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Gute Unterhaltung: Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte
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Unbeobachtet findet Unterhaltung heute ihren Weg aus Brettspielen und Fernsehsendungen in alle Bereiche unseres Alltags und wird zum machtvollen Modus der Kommunikation. Wie ist dieses Phänomen zu deuten und woher stammt die weitverbreitete Unterhaltungsfeindlichkeit im abendländischen Denken? In seinem weitsichtigen und originellen Essay liest Byung-Chul Han die zahlreichen Ausgestaltungen von Unterhaltung ausgehend von der christlichen Passionsgeschichte als Anti-Emanzipation in der okzidentalen Philosophie: ob Gottlosigkeit, schlechte Kunst, Unmündigkeit, politische Unterwerfung oder Entfremdung, Unterhaltung wird als Symptom verschiedensten Unheils gezeichnet. Von Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger über Adorno, Luhmann bis hin zu Rauschenberg – "Gute Unterhaltung" ist ein faszinierendes Poesiealbum der Ideengeschichte.
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Book preview
Gute Unterhaltung - Byung-Chul Han
nachzugehen.
Süßes Kreuz
Von dir, Quell aller Güter,
Ist mir viel Gut’s getan.
Dein Mund hat mich gelabet
Mit Milch und süßer Kost,
Dein Geist hat mich begabet
Mit mancher Himmelslust.
Matthäus-Passion, Johann Sebastian Bach
Als die Matthäus-Passion am Karfreitag des Jahres 1727 in der Thomaskirche zu Leipzig erstmals erklang, gerieten alle, so wird in einer Chronik überliefert, in die »größte Verwunderung«. »Hohe Ministri und Adeliche Damen« sahen einander an und sagten: »Was soll daraus werden?« Vor Entsetzen schrie eine fromme Witwe auf: »Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre«. So berichtet ein gewisser Gerber in seiner »Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen«.¹ Gerber, der ohne Weiteres ein strenger Kantianer hätte sein können, missbilligt die zunehmende Ausbreitung der Musik im Gottesdienst. Er bedauert, dass es »Gemüther« gebe, die »an solchen eiteln Wesen« ein Wohlgefallen hätten, die also »sanguinisch und zur Wollust geneigt« seien. Musik und Passion vertrügen sich nicht: »Ob nun wol eine mäßige Music in der Kirche bleiben kan, […] so ist doch bekannt, daß sehr offt damit excediret wird, und man wol mit Mose sagen möchte: Ihr machts zu viel, ihr Kinder Levi, 4. B. Mos. 16. Denn es klinget offt so gar weltlich und lustig, daß sich solche Music besser auf einen Tantz-Boden oder in eine Opera schickte, als zum Gottesdienste. Am allerwenigsten will sich die Music nach vieler frommer Hertzen Meynung zur Passion, wenn solche gesungen wird, schicken«.²
Zu theatralisch und opernhaft muss die Matthäus-Passion auch auf die Leipziger Ratsherren gewirkt haben. Ihre Aufführung verschärft die ohnehin bestehende Spannung zwischen ihnen und Bach. So fasst der Rat den Beschluss, Bach das Gehalt zu kürzen. In der Anstellungsurkunde, die Bach als »Cantor der Schule zu St. Thomae« unterschrieb, heißt es: »In Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen, die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zu lang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere«.³ Diese bemerkenswerte Klausel zum Kantorenamt verweist auf die zunehmende Hybridisierung der geistlichen Musik durch die weltliche. Langsam löst sich die geistliche Musik aus dem liturgischen Zusammenhang und nähert sich der bürgerlich-modernen Konzertmusik: »Mit solcher Durchdringung der Kirchenmusik mit Bestandteilen des ›theatralischen‹ Stiles der weltlichen Kantate und der Oper, die von den Pietisten heftig bekämpft […] wurde, war dem musikalischen Gestalten ein Weg gewiesen, an dessen Ausgang das Musikideal der Gluckschen Oper und des Haydnschen Oratoriums aufleuchtet«.⁴
Auf der einen Seite wird das Musikleben der Bachzeit zunehmend von der welschen Leichtigkeit, vom Sinnenrausch, vom satten, üppigen Wohllaut beherrscht. »Kenner« und »Liebhaber« bilden das neue Musikpublikum. Diesem geht es primär um Genuss und Geschmacksbildung. Auf der anderen Seite erheben sich, auch im Kreise der Lutherischen Orthodoxie, kritische Stimmen gegen die Kunstmusik im Gottesdienst. Von der pietistischen Bewegung geht eine rigorose Musikfeindlichkeit aus. Geduldet werden nur fromme Lieder, die zu einer eingängigen Melodie still und innig gesungen werden. Die Musik soll das Wort nicht überfluten, darf keine Eigenmacht entfalten. Gerber beruft sich auf Dannhauer, der der Lehrer des Pietismusbegründers Philipp Jacob Spener war: »Die Instrumental-Music achten und halten wir nicht höher, als daß sie eine Zierde unserer Kirche sey, keinesweges aber zum Wesen des Gottesdienstes gehöre. Eben dieser grosse Theologus verwirfft auch die eingeführte Gewohnheit, daß man mit Stimmen unter die Instrumental-Music singet, weil doch die Worte so gesungen werden, niemand recht verstehen kan, wenn die Instrumenten dabey thönen und brausen […]«.⁵ In dem Glauben, die Ausbreitung der Kirchenmusik sei wohl nicht aufzuhalten, empfiehlt Gerber seinen Lesern, den »guten Seelen«, sie »in Gedult« zu »ertragen« und »an dem Gottesdienst keinen Eckel« zu empfinden.⁶
Am liebsten hätte Gerber alle Orgeln aus der Kirche entfernt: »Ja man hat auch an einer Orgel nicht genug, sondern es müssen in mancher Kirche derselben zwey seyn, daß man wol sagen möchte: Wozu taugt dieser Unrath«.⁷ Der Gebrauch der Orgel ist Gerber zufolge auf die Funktion zu reduzieren, beim Singen den Ton auf der richtigen Höhe zu halten, damit die Lieder überhaupt zu Ende gesungen werden können: »Die Orgeln sind auf gewisse Masse in einer Kirche gar nützlich, denn sie dienen dazu, daß die Lieder im rechten Thone angefangen, und auch in einen Thone fortgesungen und zu Ende gebracht werden. Denn es sonst leicht geschicht, daß der Vorsänger, Cantor oder Schul-Meister den Thon fallen lassen, und unterziehen, und das Lied kaum kan zu Ende gebracht werden«.⁸ So wird der Orgel jeder ästhetische Eigenwert genommen. Das Brausen der Instrumente erschwert nur das Verständnis des Textes. Die Instrumentalmusik soll dezimiert werden zuguns ten des Wortes: »[D]er Gottesdienst bestehet in Beten, Singen, Loben und Anhörung oder Betrachtung des Göttlichen Wortes, wozu Orgeln und andere musicalische Instrumenta nicht vonnöthen seyn, die erste Christliche Kirche auch zwey bis dreyhundert Jahr dergleichen nicht gebrauchet hat«.⁹
Die Kirchenmusik ist also eine bloße »Zierde«. Sie ist dem »Wesen des Gottesdienstes« äußerlich. Gerber beruft sich auf Theophil Großgebauer, der in seiner fundamentalistischen Musikfeindlichkeit den Pietisten nahe steht. Zitiert wird aus seiner von prophetischem Eifer erfüllten Schrift »Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661): »[D]ie musicalischen Spiele belustigen mehr das Gemüth, als daß dadurch innerlich das Hertz solte zu göttlichen Dingen geordnet werden«.¹⁰ Die Musik ist das Äußerliche, vor dem das Innerliche in Schutz genommen werden muss: »O spricht nicht der Heyland ausdrücklich, das Reich Gottes komme nicht mit äuserlichen Geberden, sondern es sey inwendig in uns«?¹¹ Die Musik wird hier degradiert zu einer Beigabe, zu einer »sinnlichen Würze«, die der »eigentlichen Speise des Wortes« äußerlich ist wie der »Zucker«, der die »Göttliche Artzney« »durchsüsset«.¹²
Problematisch ist die strikte Trennung zwischen dem Innerlichen und dem Äußerlichen, zwischen Herz und Gemüt, zwischen Wesen und Zierde oder zwischen Speise und Würze. Gehört etwa die Würze nicht wesenhaft zur Speise? Gäbe es nicht ein göttliches Wort, das, statt eine bittere »Artzney« zu sein, als solches schon süß wäre? Dem »Schmecken« der mystisch gestimmten Seele offenbart sich Gott nämlich als »höchste Süssigkeit«.¹³ Wie aber dann zwischen der Süße Gottes und der Süße der Musik unterscheiden?
Die Pietisten bekämpften zwar den Tanz. Aber die Melodien ihrer frommen Lieder waren paradoxerweise auffallend tänzerisch. Einige dieser Lieder klangen wie Menuette. So bemerkt ein selbst ernannter »Liebhaber des reinen Evangelii und Freund der gesunden Theologie« spöttisch, dass diese pietistischen Lieder sich »mehr zum Tanz als zur Andacht« schickten, »daß man sich muß lassen vorrücken, es werde ein neues Lied nach der Melodie gesungen, da der Groß-Vater die Groß-Mutter nahm«.¹⁴
Gegen das »Gepräng und Gethön«, das das »arme Volck« bezaubert,¹⁵ unterstreicht Großgebauer immer wieder den Vorrang des Wortes. Gottes Wort allein lässt die göttliche Freude entstehen. Es ist eine »Weißheit«, so Großgebauer, »Gottes Wort in schöne Psalmen [zu] bringen / und in anmuthigen Melodeyen das Wort Gottes durch die Ohren ins Herz ein[zu]flössen«. Keine göttliche Freude spende dagegen jene »scheußliche Weibische Göttin Cybele«, die »das Gethön der Seyten-Spiel so freudig« machte, »daß sie ihr eigen Blut vergoß«.¹⁶ Die phrygische Tonart, die Tonart der Ekstase und Leidenschaft, verweist auf die orgiastische Musik des Kybele- oder Dionysoskultes. Abscheulich wäre für Großgebauer eine kybelische Musik im Gottesdienst, die zur Ekstase und Wortvergessenheit führen würde. Er distanziert sich jedoch nicht konsequent von jeder Trunkenheit. Diese kehrt wieder. Wie ein »süßer Wein« sollen nämlich die Psalmen den »Geist« trunken machen: »Gleich wie Trunckenbolde voll Weins werden / also muß die Gemeine [sc. Gemeinde] voll Geistes werden. Was gibt uns der Apostel für Mittel an die Hand / daß wir voll Geistes werden können? Nichts anders als Psalmen / Lob-Gesänge geistliche Lieder. Das ist der süsse Wein / den die Gemeine trincken muß / will sie voll Geistes werden«.¹⁷ Wie aber zwischen der Trunkenheit des Geistes und der des Gemüts unterscheiden? Besteht tatsächlich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Wort- und Musiktrunkenheit, zwischen göttlichem und weltlichem Wein? Gott – ein Synonym für die absolute Ergötzung? Die pietistische Sängerin Anna Maria Schuchart, die bekannt ist für ihre Ekstasen und Visionen, soll, erwacht aus einer »Erstarrung im Tiefschlaf«, gesungen haben:
Sie seyn schon im Himmel hier
Sollen allzeit trincken
Christi Blut
Ihnen zu gut
An dem Creutz vergossen
Aus Christi Wunden geflossen.
[…]
Sieh die schönsten Freuden
Im Himmel solstu weiden.
[…]
Wenn die Welt versuncken ist
In der Abgrunds=Höllen
Kommt gezogen Jesus Christ
will die Frommen holen.
Aus der Welt
In sein Zelt
Und die Cron aufsetzen
Ewig sie ergetzen.¹⁸
Die Aufgabe bestünde laut Großgebauer also darin, das heilige Blut, das Blut Christi, und das Blut Kybeles nicht zu vermischen. Sie sind aber vom Geschmack her einander so ähnlich. Sie sind nämlich beide süß. Und sie machen beide trunken.
»Sanguinisch und zur Wollust geneigt« sind Gerber zufolge Freunde der Kunstmusik im Gottesdienst. Der Librettist
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