitag zu fasten und nichts weiter zu essen als ein wenig Brot und ein paar gedörrte Birnen.5 Davon hast du kein Aufhebens gemacht, wie grundsätzlich nie von etwas, das dich betraf. Ein weiterer Wesenszug von dir, der mir sehr lieb ist. Ein stiller Mensch bist du, Niklaus, der die Dinge gern in Ruhe und Abgeschiedenheit in seinem Herzen bewegt. Da kommt dir die Natur in unserem Tal entgegen! 6
Unterwalden ob dem Wald. Stich von Matthäus Merian
Topographia Helvetiæ, Rhætiæ et Valesiæ, 1642
Reprographie © Kapuzinerbibliothek Wesemlin Luzern
Fast die Hälfte von Obwalden ist von Wald bedeckt. Damals war es noch mehr. Wir hießen denn auch »Waldleute« in der Eidgenossenschaft. Noch heute teilt der ausgedehnte Kernwald Unterwalden in die beiden Teile »nid dem Wald« und »ob dem Wald«. Wir lebten in zwei eng verbundenen, doch politisch eigenständigen Talschaften mit je eigener Landsgemeinde. Diese versammelte jeden Frühling die wehrfähigen Männer, um in einer offenen Auseinandersetzung alle wichtigen Fragen zu besprechen und demokratisch zu entscheiden. Die Landsgemeinde wählte jeweils Anfang Mai auch den Landammann, der dem regierenden Rat vorstand und die Freiheit unseres Volkes zu verteidigen hatte. Selten noch gab es gemeinsame Landsgemeinden von ganz Unterwalden. Die letzte trat 1484 zusammen. 7
Als ich eben erst zur Welt gekommen war, hast du bereits mitgestimmt an der Landsgemeinde. Während ich noch an Mutters Brust hing und meine Lebenswelt erst zu entdecken begann, warst du mit deinen 15 Jahren schon ein junger Erwachsener und voll stimmberechtigt. Deine Meinung in dieser Form öffentlich kundgetan hast du erstmals 1432, als du deinen Vater an die gemeinsame Landsgemeinde von ganz Unterwalden zur Wisserlen bei Kerns begleitet hast.8 Du hast die politischen Geschicke der Gemeinschaft von da an mitbestimmt und aktiv Anteil genommen an der Gestaltung des Miteinanders. Du sahst es als gegeben an, dass du deine gemeinschaftlichen Pflichten wahrnimmst, obwohl es dir stets zuwider war, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Du hast dich engagiert für das Dorfleben, und das friedliche Miteinander war dir immer ein Herzensanliegen. Schnell hast du dich bei Konflikten unter Bauern und bei Spannungen in der Gemeinde verdient gemacht als besonnener, verständiger und umsichtiger Mann. Kein Wunder, dass dir später auch politische Aufgaben und Ämter anvertraut wurden. Dein Streben galt dabei stets dem Frieden als höchstes Gut, das es zu wahren gilt – wenn nötig auch mit Waffengewalt.
In unserer Lebenszeit wurde Obwalden nie von äußeren Gegnern angegriffen. Niklaus zog als junger Mann allerdings wiederholt los, wenn unsere Bundesgenossen draußen im Mittelland zu den Waffen greifen mussten.
Wir wussten damals nicht, wer die ersten Siedler in unserem Tal waren. An unseren Herdfeuern erzählten die Alten noch viele Sagen über die Frühzeit. Wie sehr liebte ich die Geschichte des Beatus: Er sei zur Zeit der Apostel durch Barnabas, der zuvor Begleiter des heiligen Paulus und dann Missionar war, im fernen England für Christus gewonnen worden. Nach Rom gereist, habe er da Petrus kennengelernt und sei von ihm über die Alpen gesandt worden. Er bekehrte unsere Vorfahren an der Aare und beendete sein Leben wie die heilige Magdalena als Einsiedler.
Auch meine Familie pilgerte in einem Jahr, als eine Viehkrankheit in unserem Tal wütete, über den Brünigpass zur Höhle des Drachentöters. Sie findet sich bei Interlaken am Thunersee: Dort habe ein furchtbarer Lindwurm gehaust, der vom furchtlosen Missionar gebannt und in den Thunersee getrieben worden sei. Beatus sei als Einsiedler in die Drachenhöhle eingezogen und habe dort Menschen und Tiere von Krankheiten geheilt, bis er mit 100 Jahren starb. Ich erinnere mich an das leise Schaudern, das uns alle in der Höhle hinter der Klause befiel.9 Heute wissen wir, dass der christliche Glaube erst später zu den Kelten kam, die unser Land damals besiedelten. Doch immer wieder folgten Männer in der ganzen Eidgenossenschaft dem Beispiel des Heiligen und wurden selbst Einsiedler. Niklaus wird einer von ihnen werden, wenn auch ein ganz besonderer.
Ich war schon in jungen Jahren an der Geschichte unseres Landes interessiert. Gingen wir nach Sarnen in die Kirche, schaute ich fasziniert zur Burg Landenberg. Wer sie wohl lange vor der Bundesgründung der Eidgenossen gebaut haben mochte?10 Heute ermöglichen alte Funde im