Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers
Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers
Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers
Ebook248 pages3 hours

Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Simha Rotem, genannt Kazik, nahm als Jugendlicher am Warschauer Ghettoaufstand teil und ist der letzte noch lebende Kämpfer dieses epochalen jüdischen Widerstandskampfes. Er war 15 Jahre alt, als die NS-Armee in Polen einfiel, und 19, als der Aufstand am 19. April 1943 begann. Er organisierte die Flucht der letzten überlebenden Kämpfer aus dem brennenden Ghetto durch das Labyrinth der Abwasserkanäle. 1944 beteiligte sich Kazik am Warschauer Aufstand und bereitete anschließend noch vor Kriegsende Fluchtwege nach Israel vor. Ohne nachträglich zu romantisieren oder zu verklären, beschreibt er die schier unvorstellbare Härte des Kampfes gegen die Nazis. Mit seinen Erinnerungen erfüllte er die innere Verpflichtung, Zeugnis abzulegen über "die Geschichte des polnischen Judentums in den Tagen der Vernichtung und des Widerstands".
LanguageDeutsch
PublisherAssoziation A
Release dateNov 30, 2017
ISBN9783862416264
Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers

Related to Kazik

Related ebooks

Political Biographies For You

View More

Related articles

Reviews for Kazik

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Kazik - Simha Rotem

    2017

    1 — Vorwort 1983

    IM FRÜHLING 1944 versammelte sich eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB), der jüdischen Kampforganisation, bei Luba und Irka in einer Untergrundwohnung auf der »arischen Seite« Warschaus in der Pańska-Straße 5. Wir setzten uns hin, um unsere Erlebnisse während des Krieges seit 1939 aufzuschreiben.

    In der Wohnung waren Menschen, die sich dort versteckt hielten, Frauen und Männer von »draußen«, überlebende Kommandanten der ŻOB und wichtige Persönlichkeiten der polnisch-jüdischen Öffentlichkeit vor dem Krieg. Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto und bis zum Warschauer Aufstand im August 1944 beschäftigten sich die Kameraden neben allem anderen hauptsächlich mit Dokumentation; aus historischem Bewusstsein und weil sie glaubten, die letzten Juden zu sein, fühlten sie sich dafür verantwortlich, die Geschichte des polnischen Judentums »in den Tagen der Vernichtung und des Widerstands« zu erzählen und aufzubewahren. In dieser Wohnung sind viele Berichte geschrieben worden. Daraus wurde der Bericht über die jüdische Kampforganisation. Die lebendige Seele der Gruppe, die diesen Bericht verfasste, war Antek (Icchak Cukierman). Ich war jünger als Icchak Cukierman, mit dem und an dessen Seite ich auf der »arischen Seite« aktiv war. Ich war acht bis neun Jahre jünger, unter Zwanzig- bis Dreißigjährigen ist das ein bedeutender Unterschied. Obwohl ich an Anteks politischen Verbindungen und Entscheidungen nicht direkt beteiligt war, nahm ich regelmäßig an den Besprechungen der Hauptkommandantur über Aufgaben und Unternehmungen der ŻOB teil. Mich selbst interessierten die Spuren, die eine Bewegung oder auch dieser oder jener Mensch in der Geschichte hinterlassen, nicht. Ich wollte etwas tun. Die Diskussionen darüber, was aufgeschrieben werden sollte und was nicht, verliefen ohne mich. Mein Betätigungsfeld lag außerhalb der Wohnung – auf den Straßen und im Untergrund.

    Aber Icchak Cukierman ließ nicht von mir ab und verlangte auch von mir, meine Erinnerungen als Kämpfer aufzuschreiben. Daher setzte ich mich im Frühling 1944 in der Pańska-Straße 5 hin und schrieb auf Polnisch eine Art retrospektives Tagebuch. In der Regel sprach ich polnisch, obwohl in meinem Elternhaus auch Jiddisch gesprochen wurde. Es war das Polnisch der einfachen Leute, das sich von der Sprache der jüdischen Intelligenz unterschied. Im Jahre 1946, als ich in Israel ankam, wurde ich zu Melech Neustadt (Noi) gerufen, der mit den Vorbereitungen für sein Buch Die Vernichtung und der Aufstand der Warschauer Juden beschäftigt war. Er zeigte mir meinen Bericht, der ins Hebräische übersetzt worden war und den er für den Druck vorbereitet und mit dem Titel Das Tagebuch eines Kämpfers überschrieben hatte. Seit damals sind diese Erinnerungen in mehreren Büchern wieder abgedruckt worden. Das Tagebuch enthält die Beschreibung der Aktionen, an denen ich seit dem Beginn des Warschauer Ghettoaufstands bis zur Befreiung einer Gruppe von Ghettokämpfern durch die Abwasserkanäle in der Prostą-Straße teilgenommen habe. Der Bericht wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

    Aber der wichtigste Teil dieser Geschichte ist tief in mir vergraben geblieben. Icchak Cukierman war es, der mich wieder und wieder eindringlich bat, mich zu erinnern und zu erzählen. In all den Jahrzehnten, die vergangen sind, hat er nicht aufgehört, mir deswegen das Leben »schwer zu machen«. Erst 1981 gab ich nach, kam in den Kibbuz Lochamej haGeta’ot (Die Ghettokämpfer) und wollte schreiben. Aber ich konnte nicht. Antek bat Zwika Dror, ein Kibbuz-Mitglied, meine Geschichte aufzuschreiben. Es war nicht einfach für mich, denn ich bin kein Mensch, der viel redet. Indessen starb Antek, aber aus der Verpflichtung heraus, die ich ihm gegenüber empfinde, fuhr ich mit der Arbeit an meiner Geschichte fort.

    Jetzt, im Jahre 1983, lebe ich mit meiner Frau Gina und meinen Kindern Itay und Eyal in Jerusalem. Auch ihnen habe ich die Geschichte noch nicht vollständig erzählt. Ich erzähle sie in meiner alltäglichen Sprache, so, wie ich zu Hause, auf der Arbeit und mit meinen Freunden rede. Ich ziehe es vor, auch beim Schreiben Kazik zu bleiben. Ich erzähle nur das, woran ich mich erinnere, ohne Abstand und ohne Rücksicht auf meinen Ruf oder meine Spuren in der Geschichte. Ich möchte die Geschehnisse auf meine Art und in eigener Verantwortung so berichten, wie ich sie damals sah und wie ich sie jetzt sehe. Der Leser wird entdecken, dass die Geschichte hier und da Lücken hat, denn ich hatte, und das nicht selten, »blinde Flecken« in meiner Erinnerung. Ich wollte keine Erinnerungen rekonstruieren und zog es vor, die Löcher zu lassen. Ich hoffe, das wird dem Leser seinen Weg durch dieses Buch nicht zu schwer machen.

    2 — Davor

    Ein Mitglied einer Warschauer Familie

    ICH STAMME AUS EINER jüdischen Warschauer Familie, sowohl mütterlicher- wie väterlicherseits. Geboren wurde ich in Czerniaków, einer Vorstadt von Warschau, und dort verbrachte ich auch meine Kindheit. Die Eltern meiner Mutter – Großvater Jankiel (Jakob) Minski und Großmutter Sara, geborene Poznańska – lebten auch in Czerniaków. Ihre vier Töchter mit ihren Familien wohnten mit ihnen zusammen – eine große Sippschaft. Meine Eltern hießen Cwi und Miriam Ratajzer. Ich war das Älteste von vier Geschwistern. Nach mir wurden Izrael, dann Dora und schließlich Raja geboren. Von diesem ganzen großen Familienstamm blieben nur wir zwei – Raja und ich – übrig. Raja lebt heute ebenfalls in Israel. In meiner Kindheit war ich jedem meiner Großväter auf besondere Art zugetan. Großvater Jakob mochte ich wegen seines bäuerlichen Charakters und weil es mir Freude machte, wenn ich ihn bei seiner Arbeit begleitete. Er war ein an Leib und Seele gesunder Jude mit einer einfachen Art zu denken und einer ungeschliffenen Sprache. Seine Seelenruhe wurde von keinem philosophischen Gedanken gestört. Er stand frühmorgens auf und sein Arbeitstag war lang und zermürbend.

    Die Dörfer, in denen er arbeitete, waren ungefähr zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt (ich kann mich nur noch an einen Namen erinnern: Siekierki). Er kaufte von den Bauern die Früchte, bevor sie geerntet wurden, und stellte, wenn sie reif waren, Arbeiter zum Pflücken ein. Ein Teil der Früchte wurde eingelagert, um später verkauft zu werden, den anderen Teil verkaufte er sofort. Er nahm mich gewöhnlich auf seinem zweispännigen Wagen mit. Wenn wir unterwegs einen Bauern trafen, den wir kannten, stiegen wir ab und begrüßten einander. Die Bauern nannten Großvater »Herr Jankiel«. Sie schätzten ihn sehr, er galt als ein Mensch, auf den man sich verlassen konnte. Sein Wort war ein Wort, und sein Versprechen ein Versprechen. Mich stellte er immer mit den Worten vor: »Das ist mein Enkelsohn Szymek« – so nannte man mich zu Hause. Unsere nichtjüdischen Nachbarn sagten, ich sähe aus wie mein Großvater, kein bisschen wie ein Jude. Trotz seines Bartes hätte man Großvater keineswegs als typisch jüdisch beschreiben können – weder in seiner Art zu reden noch in seiner Gestik, noch in seiner Lebensweise. Sein ganzes Benehmen glich dem eines polnischen Bauern. Mein anderer Großvater jedoch, der Vater meines Vaters, war ganz anders. Sogar die Essgewohnheiten waren in beiden Häusern völlig verschieden.

    Die Obsterntezeit fiel mit den großen Sommerferien zusammen. Ich half besonders gerne beim Schleppen der Obstkisten mit Äpfeln, Birnen und Kirschen. Der Schuppen für die Obsteinlagerung stand direkt neben unserem Haus und daneben im Hof war der Stall. Siekierki war ein kleines Dorf, dessen Hütten aus Ziegeln gebaut waren, ein dreieckiges, strohbedecktes Dach, neben jeder Hütte Stall und Scheune, zusätzlich ein Keller für die Einlagerung von Kartoffeln und Zwiebeln für das ganze Jahr und auf dem Hof der Brunnen. In einem Teil der Häuser gab es Strom. Die Gebäude lagen meist einige Dutzend Meter voneinander entfernt, umgeben von nicht sehr hohen Holzzäunen, die mehr zur Markierung der Grenze zwischen den einzelnen Grundstücken dienten als zu ihrem Schutz. Auf jedem Hof gab es mindestens einen Hund. Wenn wir ein Dorf erreichten, betraten wir eine der Bauernhütten. Die Bewohner empfingen uns respektvoll und mit von Herzen kommender Liebenswürdigkeit. Ich fühlte mich bei ihnen sehr wohl und unbefangen. Großvaters Polnisch war fehlerlos, frei von jedem jüdischen Akzent. Nicht ein einziger jiddischer Ausdruck schlich sich in seine Rede ein.

    Die Eltern meines Vaters, Großmutter Sara und Großvater Szmul Ratajzer, genannt »der schwarze Szmul«, wohnten nicht weit von uns entfernt. Mein Vater, Cwi, war eines von neun Kindern. Für seinen Lebensunterhalt betrieb Großvater Szmul im Hause von Großvater Jakob ein Geschäft, aber für seine Seele diente er als Kantor und Vorsteher der Synagoge. Das hinderte ihn jedoch nicht, eine freie, d.h. nichtreligiöse Zeitung zu lesen, in der er sogar den Fortsetzungsroman las, der für die jüdische Hausfrau bestimmt war. Als mein Onkel Eliasz ihn einmal fragte, wie er als religiöser Jude Romane lesen könne, antwortete er: »Es ist gut, alles zu kennen.« Meine Beziehung zu Großvater Szmul beruhte auf »den Dingen des Geistes«, er half mir beim Lernen, vor allem in Mathematik; mit seiner Hilfe löste ich jede Aufgabe. Das Verhältnis zwischen den Verwandten aus beiden Familien war gut. Wir wohnten nah beieinander, die Kinder spielten zusammen. Die Großmutter meines Vaters wohnte am Stadtrand von Warschau, in Powisle – in den Augen der Juden ein Unterweltviertel. Urgroßmutter hatte dort – man höre und staune – eine Kneipe, von der sie lebte. Sie war fast die einzige Jüdin mitten im gojischen Wohnviertel. Betrunkene, Streit und Raufereien waren dort ein gewohnter Anblick. Sowohl der Krankenwagen als auch die Polizei waren häufige Gäste. Selbstverständlich geschahen diese Dinge am häufigsten samstags und sonntags, was nicht heißen soll, dass wochentags eine »vergeistigte Atmosphäre« herrschte. Wenn ich zusammen mit meinem Vater seine Großmutter besuchte, fragte sie mich immer: »Du möchtest doch bestimmt keinen Kuchen haben, oder?« Ich begriff sofort, was ich zu antworten hatte, und tatsächlich kann ich mich bei meiner Urgroßmutter nicht an Kuchengeschmack erinnern.

    Vater, ein bärtiger Jude, versah an den hohen Feiertagen in der Synagoge das ehrenvolle Amt des Vorbeters. Er war ein Chassid, während Szmul, sein Vater, ein Gegner des Chassidismus, ein Mitnaged, war. Ich kann mich noch daran erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich mit meinem Vater zu Rabbi Kalonymus Szapiro, dem Rabbiner aus Piaseczno, ging. Dieser Rabbiner predigte jede Woche, auch während der Kriegsjahre und auch im Ghetto. In seinem Testament hat er darum gebeten, seine Predigten (die aufgeschrieben worden waren) in Israel zu veröffentlichen. Und tatsächlich hat sein Neffe, der Sohn seines Bruders, sie gefunden und in Jerusalem herausgegeben. Vater und ich sind manches Mal zu seinen Predigten gegangen. Als die Verfolgung der Juden immer schlimmer wurde und es für die Juden kaum noch möglich war, sich auf der Straße zu bewegen, schickte mein Vater mich einige Male (ich war damals noch ein kleines Kind) zum Rabbiner, um ihm Geld zu bringen, das mein Vater für ihn gesammelt oder selbst gespendet hatte. Manchmal kam ich auch zum Rabbiner, nur um ihn etwas zu fragen. Er empfing mich dann sofort, ohne mich warten zu lassen – was damals sehr unüblich war. Rabbi Kalonymus Szapiro war ein angesehener und hochgeachteter Mensch, eine ehrwürdige Gestalt.

    In unserer Gegend wohnten nur wenige jüdische Familien. Der Großteil der Bewohner des Viertels waren Fabrikarbeiter. An Sonntagen herrschte in unserer Umgebung ein wildes Durcheinander – Betrunkene lagen in den Straßen, es gab Streitereien und Schlägereien. Die Luft war vom Lallen, Geschrei und Gesang der Betrunkenen erfüllt. Gleichaltrige jüdische Kinder gab es in der Nachbarschaft kaum, und so war der Großteil meiner Spielkameraden nichtjüdisch. Sie kamen zum Spielen auch zu mir nach Hause. Wir spielten Fußball oder gingen in der Weichsel schwimmen. Später, als ich an der jüdischen Schule war, passierte es öfter, dass polnische Kinder die jüdischen Kinder auf dem Schulweg überfielen. Ich machte den Vorschlag, immer in Gruppen zu gehen, so fühlten wir uns sicherer. Wir rannten nie weg vor diesen gojischen Lümmeln und erwiderten ihren »Krieg« mit Schlägen und Steinen. Einmal wurde ich mit einem Messer angegriffen. Es streifte mich aber nur leicht am Kopf und ich wurde nicht ernstlich verletzt. Weder damals noch später bin ich je vor einem Angriff weggelaufen. Unsere Wohnung in der Nowosielecka-Straße 8 war klein, sie bestand aus zwei Zimmern und einer Küche. Das Haus selbst war groß, vierstöckig, hatte ein Vorderhaus, zwei Seitenflügel, ein Hinterhaus und in der Mitte einen Hof. Außer der Familie meines Großvaters Szmul und unserer Familie wohnten hier nur Polen.

    1934 zogen wir in die Podchorążych-Straße 24 um. Auch hier wohnte die ganze Sippschaft zusammen, aber in dieser Wohnung ging es uns materiell etwas besser. Meine Eltern hatten ein nichtjüdisches Dienstmädchen – Zeichen des sozialen Aufstiegs und ihrer guten wirtschaftlichen Lage. Meine Eltern führten einen Laden für Farben, Petroleum, verschiedene Baumaterialien und Kurzwaren. Fast alle Kunden waren Polen, also Nichtjuden. Das Verhältnis zwischen ihnen und meinen Eltern war gut, vor allem zu meiner Mutter, die eine sehr schöne Frau und zu allen warmherzig war. Die Polen pflegten zu sagen, sie sehe nicht wie eine Jüdin aus, und fragten oft: »Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Juden zu heiraten?«

    Im Innenhof unseres Hauses hatte ich einen kleinen Garten angelegt. Ich zog dort Blumen mit einem besonderen Duft – Levkojen. Diese Blumen öffneten sich am Nachmittag und strömten dann ihren angenehmen, leichten Duft aus. Vor einigen Jahren stieg plötzlich aus meiner Erinnerung dieser Geruch hoch. Ich bat Bekannte aus Polen, mir von dort Levkojen-Samen zu schicken, jedoch endeten meine Versuche, sie in meinem Jerusalemer Garten zum Blühen zu bringen, erfolglos. So bleibt mir nur die Erinnerung. In diesem Haus wurde meine Schwester Raja geboren. Kurz vor der Entbindung schickte man mich die polnische Hebamme holen. So kam es, dass ich zu Hause war, als meine Schwester geboren wurde. Vielleicht fühlte ich mich ihr deswegen besonders verbunden und ging oft mit ihr spazieren, als sie klein war.

    Mein Schülerdasein fing im Cheder an. Dort lernte ich die Thora und die Gebete. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich mit dem Lehrer Streit bekam. Ich lief weg. Der Lehrer, der sich für mich verantwortlich fühlte, schickte die anderen Kinder hinter mir her, um mich zu suchen und zurückzubringen. Als sie unsere Straße erreichten, hetzte ich meine Freunde, die polnischen Kinder, gegen sie auf, und diese nahmen die Gelegenheit wahr, die jüdischen Kinder zu verprügeln, und vertrieben die »Jidden« zurück in ihren Cheder. Ich wurde in die Grundschule geschickt, die zur jüdischen Gemeinde gehörte. Es war eine staatlich anerkannte Schule, obwohl dort samstags kein Unterricht stattfand und ein Mal die Woche zusätzlich Hebräisch-Unterricht erteilt wurde. Der Lehrer in diesem Fach war ein Jude namens Malecki. Ein anderer Lehrer, Herr Joselewicz, ging sehr streng mit uns um. Es war eine moderne Schule, sowohl architektonisch als auch im Unterrichtskonzept: Jungen und Mädchen wurden zusammen unterrichtet.

    Ich war ein guter Schüler. Ich liebte die Mathematikstunden und genoss es besonders, wenn ich meinen Klassenkameraden komplizierte Aufgaben an der Tafel erklären durfte. In der Schule gab es sehr viele nette und hübsche Mädchen, die zu meinem Glück etwas weiter weg wohnten, sodass ich sie öfter ein ganzes Stück nach Hause begleiten konnte. Vor meiner Bar-Mizwa 1937 bestand ich darauf, von meinem Vater die typische chassidische Kleidung – einen langen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut – zu bekommen. Das mag am Einfluss meiner religiösen Freunde gelegen haben. Aber mein Vater gab nach, und so begann ich mein 13., mein Bar-Mizwa-Jahr in schwarzer Kleidung und mit Schaufäden (Tzitzit). Nach der Bar-Mizwa-Feier habe ich diese Kleidung nicht mehr angezogen. Diese Schule besuchte ich bis zum Ende der siebten Klasse.

    Zur gleichen Zeit, ungefähr als ich zwölf war (auf jeden Fall vor meiner Bar-Mizwa-Feier), beteiligte ich mich das erste Mal an den Aktivitäten der chaluzischen Jugendbewegung Hanoar Hatzioni (Die zionistische Jugend). Als ich im Sommer in ein Ferienlager mitfuhr, sorgte mein Vater dafür, dass ich die Tefilin – die Gebetsriemen – mitnahm, jedoch rührte ich sie kein einziges Mal an, solange ich dort war. Es war das einzige Ferienlager dieser Jugendbewegung, an dem ich teilnahm. Einer der Leiter, Simcha Szyrczky, beeindruckte mich damals besonders. Wir gingen wandern, sangen gemeinsam Lieder, zelteten und hörten Vorträge über die zionistische Bewegung und über Erez Israel. Als einer meiner Freunde und seine Familie, die Steins, 1938 nach Israel auswanderten, machte das auf uns alle großen Eindruck. Die Briefe und Bilder, die dieser Freund mir bis zum Kriegsausbruch schickte, ließen meine eigenen Auswanderungspläne realistischer werden.

    Ein Jahr vor Kriegsausbruch wechselte ich auf die Fachoberschule der jüdischen Gemeinde in der Grzybowska-Straße 26.

    Die Deutschen erobern Warschau — verschüttet unter Trümmern

    An dem Tag, an dem der Krieg ausbrach, war ich in der Stadt. Ich war wohl auf dem Weg zur Schule, als wir plötzlich das Brummen von Flugzeugmotoren hörten. Die Straßenbahn blieb stehen. Manche Leute sagten, die Stadt werde bombardiert, andere behaupteten, es seien Manöver der polnischen Luftwaffe. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, dass es ein deutscher Angriff und dass der Krieg ausgebrochen war.

    Schon in den ersten Tagen wurden die Lebensmittel knapp. Man fing an, Gräben auszuheben und Barrikaden zu bauen. In den Straßen tauchten Soldaten in zerrissenen Uniformen auf, Überlebende der Einheiten an der zusammenbrechenden Front. Die Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag, Panik und Niedergeschlagenheit nahmen zu. Meine Eltern beschlossen, unsere Wohnung in der fast ausschließlich polnischen Umgebung zu verlassen und in eine stärker jüdische Gegend umzuziehen. Es war sehr schwer, Brot aufzutreiben, deswegen kehrte ich täglich in unser früheres Wohnhaus zurück, wo ein Volksdeutscher, ein Freund meines Vaters, wohnte, der uns ohne Beschränkung Brot lieferte. Die Bombardierungen nahmen zu, und immer öfter erkannte ich nur mit Mühe einen Ort wieder, an dem ich erst gestern vorbeigegangen war, weil aus den Häuserreihen Ruinen geworden waren. Am stärksten waren die jüdischen Viertel und das Stadtzentrum betroffen. Daher beschlossen meine Eltern, in unsere alte Wohnung zurückzukehren, in der Hoffnung, dort wäre es ruhiger. Aber das Unheil erreichte bald auch uns. Ich erinnere mich, dass unser Haus bei der Bombardierung einen Tag nach Jom Kippur getroffen wurde. Wenn ich mich nicht irre, geschah es drei Tage vor der Kapitulation Warschaus.

    Das Haus wurde von zwei 500-Kilo-Bomben getroffen (so wurde mir später erzählt), eine von ihnen war ein Volltreffer. Viele der Hausbewohner starben oder wurden verletzt. Unter den Toten waren mein Großvater Jakob und meine Großmutter Sara (die Eltern meiner Mutter), meine Tante Hannah (die Schwester meiner Mutter), der Ehemann meiner Tante Zosia, eine Cousine und mein Bruder Izrael. Er war damals 15 Jahre alt. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, wurde mir klar, dass

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1