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Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise)
Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise)
Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise)
Ebook465 pages6 hours

Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise)

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About this ebook

London soll Christine von Lindau und ihrer Tochter Luise neue Heimat sein und Schutz vor den Anhängern des deutschen Kaisers bieten. Doch sie werden erneut aufgespürt. Christine muss sich in Sicherheit bringen und wird während der Flucht von ihrer Tochter getrennt.
Auf sich allein gestellt begegnet das Mädchen dem gleichaltrigen Dieb Edward, der sie unter seine Fittiche nimmt und in die Unterwelt Londons einführt. Er bringt sie ins verrufene East End. Doch nicht nur ihre preußischen Verfolger wollen Christine und Luise tot sehen. Gefahr droht ihnen auch von anderer Seite, denn in Whitechapel treibt genau zu dieser Zeit ein bestialischer Hurenmörder sein Unwesen.
Christine und Luise schweben in höchster Gefahr. Wird London für beide zu einer tödlichen Falle?

Band 2 der Kaiser-Trilogie
LanguageDeutsch
Release dateNov 27, 2017
ISBN9783944879499
Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise)

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    Kaiserwaise (Kaiser Trilogie / Kaiserwaise) - Swetlana Neumann

    Autorin

    Inferno in London

    1888

    Wie konnten sie uns nur finden? Hier würden wir sicher sein, hatte Henry gesagt. Niemand könne uns in London finden. Und nun sind mehr als nur die Anhänger des Kaisers und Mahnteufel hinter uns her. Hat Henry uns verraten? Er, der mir eine Botschaft schickt und damit eine Seite zeigt, die ihn verletzlich macht. Ich könnte darauf mit meinem Stilett reagieren und würde es auch tun, wenn der Verrat von ihm käme. Aber vielleicht ist es bereits zu spät und ich bin schon vor Jahren in seine Falle getappt. Ich muss Obacht geben und ihm in die Augen sehen. Darin werde ich jede Lüge erkennen.

    Stille. Dunkelheit. Wärme. Unerträgliche Wärme, welche die Intensität von Feuer hatte. Ein Feuer, das nach ihrem Kleid leckte, ihre Haare berührte und ihre Haut ansengen wollte. War der Teufel persönlich nach London gekommen, um sie für ihre Taten auf Erden zu bestrafen? Wurde sie nun in die Hölle gezogen, weil sie Henry erschossen und ihre Tochter in große Gefahr gebracht hatte?

    »Kommen Sie!«, schien der Teufel zu rufen. »Gnädigste, kommen Sie endlich! Wachen Sie auf, ich flehe Sie an!« Die Worte drangen nur langsam in Christines Bewusstsein durch. Seit wann sprach der Teufel Bitten aus? Warum nahm er sie nicht einfach mit sich? Beißender Geruch stieg ihr in die Nase, die Luft wurde immer stickiger und die Gräfin drohte, zu ersticken. Ihre Lungen bekamen nicht genug Sauerstoff, sie atmete zu viel Rauch ein. Schwere Atemnot kam dazu. Jemand rüttelte sie an der Schulter und rief immer wieder ihren Namen.

    Ich weiß, wie ich heiße, dachte Christine verärgert. Nun vollbringe deine schändliche Tat und strafe mich für meine Sünden.

    Die Stille wurde von Rufen durchbrochen, vom Knistern der Flammen. Und dann brach ein infernalischer Lärm sich seine Bahnen, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es gab nichts mehr als die Hitze und den Lärm. Er zerrte an ihren Nerven, trieb ihr die Tränen in die Augen und ließ den Wunsch auftauchen, sich die Ohren zuzuhalten. Doch als Christine glaubte, im nächsten Moment von diesem alles verschlingenden Geräusch aus dem Leben gerissen zu werden, hörte sie den Schrei eines Kindes. Er schien sich wie ein Licht in dunkler Nacht durch die grollenden Töne des Feuertosens zu kämpfen und berührte Christines Seele. Luise!

    Langsam schlug Christine die Augen auf. Sie konnte nicht viel erkennen, denn Rauchschwaden durchzogen das Zimmer und Tränen verschleierten ihre Sicht. Ein vertrautes Gesicht kam in ihr Blickfeld, dunkle Augen sahen sie besorgt an.

    »Endlich, Sie sind wach! Nun stehen Sie auf!«

    Warum sah der Teufel wie der Gutsherr von Rochow aus? Ich habe es schon immer gewusst, dass er mit dem Teufel im Bunde steht. Und nun hat er sogar dessen Thron übernommen.

    Die Erkenntnis, wie obskur dieser Gedanke war, folgte sogleich. Und endlich entwirrten sich ihre Gedanken, die klebrigen Fäden der Ohnmacht verschwanden und Christine konnte wieder klar denken.

    »Luise«, krächzte sie. »Wo ist …?« Ein Hustenanfall unterbrach ihre Frage. Sie wurde auf die Beine gezerrt und versuchte, sich aus dem eisenharten Griff zu lösen. Doch von Rochows Hand hielt sie unbarmherzig fest.

    »Ihrer Tochter geht es gut. Zumindest bis jetzt«, knurrte er. Die Gräfin sah sich um. Ihre Pension stand in Flammen. Sie war also nicht in der Hölle, aber der Weg dorthin war bereits geebnet. Das Kratzen in ihrem Hals wurde immer stärker, ein Hustenanfall jagte den nächsten. Tränen traten in ihre Augen und ließen sie noch weniger von ihrer Umgebung erkennen. Wo kam dieses Feuer her? War es der Kamin oder die Petroleumlampe?

    Langsam kamen die Erinnerungen zurück. Obwohl die wärmenden Strahlen der Sonne die Pension schon aufgeheizt hatten, wollte Christine ein Feuer im Kamin entfachen, um Henrys Brief darin zu verbrennen. Henry Peacock, ein falscher Name, der doch zu einem Mann gehörte, dem sie mehr Gefühle entgegenbrachte, als angemessen oder gar gesund für sie war. Und nun war er tot.

    »Ich muss zu meiner Tochter«, verlangte Christine zwischen zwei schweren Atemzügen. Die Hitze im Raum wurde jetzt unerträglich. Die Flammen züngelten an den mit Stoff bezogenen Wänden empor, die Decke brannte fast in ihrer gesamten Ausdehnung lichterloh. Der Sessel, in dem sie erst vor ein paar Minuten die kurze Botschaft Henrys fassungslos gelesen hatte, war bereits ein Opfer der Flammen. Schmatzend fraß das Feuer sich durch die Armlehen, griff auf den Beistelltisch über und züngelte bereits nach den Gardinen.

    »Mama, Mama«, rief Luise in diesem Moment.

    Christine riss sich mit einer Kraft los, von der sie selbst nicht wusste, woher sie kam, und folgte den Rufen ihres Kindes. Yuki kam ihr entgegen. Das Gesicht der Asiatin war mit Ruß bedeckt.

    »Wir müssen raus aus dieser Hölle«, schrie sie über das Tosen und Knistern der Flammen hinweg. Luise war an ihrer Seite. Als sie nun ihre Mutter erblickte, fiel sie ihr weinend in die Arme.

    »Ich bringe dich hier raus«, versprach Christine und ging Richtung Tür. Der Weg war noch frei, die Tür schemenhaft im Rauch zu erkennen. Als sie den Türknauf greifen wollte, zerrte von Rochow sie von der Tür fort.

    »Nicht anfassen«, schrie er und deutete auf den Messingknauf. »Sie verbrennen sich«, erklärte er sein Verhalten und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war ebenfalls voller Ruß, sein langer Gehrock hatte etliche Brandlöcher.

    Christine riss ein Stück Stoff aus ihrem ohnehin zerstörten Kleid und umwickelte damit ihre Hand. Doch erneut hinderte der Gutsherr sie daran, den Türknauf zu ergreifen.

    »Sie können diese Tür nicht öffnen.«

    Yuki erschien neben Christine und er erkannte einen Dolch in ihrer Hand. »Das werden wir ja sehen«, sagte sie und wollte auf von Rochow losgehen, als sie eine befehlende Stimme innehalten ließ.

    »Halt! Er hat recht«, wurde gerufen. Christine hätte diese Stimme unter Tausenden erkannt. Auch wenn sie heiser war und sogar ihrem eigenen Krächzen ähnelte, so vermochte sie diese markante und wohl klingende Stimme doch deutlich zu erkennen.

    »Henry«, flüsterte sie und drehte sich um.

    Dort stand er, von Flammen umgeben, als wäre er geradewegs aus der Hölle emporgestiegen. Seine Augen leuchteten rot, seine dunklen Haare standen in alle Richtungen ab. Schweiß perlte an seinem Gesicht hinab und zog Linien durch den Ruß, der es bedeckte. Aber das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, ließ Christines Herz für einen Moment stehenbleiben.

    Er ist nicht tot! Er ist nicht tot! Er ist nicht tot! Oder bin ich gemeinsam mit ihm in die Hölle gefahren? Sie sah auf seine linke Schulter, wo eine Schussverletzung zu sehen war. Das Loch war oberhalb seines Herzens, Blut lief heraus und an ihm hinunter. In der Hölle würde er nicht bluten, schoss es ihr durch den Kopf. Also lebt er tatsächlich!

    Die Wirklichkeit kam mit einem harten Ruck zurück. Die zuvor in den Hintergrund getretenen Geräusche mit all ihren Gefahren und dem darin liegenden Versprechen des nahen Todes waren wieder da. Christines Herz setzte wieder ein und die stickige Luft drang nun ungehindert in ihre Lungen. Hustend ging sie in die Knie, Luise rief verzweifelt nach ihr.

    »Jetzt zeigen Sie endlich Ihr wahres Gesicht«, stellte Yuki fest und umgriff das Heft des Dolches fester. Sie wägte ihre Chancen ab, gegen beide Männer gleichzeitig zu bestehen. Doch als sie sich umsah, erkannte sie, dass die Männer nicht die gewichtigste Gefahr darstellten. Fast alle Möbel waren bereits ein Opfer der Flamen geworden, Luises Zimmer war nicht mehr zu sehen, denn das Feuer fraß sich unbarmherzig durch Wände, Decke und Boden. Es knackte hörbar, als die Dachbalken unter der zerstörerischen Wut jetzt zusammenzubrechen drohten. Die Flammen in der Stube waren nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Nur der Weg aus der Eingangstür hinaus blieb übrig, welcher durch den Gutsherrn versperrt wurde. Entweder sie alle würden beim Einsturz der Pension ums Leben kommen oder schon vorher an einer Rauchvergiftung sterben. Bereits jetzt waren sie bereits viel zu lange in dem Gebäude geblieben.

    Wie ein Häschen in der Grube, dachte Yuki. Sie saßen in der Falle.

    »Wenn wir die Tür öffnen, werden sie uns erschießen«, krächzte Henry mühevoll heraus. Er vermochte kaum noch, zu atmen, und auch die Schussverletzung machte ihm sehr zu schaffen.

    »Wer will uns erschießen?«, wollte Christine wissen. Ihr war vollkommen unklar, was hier eigentlich vor sich ging. Warum brannte ihre Pension? Wer hatte das Feuer gelegt? Warum waren Henry und von Rochow hier? Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass Henry plötzlich in der Tür stand und hinter ihm …

    »Mahnteufel!«, kam ihr plötzlich die Erinnerung zurück. Hinter Henry hatte Mahnteufel mit seinem Schläger gestanden und mit einer Waffe auf sie gezielt.

    Nicht auf Henry hatte Christine geschossen, sondern auf Mahnteufel. Aber ihre kurze Waffe war sehr ungenau und Henry hatte sich bewegt. Darum hatte sie vermutlich ihn getroffen und nicht Mahnteufel, der mit Sicherheit vor dieser Tür auf sie wartete.

    »Ja, Mahnteufel und seine Komplizen warten auf uns. Sie haben das Feuer gelegt und wissen, dass wir rauskommen müssen«, bestätigte von Rochow. »Wenn wir die Tür öffnen, werden sie uns erschießen.«

    Die Zeit schien stillzustehen. Christine nahm ihre Umgebung kaum noch wahr. Gab es wirklich keine Lösung? Sollte ihre Flucht hier enden und sie gemeinsam mit ihrer Tochter qualvoll sterben? Ein Mauzen ließ sie den Kopf drehen. Maggie, die Siamkatze, saß vor ihr und maunzte, dass jedem das Herz wehtun musste.

    Plötzlich hörte sie ein Hämmern, dann ein Bersten. Erschrocken sah sie zur Tür, die nur noch halb in den Angeln hing. Das Feuer hatte seinen Weg über die Decke zur Tür gefunden. Christine sah hinauf. Es war ein erschreckender und doch faszinierender Anblick.

    Kühle und frische Luft umwehte ihre Wangen. Es war, als würde sich das Paradies auftun, Hilfe würde ihr zuteil, die Rettung nahte. Doch ihr Retter war der sichere Tod. Sie erkannte Mahnteufel, in dessen Augen sich das Feuer widerspiegelte. Er stand auf der anderen Seite der zerstörten Tür und zielte mit einem Revolver auf sie.

    »Wird Zeit, dass ich meinen Auftrag endlich erledige«, sagte er mit schneidend kalter Stimme.

    Der Schuss brach. In genau derselben Sekunde riss jemand sie zu Boden, sie hörte die Kugel knapp an ihrem linken Ohr vorbeifliegen und gleich darauf kam der harte Aufprall. Das Wenige an Luft, das sie noch in ihren Lungen hatte, entwich pfeifend. Dieser Albtraum schien einfach kein Ende zu nehmen. Sie hörte ein Gewirr aus mehreren Stimmen. Als sie aufstehen wollte, wurde sie wieder zu Boden gedrückt.

    »Liegenbleiben!«, befahl Max, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Wo kommt der denn her? Die Ungewissheit um das Geschehen um sie herum trieb Christine fast in den Wahnsinn. Tatsächlich konnte sie jetzt, da sie am Boden lag, besser atmen. Gleich darauf folgte Luise ihrem Beispiel, Yuki legte das Mädchen zu seiner Mutter. Christine befreite ihren Arm und streckte ihn in die Richtung ihrer Tochter aus.

    »Alles wird gut«, versprach sie und hielt ihre Hand helfend hin. Luise wollte sie gerade ergreifen, als sie wieder hochgezerrt wurde.

    Christine war es, als ob jemand ihr Luise entreißen würde. Doch es war nur Yuki. Auch die Gräfin wurde auf die Beine gezerrt.

    »Nun komm’se schon«, sagte Max schroff. Der hatte keine Zeit für höfliches Benehmen und deutete nach vorn. Die Tür war praktisch nicht mehr vorhanden. Mahnteufel war nicht mehr zu sehen. Aber Henry und von Rochow standen draußen und lieferten sich einen Kampf gegen drei Gegner gleichzeitig.

    Christine fühlte sich nach vorn gezerrt. Yuki war immer an ihrer Seite und hielt Luises Hand. Endlich waren sie aus der Pension heraus. Wenige Sekunden, nachdem sie auf der Straße standen, brach das Haus hinter ihnen in sich zusammen. Der Lärm kam einer Explosion gleich. Funken stoben umher und fielen auf die angrenzenden Häuser. Die fingen ihrerseits Feuer und ein Großbrand drohte auszubrechen. Ein gewaltiges Bersten war zu hören, als der Dachstuhl endgültig nachgab, ein ohrenbetäubendes Zischen der wütenden Flammen, ein infernalisches Krachen der Inneneinrichtung. Erschrocken wirbelte Christine herum und dankte Max stumm dafür, dass er sie gerade noch rechtzeitig herausgebracht hatte. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, brach endgültig das Chaos los.

    Mehrere Schüsse brachen krachend, ihre Tochter schrie laut auf. Die Gräfin handelte instinktiv, riss sich von Max los und ergriff Luise. Das Mädchen hielt eine Hand auf seinen rechten Oberschenkel, auf seinem Kleid war Blut zu sehen. Luise war tatsächlich getroffen worden! Schnell zerrte sie das Kind hinter sich, Yuki stellte sich schützend zwischen ihre Freundin und die Kugeln.

    Wer hatte es gewagt, auf Luise zu schießen? Christine griff unter ihr Kleid und förderte ihr Stilett zu Tage. Die Deringer war in der brennenden Pension geblieben, also blieb ihr nur noch diese Waffe.

    Christines Blick klärte sich und sie konnte ihre Kontrahenten erkennen. Henry kämpfte abwechselnd mit seinem Stock und seinen Fäusten gegen Ludwig. Tatsächlich war auch Charlottes Mörder hier. Von Rochow versuchte, sich gegen Mahnteufels Schläger Egon zur Wehr zu setzen. Der Gutsherr sah bereits sehr mitgenommen aus, mehrer Blutergüsse zierten sein Gesicht. Ein weiterer Mann hatte ein Messer in der Hand und stach immer wieder nach von Rochow. Mancher Angriff glückte. Das Messer zerschnitt nicht nur den Gehrock oder die Hose des Gutsherren, sondern ritzte auch seine Hose auf. Dabei schrie er auf, doch er blieb stehen und wich keinen einzigen Schritt zurück.

    Christine wandte den Blick vom Gutsherrn ab und sah im selben Moment in zwei wahrhaft teuflische Augen. Mahnteufel sah sie an und warf seinen leeren Revolver fort. Er war es gewesen, der auf ihre Tochter geschossen hatte. Er griff in seine Manteltasche, um eine neue Waffe zu ziehen. Soweit durfte es nicht kommen.

    Christine lief an Yuki vorbei und rief: »Pass auf Luise auf!« Mit weit ausgreifenden Schritten ging sie Mahnteufel entgegen. Der glatzköpfige Mann sah ihr ruhig entgegen und zog eine Waffe aus seiner Manteltasche.

    »Das war’s dann, Gnädigste«, sagte er hocherfreut und lächelte, sodass sich die Haut straff über sein Gesicht spannte.

    »Ja, für dich«, antwortete Christine, blieb stehen und warf ihr Stilett wie einen Speer.

    Noch bevor Mahnteufel seinen Revolver abfeuern konnte, traf ihn die Waffe der Gräfin … leider nur in seine rechte Hand. Er hatte etwas seitlich gestanden, die Hand mit der Waffe gerade hochgenommen und damit den Weg zu seinem Herzen versperrt. Schreiend ließ er den Revolver fallen und umgriff seine verletzte Hand. Er zog das Stilett augenblicklich heraus und warf es zu Boden. Christine setzte sich wieder in Bewegung, Yuki war an ihrer Seite und behielt die Umgebung im Auge. Die Gräfin wollte Mahnteufel den Rest geben und sich für das an ihm rächen, was er ihr und Luise angetan hatte. Er sah ihr entgegen, dann ging sein Blick zu Ludwig, Egon und dem dritten Mann. Keiner von denen würde ihm zu Hilfe eilen. Also trat er die Flucht an.

    »Wir sind noch nicht fertig miteinander«, rief er der Gräfin entgegen, wirbelte herum und rannte davon.

    Christine hob ihr Stilett auf und wollte ihm folgen, als schrille Signalpfeifen zu hören waren. Die Bobbies waren auf dem Weg zum Ort des Geschehens. Wenn sie Christine verhaften würden, müsste sie ihren wahren Namen offenbaren und das Risiko einer Entdeckung eingehen. Der deutsche Kaiser hatte vielleicht auch in den Reihen der Polizei seine Spitzel. Doch nicht nur Christine wollte der englischen Polizei entgehen, sondern ebenso Mahnteufels Handlanger. Egon hatte von Rochow gerade am Kragen gepackt, als der schrille Ton auch an seine Ohren drang. Er ließ den Gutsherrn fallen, sodass der zuerst auf seine Füße fiel, dann aber zu Boden ging, und folgte seinem Herrn. Ludwig tat es ihm gleich, der dritte Mann ebenso und Henry versuchte nicht erst, den ehemaligen Major an seiner Flucht zu hindern. Plötzlich tauchte ein vierspänniger Pferdewagen mit einer Wasserpumpe auf, dahinter trabten weitere Pferdewagen mit den Mannschaften herbei. Die ›Metropolitan Fire Brigade‹ war eingetroffen.

    Kaum waren die Pferde zum Stillstand gekommen, als die Feuerwehleute auch schon ihrer Pflicht nachkamen und das Feuer bekämpften. Leitungen zum nächsten Hydranten wurden verlegt, Dampfpumpen sorgten für den nötigen Druck. Doch die Pension brannte lichterloh und die Feuerwehrleute konnten nur noch versuchen, die benachbarten Gebäude zu retten.

    Der Engländer ging auf Christine zu und bemerkte kurz: »Wir trennen uns.« Er hielt mit der rechten Hand seine verletzte Schulter, um sie zu stützen. Auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Blut, Ruß und Schweiß zu sehen. Seine Augen leuchteten nicht mehr teuflisch, wie in der Pension, sondern strahlten klar.

    »Wieso trennen?« Sie verstand ihn nicht. Mittlerweile waren schnelle Schritte zu hören, Stimmen hallten durch die Straßen.

    »Wir sind eine zu große Gruppe und müssen uns trennen«, erklärte Henry. »Von Rochow, Sie nehmen die Gräfin von Lindau mit sich«. Er gab die Befehle aus und der Gutsherr nickte. »Yuki, Sie und Max nehmen Luise mit. Ich kümmere mich um die Bobbies.«

    »Was erlauben Sie sich!«, warf Christine entrüstet ein. Die Erleichterung, dass sie Henry nicht erschossen hatte, schlug in pure Wut um. »Nichts und niemand wird mich jemals von meiner Tochter trennen.«

    »Sie verstehen nicht …« Henry wollte zum Erklären ansetzen, als Christines herrische Geste ihn verstummen ließ.

    »Nein, die werten Herren verstehen nicht.« Sie hielt Luise ihre Hand hin und spürte, wie ihre Tochter sie berührte. »Ich lasse mein Kind nicht im Stich. Niemals werde ich von ihrer Seite weichen.« Sie sah zu Luise. Die stand weinend neben ihr und hatte noch immer eine Hand auf ihren Oberschenkel gepresst.

    Die schrillen Signalpfeifen wurden immer lauter. Es wurde höchste Zeit, zu verschwinden. Henry sah ein, dass er nicht weiterkommen würde, und nickte.

    »Lauft zur Themse, wo die Tower Bridge gebaut wird«, rief er. »Dort wird ein Freund von mir auf euch warten. Er heißt Edward. Los!«

    »Woher wissen wir, dass wir diesem Menschen vertrauen können?«, warf Yuki ein, die Henry keinen Meter weit traute. Er hatte Mahnteufel hierher geführt. Wäre Henry nicht plötzlich in der Pension aufgetaucht, hätte der Schurke ihre Freundin niemals finden können. Selbst Yuki hatte es aus Angst, dass man sie beschatten könnte, vermieden, Christine aufzusuchen.

    In diesem Moment stürzten die Reste der Pension krachend ineinander. Schon Augenblicke später war von dem Haus nichts mehr zu sehen. Rauch- und Dreckwolken bahnten sich ihren Weg zu ihnen, zogen durch die engen Gassen wie Jäger auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Das unterbrach die aufkommende Diskussion. Christine sah Luise an.

    »Kannst du laufen?« Doch leider tat ihr Luise nicht den Gefallen, zu nicken. Ganz im Gegenteil, sie setzte sich auf den Boden und ließ die Hand ihrer Mutter los. Erst jetzt nahm Christine die Blutlache wahr, die sich um die Beine ihrer Tochter gebildet hatte.

    »Wir müssen die Wunde umgehend versorgen«, stellte sie fest und ging vor Luise in die Knie.

    »Aber nicht jetzt!«, schrie Henry und deutete an Christine vorbei. Die Gräfin folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Arm und erkannte etliche Bobbies, die angerannt kamen.

    »Sie wird verbluten!«, hielt Christine dagegen, sah aber auch, dass sie der englischen Polizei bald einiges zu erklären haben würde, wenn sie nicht sofort von hier verschwand.

    Max kam herbei, griff beherzt unter die Beine des Mädchens sowie unter ihren Rücken und hob sie hoch. Er sah Henry fragend an, der in die andere Richtung deutete. Max rannte los, als würde das Mädchen auf seinen Armen nichts wiegen. Christine und Yuki sowie von Rochow folgten ihm augenblicklich. Henry rannte in die andere Richtung, damit die Bobbies sich aufteilen mussten. So verließen alle den Ort des Infernos und rannten ihrem Schicksal entgegen.

    Henry fluchte unterdrückt. Ja, vermutlich hatte tatsächlich er Mahnteufel zu Christine und Luise geführt. Aber dahinter hatte keine Absicht gesteckt. Er war sich sicher gewesen, dass er nicht verfolgt worden war. Wie nur hatte Mahnteufel, der sich bei Weitem nicht so gut in London auskennen konnte, wie er selbst, ihm folgen können? Wieso hatte er ihn nicht bemerkt, genauso wenig wie Egon und Ludwig von Hohenwald? Die Drei hatten eindeutig Hilfe aus London gehabt. Vielleicht sogar aus jener Bewegung, welche Zwietracht zwischen England und Deutschland säen wollte. Und er war so dumm gewesen, zu glauben, hier wären die beiden sicher!

    Henry wusste, wie er die Polizei abhängen konnten, denn als Polizeiinspektor war er über die Vorgehensweise der Bobbies bestens informiert. Er rannte die Bayswater Road entlang, bog in die Park Lane ein und verschwand kurz darauf im Hyde Park. Hier versteckte er sich solange, bis die Bobbies ihre Suche nach ihm aufgegeben hatten und aus dem Park verschwanden. Doch Henry verließ diesen Ort nicht sofort, um Christine zu folgen. Vielmehr ging er zum Rand des Parkes und lehnte sich an einen Baum. Es dauerte nicht lange, bis er eine Person bemerkte, die versuchte, sich an ihn anzuschleichen.

    »Wenn du nicht besser wirst, wird nie ein guter Dieb aus dir, Edward«, sagte Henry und drehte sich um. Er sah am Baum vorbei und erkannte einen etwa dreizehnjährigen Jungen. Der trug eine Schiebermütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, um seine Augen zu verbergen. Zwei Hosenträger hielten eine etwas zu große braune Hose aus festem Leinen am richtigen Fleck. Sein Hemd war wohl einmal weiß gewesen, sah nun aber gräulich aus und war voller Dreckflecken.

    »Sie sind der einzige Mann, der mich näherkommen hört, Mister Hopkins«, rechtfertigte sich Edward und riss die Mütze vom Kopf. Wütend warf er sie zu Boden. Henry bückte sich und hob sie wieder auf.

    »So gehst du also mit meinem Geschenk um?« Er gab Edward die Mütze zurück, der schnell den Dreck von der Mütze entfernte und sie wieder aufsetzte.

    »Tut mir leid, Mister Hopkins«, entschuldigte er sich. »Was gibt es denn, dass Sie mich aufsuchen? Oh, Sie sind ja verletzt!«

    Edward wusste, dass der Polizeiinspektor nur nach ihm suchte, wenn er eine Person ausfindig machen wollte oder Informationen brauchte. Unter Edwards Fittichen lebten viele Kinder, die als Diebe in London unterwegs waren und ihre Ohren und Augen überall hatten, wo es notwendig war.

    »Das ist nur ein Kratzer«, wiegelte Henry ab und fuhr fort. »Pass auf, ich habe folgenden Auftrag für dich. Es wird heikel und du musst gut auf dich und deine Freunde aufpassen.«

    Edwards Neugierde war geweckt. Henry sprach weiter und erläuterte dem jungen Dieb, was er zu tun hatte. Eigentlich nahm der keine Befehle entgegen, schon gar nicht von einem Erwachsenen und noch dazu von einem Polizisten. Doch Stanley Hopkins war anders und hatte den Verachteten Londons gegenüber sein Wohlwollen schon mehr als einmal gezeigt.

    Nachdem Henry ihm alles erzählt hatte, tippte Edward als Zeichen, dass er verstanden hatte, an seine Mütze und rannte davon. Henry sah ihm nach. Ihm gefiel ganz und gar nicht, wozu er jetzt gezwungen war. Die Gruppe zu trennen bedeutete für Henry, die einzelnen Personen nicht mehr kontrollieren zu können und nicht mehr über ihre Handlungen im Bilde zu sein. Er musste nun einige Anstrengungen mehr in Kauf nehmen, damit sein Plan weiter dem richtigen Weg folgen konnte. Momentan aber war dieser Plan ziemlich aus dem Ruder gelaufen und er sah sich dazu gezwungen, Luise und Christine ins verrufene East End bringen zu lassen.

    Ein Stechen in der Schulter riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er berührte sie und sah im nächsten Moment das Blut auf seiner Handfläche. Jetzt, da er einen neuen Plan hatte und das Adrenalin aufgrund des Angriffs und des Feuers nicht mehr durch seine Adern jagte, brachte sich die Schussverletzung überdeutlich in Erinnerung.

    »Christine, warum mussten Sie auch die Deringer verwenden?«, fragte er leise. »Aber nun ist die Waffe wenigstens weg. Beinahe hätte sie mich erschossen und das wäre doch wahrlich unangenehm geworden.«

    Er schlug die Richtung zu einem Arzt ein, der seine Wunde versorgen würde, ohne unnötige Fragen zu stellen. Danach musste er dringend nach Whitechapel, um eine Unterkunft für die Flüchtenden zu organisieren. Er brauchte einen neuen Plan.

    Edward, der Dieb

    Überall um uns herum ist Verrat. Ich traue von Rochow nicht. Wie könnte ich das auch, wo er doch vor wenigen Wochen versucht hat, Luise zu beseitigen. Warum folgt Christine ihm jetzt? Seit wann gehorcht sie einem Mann und dann ausgerechnet dem Gutsherrn? Ich hatte ihn nicht kommen sehen, urplötzlich hatte er vor Christines Pension gestanden. Und mit ihm Henry Peacock, Lügner und gefährlichster Mann ganz Europas. Und auch ihm folgt meine Freundin, die falsche Gräfin. Ich bin in ein Konstrukt voller Intrigen und Verrat geraten und Christines Sicht wird durch all die Lügen vernebelt. Sie glaubt mir nicht. Warum bin ich noch bei ihr? Ich werde sie vor die Wahl stellen, sobald wir in Sicherheit sind: Entweder der Engländer geht oder ich! Ich muss sie dazu zwingen, sich zu entscheiden. In ihrem Blick sehe ich Gefühle, welche sie Henry entgegenbringt. Dieselben Gefühle, die sie auch für mich hegt. Wie kann das nur sein? Oder täusche ich mich und sie liebt den Engländer gar nicht? Ich hoffe es sehr, denn ich könnte es nicht ertragen, meine Irene an Henry zu verlieren. Das muss ich verhindern, denn das Glück wird sie nur an meiner Seite finden.

    Christine folgte Max, so schnell es ihr möglich war. Noch immer musste sie husten und ihr war schlecht. Ein Kreisel jagte durch ihren Kopf und mehr als einmal stolperte sie über ihre eigenen Füße. Mittlerweile zerrte von Rochow sie nicht mehr durch die vollen Straßen von Westminster, sondern stützte sie. Max war bereits ein gutes Stück voraus, als der Gutsherr ihn zurückrief.

    »Wir brauchen eine Droschke«, sagte er und deutete zum Burlington House. »Wenn ich sehe, wo wir gerade sind, dauert es noch Stunden, bis wir die Baustelle erreichen.«

    »Weshalb folgen wir auch dem Ratschlag von Mister Peacock?«, wollte Yuki verärgert wissen. »Wir wissen weder, ob er Mahnteufel auf Christine gehetzt hat, noch ob er uns gerade in die nächste Falle locken will. Wir sollten uns schleunigst einschiffen und nach Southampton begeben.«

    »Um dann nach Deutschland zurückkehren?«, fragte von Rochow verärgert. »Dort wartet bereits der nächste Feind und …«

    »Das werde ich Ihnen bestimmt nicht auf die Nase binden«, unterbrach ihn die Japanerin. »Einem Mann, der uns schon in Deutschland verfolgt hat und uns töten wollte, würde ich unser Ziel um keinen Preis der Welt verraten!« Die letzten Worte hatte Yuki herausgeschrien. Warum befanden sie sich in dieser gefährlichen Situation? – Weil sie Henry vertraut hatten und jetzt gerade mit ihrem ärgsten Feind unterwegs waren, der ihnen angeblich helfen wollte. Nein, entschied sie, es wurde Zeit, dass sie das Kommando übernahm. Immer wieder rumpelten Kutschen und Droschken vorüber, deren eisenbeschlagene Räder auf dem Straßenpflaster einen höllischen Krach verursachten. Passanten eilten vorbei und warfen ihnen skeptische Blicke zu.

    »Wir gehen zur Tower Bridge«, warf Christine plötzlich ein, die sich mühsam am Gutsherrn festhielt. Bisher hatte sie selten Entsetzen oder sogar Enttäuschung in den Augen ihrer Freundin gesehen, doch jetzt war dieser Moment da. Yuki fühlte sich von ihr verraten, doch Christine konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Luise musste dringend zu einem Arzt. Und wenn Henry versprach, dass ihnen bei der Tower Bridge geholfen würde, glaubte sie ihm auch.

    Von Rochow griff in die Innentasche seines Gehrocks und förderte einige Pence zu Tage. Viel war es nicht, was er an Barschaft mit sich führte. Doch es musste reichen. »Halten Sie die Gräfin fest«, verlangte er von Yuki. Die gehorchte sofort, mied aber den suchenden Blick ihrer Freundin. Der Gutsherr hielt die nächste Droschke an, die vorbeikam. Max setzte Luise ab, um seine Arme zu entlasten. Sie konnte zumindest allein stehen, aber sie hatte nach wie vor starke Schmerzen, die sich auf ihrem Gesicht widerspiegelten.

    Der Kutscher hielt an und begutachtete die eigenartigen Passagiere. Von Rochow folgte seinem Blick und konnte die Skepsis gut verstehen, die dem Mann deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Alle Mitglieder der Gruppe trugen angesengte Kleidung und hatten Gesichter voller Ruß. Max, Yuki und auch er hatten zusätzlich sogar Blut im Gesicht, Luise blutete aus der Wunde am Bein. Der Kutscher sah an ihnen vorbei und der Gutsherr wusste, was er gesehen hatte und welche Schlussfolgerungen er daraus ziehen würde. Aus der Ferne war noch die Rauchwolke des Brandherdes zu sehen. Der Kutscher wollte bereits die Zügel knallen lassen, um schnellstmöglich von diesen gefährlich aussehenden Leuten fortzukommen, als Max eingriff. Er überwand die letzten Meter bis zur Droschke und sprang auf den Bock. Dann zerrte er den Mann herunter, sodass der unsanft auf die Straße fiel und rief von Rochow zu: »Nun machen’se schon und bring’se die Frau Gräfin und das Mädchen rein.«

    In einiger Entfernung war eine Signalpfeife zu hören. Der Brand der Pension zog immer mehr Polizisten an. Die Rauchwolken standen hoch am Himmel, der Geruch von verbranntem Holz lag in der Luft. Gerade in der Nähe des Buckingham Palace patrouillierten in zunehmendem Maß Polizeistreifen.

    Von Rochow öffnete die Tür der Droschke und Christine stieg langsam ein. Luise musste vorsichtig in die Kutsche steigen und brauchte zwei Anläufe, bis sie die kleine Trittleiter hinaufkam. Sie setzte sich neben ihre Mutter auf die harte Bank. Yuki quetschte sich ebenfalls in das enge Gefährt. Für den Gutsherrn war kein Platz mehr, deshalb wollte er gerade auf den Kutschbock steigen, als Luise plötzlich nach ihrer Katze rief.

    »Maggie muss mit«, hörte er die Stimme des Mädchens gedämpft aus der Droschke.

    Von Rochow sah zu Boden. Dort saß die Siamkatze und miaute kläglich. Er stemmte sich empor und wollte sich neben Max auf den Kutschbock setzen und die flehenden Bitten des Mädchens und der Katze ignorieren, als der Pferdeknecht ihn grollend ansah. Genervt stieg er wieder hinab, ergriff die Katze, die ein verärgertes Fauchen von sich gab, und öffnete die Tür des Gefährts. Maggie biss ihm wie zum Dank in die Hand. Mit einem Fluch auf den Lippen warf er das Tier in den Innenraum und knallte die Tür wütend ins Schloss. Danach stieg er wieder auf den Kutschbock und befahl Max, loszufahren.

    Die Signalpfeifen waren nun direkt hinter ihnen. Der Gutsherr konnte bereits mehrere Bobbies und einen Konstabler erkennen. Der warf die Arme in die Höhe und rief, sie sollten die Droschke sofort verlassen. Max verstand kein Wort, doch selbst wenn er der englischen Sprache mächtig gewesen wäre, hätte er den Befehl des Konstablers ignoriert. Er ließ die Zügel knallen und die Droschke setzte sich ruckelnd in Bewegung. Der geschlagene Kutscher erhob sich in diesem Moment von der Straße und hob wütend die Faust, konnte die Droschke aber nicht mehr aufhalten. Von Rochow zeigte Max den Weg und so fuhren sie in dem Tempo in Richtung Tower Bridge, das der dichte Verkehr zuließ.

    »Hilf mir«, verlangte Christine von ihrer Freundin. Sie hatte Luise aufgesetzt und ihr Kleid hochgeschoben. Das Mädchen hielt die Augen geschlossen und war ganz blass im Gesicht.

    »Das sieht nicht gut aus«, sagte Yuki, als sie die Wunde sah. Zum Glück war es nur ein Streifschuss und die Kugel steckte nicht mehr im Bein des Mädchens. Die starke Blutung der Wunde musste dringend gestoppt werden.

    Christine riss ein Stück Stoff aus ihrem Kleid und verband die Wunde ihrer Tochter, während Yuki Luises Bein hochhielt. Die Gräfin versuchte, auch gegen die Proteste ihrer Tochter, den Verband so fest wie möglich anzulegen.

    »Ist der Teufel noch da?«, wollte Luise wissen und versuchte, aus dem kleinen Fenster der Droschke zu schauen. Christine schob sie wieder zurück.

    »Nein, er ist fort und er wird dir nichts mehr antun können«, versicherte die Gräfin, doch Luise schüttelte unwillig den Kopf.

    »Er war plötzlich da. Der Teufel ist zurückgekommen. Du kannst mich nicht vor ihm beschützen.« Tiefe Hoffnungslosigkeit war aus ihrer Stimme zu hören. Ihr Blick war leidend und voller unendlichem Schmerz. Tränen der Angst rollten an ihrem Gesicht hinab und Christine tat etwas sehr Seltenes. Sie nahm ihre Tochter in den Arm und wiegte sie, wie ein kleines Kind.

    »Doch, bald sind wir in Sicherheit und dir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir.« Luise sah zu ihr hoch. »Wirklich?«, fragte sie zweifelnd. »Der Teufel kommt nie wieder zurück?« Christine nickte und wiederholte ihr Versprechen. »Und Onkel Henry? Wo ist er?«

    »Er folgt uns. An der Themse werden wir wieder mit ihm zusammentreffen«, antwortete ihre Mutter.

    »Bleibt er dann bei uns? Er hat uns gerettet«, antwortete Luise bereits schlaftrunken. Die starke Anstrengung der letzten Stunden, der hohe Blutverlust und die furchtbare Angst forderten ihren Tribut.

    Christine antwortete nicht auf die letzte Frage ihrer Tochter. Sie spürte Yukis Blick auf sich ruhen, die darauf brannte, die Antwort von ihrer Freundin auf genau diese Frage zu hören. Doch die Gräfin wusste selbst nicht, was sie sagen sollte. Nun, da sie etwas Ruhe hatte, ordnete sie ihre Gedanken. Henry, was machen Sie nur mit mir?, wollte sie stumm wissen. In dem Moment, als sie ihn aus Versehen mit ihrer Deringer getroffen hatte, war für sie die Zeit stehengeblieben. Sie hatte mit ansehen müssen, wie er getroffen zu Boden ging und reglos liegen geblieben war, derweil sich auf seiner linken Schulter ein Blutfleck gebildet hatte. Ich habe Henry getötet, war ihr durch den Kopf gegangen. War es mehr als reine Sympathie, die sie für den Engländer empfand? Sie wollte dieses eine Wort, das ihr ganzes Handeln, ihre bisherige Lebensweise, einfach alles infrage stellte, nicht einmal in Gedanken aussprechen. Hatte Yuki recht und Henry hatte Mahnteufel zu ihr geführt? Dagegen sprach der Brief, den sie von ihm erhalten hatte. Warum nur hatte er sich ihr offenbart? Und warum log er sie dennoch an und nannte ihr nicht seinen wahren Namen?

    »Wir sollten nach New York zurückkehren.« Yukis Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Christine blinzelte und fand nur langsam in die Wirklichkeit zurück.

    Die Japanerin wusste, an wen ihre Freundin gedacht hatte und wollte verhindern, dass Christine auf dumme Gedanken kam. Dieser sehnsüchtige Blick, der leicht geöffnete Mund … Christine war vielleicht körperlich anwesend, aber im Geiste lag sie schon in den Armen dieses verfluchten Engländers. Wenn selbst die Sorge um ihre schwer verletzte Tochter Christines Aufmerksamkeit nicht binden konnte, musste ihre Gefühlswelt ziemlich durcheinandergeraten sein.

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