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Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3: Historischer Mystery-Roman
Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3: Historischer Mystery-Roman
Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3: Historischer Mystery-Roman
Ebook392 pages5 hours

Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3: Historischer Mystery-Roman

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About this ebook

Lisa kommt 1807 im von Franzosen besetzten Gelnhausen an und trifft auf ihre große Liebe Jonas Faust. Doch dunkle Geheimnisse im Hexenturm, von den Gelnhäusern 'Fratzenstein' genannt, und eine mysteriöse Mordserie zehren an einer harmonischen Zweisamkeit der beiden. Zudem wird Lisas plötzliches Erscheinen in der Stadt kritisch beäugt und schon bald wird sie als Hexe bezichtigt. Auch der undurchsichtige Georg Helmstetter, den Lisa als den berüchtigten Räuber Raben-Stephan kennt, ist nicht der, der er zu sein scheint. Und dann erscheint Lisa auch noch eine unheimliche Frau, die ein schwierig zu lösendes Rätsel umgibt. Ein Rätsel, das Lisas Leben für immer verändern wird ...

"Fratzenstein" ist der dritte Teil und damit der Abschlussband der historischen Kinzigtal-Trilogie von Tanja Bruske nach Band 1 "Leuchte" und Band 2 "Tod am Teufelsloch".
LanguageDeutsch
Release dateAug 22, 2017
ISBN9783946413554
Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3: Historischer Mystery-Roman

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    Fratzenstein - Kinzigtal Trilogie Band 3 - Tanja Bruske

    Gelnhausen

    1 Reichsstadt

    Die Sonne war gerade erst über den Horizont gestiegen, doch sie brannte bereits heiß auf die Dächer herab. Ein Gewirr aus deutschen und französischen Vokabeln hallte zwischen den Häusern, Karren verschiedener Größe rumpelten über die lehmigen Straßen, durch die der Geruch von menschlichen Ausdünstungen und tierischen Hinterlassenschaften wehte.

    Es war der 13. August, als Lisa das obere Holztor der ehemaligen Reichsstadt Gelnhausen durchschritt und sich inmitten dieses Getümmels wiederfand. Der 13. August 1807, um genau zu sein. Das hatte sie gerade von einem Waldarbeiter erfahren, dem sie vor der Stadt begegnet war. Dabei hatte sie schon zuvor geahnt, dass etwas nicht normal war: Rund um das Stadttor, das den Weg nach Büdingen markierte, wimmelte es von Soldaten in französischen Uniformen. Das hätte es eigentlich nicht in dieser Zahl und mit dieser Selbstverständlichkeit geben dürfen – zumindest nicht in dem Jahr, in dem sich Lisa noch wenige Stunden zuvor befunden hatte. 1791 waren noch keine Franzosen im Kinzigtal an der Tagesordnung. Selbst, wenn Lisa an den Worten des Waldarbeiters gezweifelt hätte – und warum hätte er sie anlügen sollen? – dieses Bild hätte sie endgültig überzeugt.

    Was nicht hieß, dass sie nicht trotzdem an ihrem Verstand zweifelte.

    Eigentlich sollte ich doch langsam daran gewöhnt sein, dachte Lisa resigniert und wich einem Ochsenkarren aus, der fast die gesamte Straßenbreite benötigte. Er war voll mit braunen Säcken beladen. Auf dem Bock saß ein ordentlich gekleideter Bürger, der vielleicht im benachbarten Büdingen Handel treiben wollte – auch wenn die Stadt und ihre Einwohner in keinem guten Ruf standen.

    Aber kann man sich an so etwas überhaupt gewöhnen?, führte sie den Gedanken fort, indem sie über einen dampfenden Fladen stieg, den einer der Ochsen auf der gepflasterten Straße zurückgelassen hatte. Drei Mal war sie bereits zuvor auf ihr unbekannten Pfaden durch die Zeit gereist, hatte über 200 Jahre überbrückt. Beim ersten Mal war sie im Jahr 1792 aufgetaucht, war Zeuge von Mord, Verrat und einer Hinrichtung geworden, hatte sich verliebt – nein, an Doktor Jonas Faust wollte sie nun gerade nicht denken. Beim zweiten Mal hatte sie, wieder unfreiwillig, die Heimreise in ihre Zeit angetreten. Beim dritten Mal, 16 Jahre später, hatte es sie erneut in die Vergangenheit verschlagen – ins Jahr 1791.

    Lisa hatte sich schon einige Male gefragt, ob ein kosmischer Kobold dahinter steckte. Es musste wohl so sein. Warum sonst sollte sie ein Jahr vor ihrem ersten Besuch herauskommen? Zu einem Zeitpunkt, an dem Faust sie nicht nur nicht kannte, sondern zudem in eine andere Frau verliebt war – jene Frau, die zu Lisas Freundin wurde, und deren Tod sie am Ende nicht hatte verhindern können.

    Lisa schüttelte die Gedanken an die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht ab.

    Nein, es ist ja gar nicht in der vergangenen Nacht geschehen, dachte sie mit einem Anflug von Hysterie. Es war am 27. Juni 1791 gewesen. Vor 16 Jahren also. Offensichtlich hatte sie es noch einmal geschafft und dieses Mal nicht nur Zeit, sondern auch Raum überwunden – wie sonst war sie vom Teufelsloch bei Steinau in einen alten Steinbruch bei Gelnhausen geraten?

    „Passt doch auf!", keifte eine krächzende Stimme.

    Erschrocken erkannte Lisa, dass sie, in Gedanken versunken, beinahe eine alte Frau umgerannt hätte, die ihr mit einem Weidenkorb auf dem Rücken entgegen kam.

    „Ich bitte um Entschuldigung", sagte sie verstört. Die Frau war bucklig, dreckig und sie stank, doch sie maß Lisa mit Blicken, die eigentlich für einen Floh-bewohnten Straßenköter reserviert sein sollten. Lisa sah an sich herunter und wurde rot. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sie nach den Abenteuern der Nacht aussah: Ihr Rock war verdreckt und zerrissen, das Jäckchen ebenso, und die Chemise darunter war längst mehr grau als weiß. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, denn ihre Haube hatte sie irgendwann verloren – war es im Teufelsloch gewesen oder auf der Flucht vor dem verrückten Fritz? Sie wusste es nicht mehr. Ihre Arme waren dreckverschmiert, und sie nahm an, dass ihr Gesicht ebenso aussehen musste. Alles in allem bot sie mit Sicherheit einen erbärmlichen Anblick. Jetzt, wo sie sich dessen bewusst wurde, bemerkte sie auch die teils angewiderten, teils mitleidigen Blicke der anderen Passanten.

    Eine Welle der Scham überspülte Lisa. Kein Wunder, dass alle sie für eine Bettlerin hielten.

    Eigentlich bin ich ja eine, ging ihr auf. Sie besaß nichts als das, was sie am Leib trug. Wie sollte sie in dieser fremden Stadt, in dieser fremden Zeit, überleben?

    Andererseits war sie bereits zwei Mal in ähnlichen Situationen gewesen: Beim letzten Mal war es nur Ruth und ihrer Familie zu verdanken gewesen, dass sie so schnell Fuß gefasst hatte. Und beim ersten Mal war sie… nun ja, sozusagen Faust ins Haus gefallen und dann einfach dort geblieben.

    Dieses Mal war ihre Lage anders: Sie war allein. Sie war allerdings auch keine 20 mehr, sondern 35 Jahre und studierte Historikerin. Lisa straffte sich bei diesem Gedanken. Sie würde hier zurechtkommen. Wenn sie diese Straße weiterging, erreichte sie den Obermarkt, und in unmittelbarer Nähe lag der Untermarkt – dort würde sie sich nach einer Anstellung umsehen. Erfahrung hatte sie mittlerweile genug – vor allem durch die vergangenen Monate, dachte sie und nahm ihren Weg wieder auf. Als Magd im Steinauer Amtshaus war sie in der Küche und in den Ställen eingesetzt worden, auch wenn ihre vorrangige Aufgabe bei den Kindern lag.

    Als sie an die Grimm-Kinder dachte, wurde Lisa das Herz schwer.

    Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich richtig zu verabschieden, dachte sie traurig. Natürlich wusste sie, dass es ihnen gut ging: Jakob und Wilhelm standen jetzt am Beginn einer großen wissenschaftlichen Karriere, der kleine Ludwig, den sie noch am Vortag auf dem Arm durch das Amtshaus getragen hatte, würde seinen erfolgreichen Weg als Maler machen. Auch Carl Friedrich und Ferdinand Philipp würden ihren Weg gehen. Unwillkürlich dachte Lisa auch an das Neugeborene, das, ihrer Erinnerung nach, kaum ein Jahr alt geworden war. Aber Dorothea Grimm hatte später noch ein kleines Mädchen bekommen. Vielleicht tröstete sie die kleine Charlotte über den Verlust ihres Mannes hinweg – denn der Amtmann, der stets gut zu Lisa gewesen war, war mittlerweile auch gestorben.

    Zumindest, wenn Lisa den Lauf der Geschichte nicht verändert hatte und alles so geblieben war, wie es in den Geschichtsbüchern stand. Was, wie sie sich selbst eingestehen musste, doch etwas zweifelhaft war, angesichts der vielen Abenteuer, durch die sie gestolpert war.

    Gerade, als sie das Ende der Straße erreichte, die auf den oberen Markt mündete, fiel ihr etwas ein. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr wurde kalt. Und was ist mit dem Raben-Stephan geschehen? Der geheimnisvolle Räuber, der sie bedroht, entführt, gerettet und geküsst hatte – war er doch noch erwischt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden? Georg – sein wirklicher Name war Georg, erinnerte sich Lisa. Das Geheimnis seines Namens war das Letzte, was der Räuber ihr verraten hatte.

    Versunken in die Erinnerung an die verwirrende Wirkung, die der Räuber auf sie gehabt hatte, betrat Lisa den Markt. Er ist wahrscheinlich tot, rief sie sich in Erinnerung. Faust hingegen – ja, was war mit Faust? War er vor 14 Jahren im Wald von Marköbel ebenfalls gestorben? Und wenn nicht, wo war er heute? Immer noch in Marköbel? Das Dorf lag nicht weit weg – Lisa konnte dorthin reisen und ihn suchen. Aber ob er nach so langer Zeit noch immer dort sein würde? Vielleicht hatte er sich auch mit seiner Familie versöhnt und war zu ihr zurückgekehrt. Oder er ist sonst wo gelandet, dachte Lisa bitter. Immerhin wäre er jetzt frei für sie. Ruth war tot – schon wieder.

    Ihre düsteren Gedanken wurden von hundert Düften davon geweht. Der Obere Markt war der Umschlagplatz für all diejenigen, die auf der Handelsstraße von Frankfurt nach Leipzig unterwegs waren. Schon kurz nach dem Öffnen der Stadttore rumpelten hier hochbeladene Wagen vorbei, auf denen Lisa die unterschiedlichsten Waren erspähte. Einige Händler hatten ihre Stände bereits aufgeschlagen – vielleicht waren sie schon seit ein paar Tagen in der Stadt, denn das Gesetz sah vor, dass jeder durchreisende Händler mindestens drei Tage in Gelnhausen bleiben musste.

    Es war zugegebenermaßen ein altes Gesetz, das noch von Kaiser Barbarossa stammte, der als Stadtgründer galt. Lisa wusste nicht, ob es noch in Kraft war – mit Ankunft der Franzosen, deren blaue Uniformen aus der Masse der Menschen herausleuchtenden, hatte sich einiges geändert. Stichworte wie „Reichsdeputationshauptschluss und „Code civil schossen Lisa durch den Kopf. Doch sie hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Das Geschehen um sie herum nahm sie zu sehr gefangen.

    Viele Jahre lang war Lisa als Stadtführerin in Gelnhausen unterwegs gewesen, bei den reich kostümierten Erlebnisführungen genauso wie bei den Themenführungen. Sie hatte unzählige Male darüber gesprochen, welche Bedeutung der Obere Markt für die ehemalige Reichsstadt und ihre Bürger hatte. Doch es war etwas vollkommen anderes, plötzlich mitten im Geschehen zu stehen. Lisa sah bunte Stoffe, roch orientalische Gewürze, hörte Feilschende mit unverkennbarem Akzent – italienisch, französisch, holländisch und natürlich das allgegenwärtige hessisch. Während zahlreicher Mittelaltermärkte, die in Gelnhausen zu verschiedenen Anlässen stattfanden – nicht nur zur Feier der Stadtrechtsverleihung alle fünf Jahre – hatte Lisa beobachtet, wie die Menschen ihrer Zeit versucht hatten, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Sie hatte es zwar immer geahnt, aber nun wusste sie mit Sicherheit: Das war niemals gelungen. Diese Realität hier war viel plastischer, viel… klebriger, als alles, was man nachspielen konnte.

    „Steh nicht im Weg herum", herrschte ein feister Knecht Lisa an, weil sie ihm und seinem mit Mehlsäcken beladenen Handkarren den Weg blockierte. Erschrocken wich Lisa aus. Sie war derartig fasziniert gewesen, dass sie minutenlang mit offenem Mund dagestanden und um sich gestarrt hatte.

    Ich bin der Inbegriff eines Landeis, dachte Lisa halb verärgert, halb amüsiert, als ihr dazu ihr Aufzug einfiel.

    Rein architektonisch sah der Marktplatz fast schon so aus, wie sie ihn kannte: Unten wurde er vom Rathaus mit seinen rundbogigen, großen Toren begrenzt, seitlich von den alten Häusern, deren schmuckes Fachwerk der Mode wegen überputzt war. Auf der Westseite stand die ehemalige Peterskirche, jenes glücklose Gebäude, das seit dem 13. Jahrhundert seiner Nutzung als Gotteshaus harrte. Damals hatte der Papst persönlich entschieden, dass der weitere Bau neuer Kirchen in Gelnhausen untersagt wurde. Die Peterskirche wurde nur notdürftig fertiggestellt, diente in Laufe der Jahrhunderte als Lagerraum und während des Siebenjährigen Krieges als Lazarett. Derzeit dürfte sie ungenutzt sein, mutmaßte Lisa. In wenigen Jahren würde sie zu einer Zigarrenfabrik umgebaut. Erst im 20. Jahrhundert sollte sie als Kirche genutzt werden.

    Lisa wanderte zwischen den Marktständen umher, kam jedoch rasch zu der Erkenntnis, dass sie hier nicht fündig werden würde bei der Suche nach einer Anstellung: Die meisten Händler waren nicht von hier, und diejenigen, die es sich leisten konnten, mit den Durchreisenden Handel zu treiben, würden wohl kaum eine derartig zerlumpte Gestalt wie sie in ihre Dienste nehmen wollen. Es erschien Lisa deutlich sinnvoller, ihr Glück auf dem Unteren Markt zu versuchen, der als „Markt der Gelnhäuser" galt.

    Allerdings fürchtete sie, auch dort angesichts ihrer Erscheinung nicht optimal auf zukünftige Arbeitgeber zu wirken. Sie wählte also nicht den direkten Weg zum Untermarkt, sondern schlug den Gang durch die Pfarrgasse ein, die mit nur drei Metern die engste Stelle auf der gesamten Strecke der alten Handelsstraße Via Regia markierte – der Meter war zwar derzeit noch nicht erfunden, doch Lisa wusste natürlich, wie wenig Platz die Fuhrwerke hier hatten.

    Dahinter erblickte sie die Marienkirche, deren südlicher Turm sich bedenklich zur Seite neigte. Lisa war dieser Anblick fremd. Sie kannte die Türme nur aufrecht gen Himmel weisend – die „fünf Finger Gottes", wie sie von den Einheimischen genannt wurden.

    Wichtiger war ihr im Moment jedoch der kleine Brunnen, der sich gegenüber der Kirche befand. Auf der Straße, die anders verlief, als Lisa es kannte, herrschte zwar Durchgangsverkehr, doch am Brunnen war niemand. Lisa wusch sich rasch, aber gründlich den Schmutz von Armen, Beinen und dem Gesicht. Auch ihre Haare versuchte sie, einigermaßen zu ordnen.

    Immerhin würde es nicht allzu sehr auffallen, dass sie keine Haube trug: Bereits auf dem Markt hatte sie bemerkt, dass vor allem die jüngeren Frauen erstaunlich schnell die Vorzüge der französischen Besatzung erkannt hatten und die neueste Empire-Mode trugen: duftige, weit fallende Kleider und eben keine Haube mehr.

    Lisa gehörte zwar nicht mehr zu den Jüngsten, doch sie wusste, dass sie dank der modernen Zahnmedizin, gesunder Ernährung und jahrelangem Gebrauch von Feuchtigkeitscremes in dieser Zeit locker als zehn Jahre jünger durchging. 35-Jährige des beginnenden 19. Jahrhunderts waren im günstigsten Fall schon von mehreren Geburten und im schlimmsten Fall von Skorbut gezeichnet. Lisa jedoch besaß noch alle Zähne (und die Keramikplomben fielen dank der weißen Färbung nicht auf). Volles, glattes Haar fiel ihr jetzt, da sie es mit den Fingern durchgekämmt, die schlimmsten Knoten gelöst hatte und ihr Spiegelbild auf dem Wasser betrachtet hatte, dunkel über die Schultern. So ermutigt machte sie sich auf den Weg zum Untermarkt.

    Tatsächlich fühlte sie sich gleich wohler, als sie den leicht abschüssigen Marktplatz betrat. Hier boten Marktweiber ihre Ware feil, die beruhigend alltäglich wirkte: Gemüse, Kräuter, Obst und Milchprodukte wechselten den Besitzer. Weiter unten, Richtung Kinzighafen, hatten mehrere Fischhändler ihre Stände aufgeschlagen, und der Geruch wehte zu Lisa herüber. Angesichts der sich anbahnenden Augusthitze würde er bestimmt bald zu Gestank werden.

    Es war bei weitem nicht so exotisch wie auf dem Obermarkt, was Lisa Vertrauen einflößte. Hier kauften und verkauften die Gelnhäuser. Wenn jemand eine Magd brauchte, würde er hier zu finden sein – oder zumindest die Information darüber. Marktklatsch war besser als jede Zeitung, das hatte Lisa mittlerweile gelernt.

    Zunächst jedoch begann ihr Magen vernehmlich zu knurren, als Lisa zwischen den Ständen herumging. Kein Wunder, sie hatte seit dem Vortag nichts mehr gegessen. Sie fühlte unter ihrer Schürze nach ihrem Beutel. Viel war nicht darin – sie hatte den Großteil ihres Geldes in ihrer Kammer aufbewahrt und nur ein paar Münzen dabei. Ob sie mit denen hier überhaupt noch etwas anfangen konnte? Zumindest einen Apfel würde sie sich wohl leisten können oder ein anderes Stück Obst.

    Sie ertastete eine glatte Kupfermünze und ging entschlossen zu einer Händlerin, der bereits zu dieser Vormittagsstunde der Schweiß unter dem Kopftuch hervor lief. Die Münze rief zwar ein erstauntes Gesicht, aber keinen Kommentar hervor, und Lisa bekam einen Apfel und eine Birne.

    „Wisst Ihr zufällig, ob in der Stadt jemand eine Magd sucht?", fragte Lisa vorsichtig, während sie den rotbackigen Apfel entgegen nahm.

    Die Händlerin legte den Kopf schief und musterte sie unverhohlen von oben bis unten. Ein Hauch Mitleid überflog ihr Gesicht. „Vielleicht könnt Ihr es außerhalb der Stadt als Erntehelferin versuchen, in Altenhaßlau oder Roth vielleicht, sagte die Frau zweifelnd. „Ich weiß nicht genau, ob Ihr in der Stadt eine Stellung findet…

    „Ich kann schreiben, beeilte sich Lisa zu erwähnen. „Und ich habe Kinder gehütet.

    „So? Nun ja, ich wüsste jetzt niemanden, der eine Kindermagd braucht, aber der Cassebeer, der Apotheker der Einhorn-Apotheke, sucht manchmal Schreiber. Ob er auch eine Frau nimmt, weiß ich nicht, aber versuchen könnt Ihr es ja mal."

    Lisa bedankte sich und verzog sich rasch mit ihrer Beute in eine kleine Gasse, die zur Marienkirche hinaufführte – in ihrer Zeit wurde dieser Ort das „Höfchen" genannt. Dort verschlang sie das süße und saftige Obst in mehreren Bissen. Danach fühlte sie sich allerdings hungriger als zuvor. Sie überlegte, ob sie noch genug unauffällige Münzen zusammenkratzen konnte, um sich mehr zu essen besorgen zu können. Vielleicht sollte sie besser zuerst zur Einhorn-Apotheke gehen – auch wenn ihr etwas schwummerig bei dem Gedanken wurde, auf den Naturforscher Johann Heinrich Cassebeer zu treffen.

    So in Gedanken versunken trat sie aus der Gasse zurück auf den Marktplatz – und prallte schmerzhaft mit einem Mann zusammen, der gerade den Berg hinauf hetzte.

    „Entschuldigt, ich habe es eilig", sagte eine Stimme so ungeduldig, dass es nicht wirklich nach einer Entschuldigung klang. Es war eine Stimme, die Lisa sofort wiedererkannte – auch wenn sie sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Ihr Kopf ruckte hoch und sie starrte auf den Rücken des davon hastenden Mannes. Auch wenn sie ihn nur von hinten sah – sie hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt: die schlanke Gestalt, der energische Griff um die Arzttasche, der leicht federnde Gang. Die blonden Haare trug er nun in kurzen Locken geschnitten.

    „Jonas!, stieß Lisa atemlos hervor. Und dann, lauter: „Jonas Faust! Wage es nicht, einfach wegzurennen!

    2 Faust

    Die Zeit fror ein. Der blonde Mann, von dem Lisa noch immer nur den Rücken erkennen konnte, blieb wie angewurzelt stehen. Lisa hielt den Atem an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie welke Blätter im Herbst. Hatte sie sich getäuscht? Was würde Faust sagen, wenn er es wirklich war? Würde er sich freuen? Fünfzehn Jahre waren eine lange Zeit, in der viel passieren konnte. Das kurze Auflodern der Freude, das sie bei seinem Anblick erfasst hatte, wurde abgelöst durch einen Schauer der Furcht vor dem, was er sagen und tun würde.

    Endlich drehte er sich um. Sehr langsam, als hätte auch er Angst vor dem, was er vor sich sehen würde. Um sie herum strömten die Marktbesucher und Bewohner der Stadt, doch weder Lisa noch er schenkten ihren Blicken und gemurmelten Verwünschungen Beachtung. Sie beide waren wie zwei Kieselsteine in der Brandung am Strand: Lisa fühlte den Sog der Wellen um sie herum, doch sie rührte sich nicht. Gebannt starrte sie in das Gesicht von Jonas Faust.

    Er hatte sich verändert, natürlich. Er war älter geworden, doch er sah nicht alt aus. Vielleicht lag das an der Mode dieser Zeit; dem Empire-Stil folgend trug er einen schlichten Frack mit hohem Kragen und breitem Revers. Er sah jünger aus als die meisten Menschen seiner Zeit und seines Alters. 39 Jahre alt musste er nun sein. Lisa hatte jedes Jahr mitgezählt und sich gefragt, ob er noch lebte. Ob er damals im Wald gestorben war oder in den wirren Zeiten, die folgen sollten. Erleichterung durchflutete sie. Offensichtlich ging es ihm gut. Er war anständig gekleidet, wohlgenährt und sauber. Lisa war in diesem Moment überaus froh, den Umweg zum Brunnen gemacht zu haben. Zwar war ihre Kleidung noch immer verdreckt, doch sie dürfte zumindest nicht mehr wie eine Bettlerin wirken.

    Oder doch? Der Ausdruck in seinen blauen Augen, die ihr immer noch tief vertraut waren, war für sie kaum zu durchschauen. In ihnen spiegelte sich Überraschung, Verwirrung, Unglaube – aber sah sie auch Freude darin?

    „Jonas?", wiederholte Lisa leise und mit einem Hauch von Zweifel. Habe ich mich so sehr verändert? Natürlich war auch sie älter geworden. Und gerade die Enttäuschungen der vergangenen Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihre Stimme zitterte leicht vor Anspannung: „Erkennst du mich nicht?"

    Eine Sekunde stand Faust dicht vor ihr – so dicht, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht fühlen, die Hitze seines Körpers durch ihre Kleidung hindurch spüren konnte. Neben ihr polterte die Arzttasche zu Boden, die seinen Fingern entglitten war – die selbe schwarze Tasche, die sie so oft für ihn getragen hatte.

    Lisa hob den Kopf und forschte in Fausts Gesicht. Er hatte ein paar kleine Fältchen bekommen – nicht viele, aber genug, um den kaum Erwachsenen von damals zu einem Mann zu machen. Unwillkürlich hob Lisa die Hand, weil sie das Bedürfnis hatte, die feinen Linien auf seiner Stirn mit dem Finger zu glätten – es sah ganz so aus, als ob auch hinter Jonas Faust keine einfachen Jahre lagen.

    Ehe sie sein Gesicht berühren konnte, schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk. Nicht fest, sondern sanft glitten sie über die zarte Haut, unter der Lisas Blut heftig pulsierte. Tief holte Faust Luft.

    „Du bist echt", stieß er hervor. Seine Stimme klang rau vor Überraschung.

    Lisa konnte nicht anders: Sie grinste. „Du wohl auch, wie es aussieht."

    Mit der freien, rechten Hand berührte Faust eine Strähne von Lisas offenen Haaren. „Ich kann es kaum glauben, flüsterte er. „Wie oft habe ich gedacht, deine Stimme zu hören oder dich irgendwo auf der Straße zu sehen. Und wenn ich mich umdrehte, warst du nicht da, oder die Frau, der ich folgte, war eine andere …

    „Aber jetzt bin ich es. Ich bin es wirklich, Jonas. Ich bin wieder da. Ich habe es geschafft." Lisa musste schlucken, weil sie sonst losgeschluchzt hätte. Erst jetzt begriff sie es selbst: Sie hatte es wirklich geschafft.

    Unvermittelt packte Fausts Hand fester zu. „Komm mit", sagte er, griff mit der freien Hand nach der Arzttasche und stürmte los, Lisa hinter sich herziehend. Sie war so überrumpelt, dass sie einfach hinter ihm her stolperte.

    Faust zog sie quer über den Untermarkt, durch das Gedränge. Dass er dabei zahlreiche Passanten anrempelte und auch Lisa die ein oder andere Kollision nicht verhindern konnte – was wüste Flüche oder derbe Verwünschungen nach sich zog – störte ihn dabei nicht.

    „Wohin gehen wir?", keuchte Lisa, als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte.

    „An einen Ort, an dem wir ungestört sind", antwortete Faust knapp. Er bog in die Schmidtgasse ab – ob sie zum aktuellen Zeitpunkt schon diesen Namen trug, war Lisa gerade nicht klar – und sie ließen das Marktgedränge hinter sich. Da Faust trotzdem schnellen Schrittes weiter eilte, vereinfachte das die Sache für Lisa nicht: Nun ging es auch noch bergab, und sie musste aufpassen, um nicht zu stolpern.

    Das Geburtshaus von Grimmelshausen kam in Sicht – eine der touristischen Attraktionen Gelnhausens, jedoch noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Jetzt war es einfach ein Gasthaus.

    Will er mit mir dorthin?, dachte Lisa verwirrt.

    Doch da wechselte Faust erneut die Richtung und schlug einen Bogen nach links. Nachdem sie einige Häuser passiert hatten, wich die Bebauung rechts von ihnen zurück. Dort erhob sich am Hang etwas unterhalb der Straße ein runder Turm, dessen kegelförmiges Dach eine kleine Kugel krönte. Eine hölzerne Treppe führte zu einer Tür hinauf.

    Unwillkürlich überlief Lisa ein Schauder: der Fratzenstein. Der ehemalige Hexenturm Gelnhausens wurde schon seit langem nicht mehr zu diesem Zweck genutzt und war auch ursprünglich aus einem völlig anderen Grund erbaut worden – nämlich als Pulverturm und als Teil der Stadtbefestigung, wenn auch nicht in ihrem Verbund. Trotzdem war Lisa beim Anblick des Turmes stets unwohl. Erst recht jetzt, wo die blutige Historie des Turmes nicht lange zurücklag und obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht Hexenturm genannt wurde.

    Ausgerechnet gegenüber des Fratzensteins hielt Faust an und zog sie unter den Türsturz eines Hauses. Es war ein im Erdgeschoss verputztes, in den oberen Stockwerken verschindeltes Gebäude mittlerer Größe. Lisa war außer Atem und brauchte einige Sekunden, um den Blick vom Hexenturm zu lösen. „Und jetzt?", keuchte sie.

    Statt einer Antwort stellte Faust die Tasche ab, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, zog sie zu sich heran und küsste sie lange und intensiv. Als er sich von ihr löste, war Lisa nicht weniger außer Atem als zuvor und rot wie eine Pfingstrose. Sie lehnte sich gegen den Türsturz.

    „Wow, sagte sie. „Du verlierst keine Zeit, was? Wie wäre es erst einmal mit: Hallo, schön dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?

    Faust stützte seine Hände links und rechts von ihrem Kopf ab und sah ihr in die Augen. Er war ebenfalls atemlos. „Hallo, schön dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?"

    Lisa packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich herab, um ihn ihrerseits gründlich zu küssen. Es fühlte sich so gut an, so vertraut. Es war, wie nach Hause zu kommen. Als habe es die Jahre, die zwischen ihnen lagen, nie gegeben.

    „Danke der Nachfrage, sagte sie, als sie von ihm abließ. „Es war etwas schwierig, zurückzukehren, deswegen auch meine Verspätung …

    Faust warf einen Blick über die Schulter. Dann stieß er die Tür des Hauses auf und zog Lisa hinein. Sie warf einen Blick auf die Straße. Sie war menschenleer. Doch auf der anderen Seite meinte sie, aus den Augenwinkeln auf dem Rasen vor dem Hexenturm jemanden zu sehen – genau dort, wo in vielen Jahren eine Skulptur stehen sollte. Als Lisa den Kopf drehte, war dort jedoch niemand.

    Die Tür schlug zu. „Wohnst du hier?", fragte Lisa und sah sich neugierig um. Sie standen in einem dunklen, schmalen Flur. Gegenüber der Tür führte eine Treppe nach oben und einen Kellerzugang über eine Bodenklappe. Links und rechts wurde die Diele von Türen begrenzt.

    „Nein, ich breche immer in fremde Häuser ein, wenn ich eine meiner verschollenen Geliebten wiedersehe", sagte Faust trocken. Er ging zur linken Tür und öffnete sie, winkte Lisa, ihm zu folgen.

    „Das ist sinnvoll, so erweckst du nicht so viel Aufsehen. Lisa trat in einen Raum, der wohl den Salon des Hauses darstellte – die „gut Stubb, wie man in Hessen sagte. Ein Esstisch dominierte den hinteren Teil des Zimmers, vorne befanden sich ein Sofa und ein Sessel, an der Wand eine gläserne Vitrine mit feinem Porzellangeschirr.

    „Lisa!" Endlich sprach Faust ihren Namen aus. Bis zu diesem Moment war Lisa immer noch nicht sicher gewesen, ob sie nicht in einem wirren Tagtraum feststeckte. Wie oft hatte sie sich das Wiedersehen mit Jonas Faust ausgemalt. Dass es so verlaufen würde, damit hatte sie allerdings nicht gerechnet.

    Faust schien es ähnlich zu ergehen. Er stand vor ihr und musterte sie eingehend von oben bis unten, berührte ihre zerfetzte Kleidung, ihre Arme, ihr Gesicht. Ein paar Mal setzte er dazu an, etwas zu sagen oder zu fragen, doch letztendlich stockte er immer, bevor er einen Ton herausbrachte. Schließlich ließ er die Hände sinken, atmete tief durch und sagte leise: „Ich bin froh, dass du hier bist."

    Lisas Augen füllten sich mit Tränen. „Das bin ich auch", sagte sie. Dann lehnte sie sich an seine Brust, schlang ihre Arme um ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er umarmte sie fest. Für Fragen und Antworten war später noch Zeit.

    Zuerst nahm Lisa die Stimme kaum wahr. Sie war zu sehr gefangen in ihren Emotionen, bei denen nun endlich Erleichterung und Freude die Oberhand gewannen. Faust war hier, und so wie es aussah, war sie ihm wohl nicht egal – er hatte sie ebenso wenig vergessen wie sie ihn. Mehr brauchte sie nicht zu wissen, alles würde sich irgendwie finden. Dachte Lisa zumindest in diesem Moment. Dann jedoch registrierte sie die helle Stimme, die aus dem Flur zu ihnen drang: „Papa?"

    Lisa spürte, wie sich Fausts Körper unter ihren Händen versteifte. Ihr wurde übel. Sie ließ ihn los und sah zu ihm auf. Er war kalkweiß geworden. Sein Blick richtete sich auf die Tür zum Flur. Unwillkürlich wich Lisa einen Schritt zurück.

    Die Tür schwang auf und im Rahmen erschien ein Mädchen. Die Kleine war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, schmächtig und blass. Und sie war unverkennbar Fausts Tochter.

    Es waren nicht nur die blauen Augen und die blonden Locken – es war auch die Haltung, die das Kind besaß, das es eindeutig als das auszeichnete, was es war: das Fleisch und Blut von Jonas Faust. Lisa wusste es sofort. Das Mädchen stürmte mit dem freudigen Ausruf: „Papa! Du bist schon zurück!" auf Faust zu und umarmte ihn.

    Lisa wich noch einen Schritt zurück und ließ ihren Blick ungläubig zwischen der Kleinen und ihrem Vater hin und her schweifen. Faust rührte sich nicht, sondern sah Lisa mit einem Ausdruck an, der ihr das Herz brach: Sie erkannte sein schlechtes Gewissen. Jonas Faust war Vater. Und in dieser Stadt, in dieser Zeit bedeutete das …

    Sie drehte sich unwillkürlich um: Eine junge Frau war dem Kind in den Raum gefolgt. Sie hatte, wie man an der Küchenschürze unschwer erkannte, wohl ihre Hausarbeit verlassen, wischte sich die nassen Hände an einem Lappen ab. Sie war hübsch, hatte die hellblonden Haare hinten hochgesteckt und trug ein sittsames Häubchen. Wie es sich für die Gattin eines Arztes gehört, dachte Lisa.

    Die junge Frau lächelte freundlich. „Ich hatte nicht mit Gästen gerechnet", sagte sie und warf Faust einen nur leicht vorwurfsvollen Blick zu.

    „Papa, wer ist das?", fragte

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