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Der Fall Lizzie Borden: Amerikas berühmtester Mordfall des 19. Jahrhunderts
Der Fall Lizzie Borden: Amerikas berühmtester Mordfall des 19. Jahrhunderts
Der Fall Lizzie Borden: Amerikas berühmtester Mordfall des 19. Jahrhunderts
Ebook498 pages4 hours

Der Fall Lizzie Borden: Amerikas berühmtester Mordfall des 19. Jahrhunderts

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About this ebook

Der Fall von Lizzie Borden ist einer der berühmtesten Doppelmorde in der amerikanischen Geschichte, der die Amerikaner auch heute noch beschäftigt.
Am 4. August 1892 werden der schwerreiche Fabrikant Andrew Borden sowie seine zweite Frau Abby Borden mit mehreren Axthieben bestialisch ermordet. Außer der jüngsten Tochter Lizzie und der Dienstmagd Bridget war zum Tatzeitpunkt niemand im Haus. Doch angeblich hat keine der beiden etwas gesehen oder gehört. Lizzie Borden wird schließlich der Prozess gemacht, doch sie wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zu Recht?
War sie es? Hat sie den perfekten Mord begangen? Oder war sie es nicht? Aber wer war es dann? Viele Verdächtige, zwielichtige Zeugen, schlampige Polizeiarbeit und die Missachtung üblicher juristischer Verfahrensweisen geben dem Fall zusätzlich einen seltsamen Anstrich.
Was ist damals in Fall River, Massachusetts wirklich geschehen?
Das Buch versucht, den Fall umfassend darzustellen und Lösungen dafür anzubieten, was sich damals zugetragen hat. Folgen Sie der Autorin auf der faszinierenden Spurensuche eines der berühmtesten Fälle der Kriminalgeschichte.
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateDec 6, 2017
ISBN9783740738280
Der Fall Lizzie Borden: Amerikas berühmtester Mordfall des 19. Jahrhunderts
Author

Daniela Mattes

Daniela Mattes, geb. 1970, Diplom-Verwaltungswirtin (FH) hat ihre schriftstellerische Laufbahn 2005 begonnen. Seither ist sie praktisch in jedem Genre vertreten und hat neben Zeitungsartikeln auch in verschiedenen Verlagen Kinderbücher, Fantasybücher, historische Romane und esoterische Bücher veröffentlicht. Für den Ancient Mail Verlag hat sie bereits einige Bücher ins Deutsche übersetzt.

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    Book preview

    Der Fall Lizzie Borden - Daniela Mattes

    „Lizzie Borden took an axe,

    And gave her mother forty whacks,

    When she saw what she had done,

    She gave her father forty-one."

    Die Überlieferung besagt, dass dieser Vers von einem anonymen Verfasser verwendet wurde, um mehr Zeitungen zu verkaufen.

    In Wirklichkeit hat Lizzies Stiefmutter nur 18 oder 19 Schläge abbekommen und ihr Vater 10 oder 11. Außerdem wurden sie mit einem Beil getötet und nicht mit einer Axt.

    Abb. 1: Lizzie Borden, 1889

    Inhalt

    Vorwort

    Teil I Hintergründe

    Der Fall im Überblick

    Zeitungsberichte 1892

    Historischer Hintergrund

    Die Geschichte der Familie Borden

    Teil II Der Ablauf der Ereignisse

    Chronologischer Ablauf

    TEIL III Die Hauptverdächtigen

    Die Hauptverdächtigen im Falle Borden

    TEIL IV Das Verfahren

    Die Tage bis zum ersten Verhör

    Beginn der formellen Untersuchung

    Die Polizeiarbeit und die Presse während der verhandlungsfreien Zeit

    Preliminary Hearing

    Die Zeit bis zum Prozess

    Der Prozess des Jahrhunderts

    TEIL V Nach dem Prozess

    Lizzies Leben in Maplecroft

    Emma

    Was geschah mit den anderen?

    Theorien und Legenden

    TEIL VI Der Fall aus heutiger Sicht

    Was sagen Mindhunter des FBI über den Fall Lizzie Borden?

    Wie würde die Polizei den Fall 2017 klären?

    Welche Hinweise ergeben sich heute nachträglich aus forensischer Sicht?

    War Lizzie geisteskrank?

    TEIL VII Die Lösung des Falles

    Die Suche nach dem Motiv

    Die Suche nach dem Mörder

    TEIL VIII Das Borden-Haus heute

    Nachwort

    Quellen

    Über die Autorin

    Vorwort

    Es gibt auf der ganzen Welt unheimliche, ungeklärte, spektakuläre und mysteriöse Mordfälle. Der Fall von Lizzie Borden ist einer der berühmtesten Doppelmorde in der amerikanischen Geschichte, der sogar in einem Kinderreim (siehe vorige Seiten) verewigt wurde.

    Der Fall treibt die Amerikaner immer noch um. Das ehemalige Haus von Lizzie Borden ist heute ein Museum inklusive „Bed & Breakfast". Hier werden regelmäßig Touren angeboten und die Übernachtungsgäste gruseln sich, weil sich anscheinend die ruhelosen Geister der Toten noch in den beinahe im Originalzustand belassenen bzw. derart wiederhergestellten Räumlichkeiten herumtreiben.

    Warum genau ist der Fall aber so spektakulär? Er spielte sich in der High Society ab und bezichtigte eine junge, kirchlich engagierte Frau aus reicher Familie und mit einwandfreiem Leumund einer grauenhaften Tat: dem bestialischen Mord an ihrer Stiefmutter und ihrem Vater.

    Nicht nur, dass Elternmord an sich schon besonders schrecklich ist, nein, es ist auch die Art und Weise, wie sie gemordet hat. Zwar nicht wie in dem überlieferten Kinderreim mit 40 Schlägen, aber dennoch mit 11 und 19. Die Toten wurden in blankem Hass oder rasender Wut geradezu hingerichtet.

    Trotz mehrerer Hinweise auf weitere Verdächtige hat sich die Obrigkeit schnell auf Lizzie als Täterin eingeschossen. Juristen bemängeln auch heute noch, dass die Polizeiarbeit und Spurensuche keine Glanzleistung war und außerdem einige Verfahrensgrundsätze missachtet wurden. Einen derartigen Ablauf der Falluntersuchung und des Gerichtsprozesses würde es heute nicht geben.

    Aus Mangel an Beweisen wurde Lizzie schlussendlich freigesprochen, aber die Bevölkerung von Fall River war sich nicht sicher, ob sie nicht doch die Täterin war. Die Morde hafteten ihr ein Leben lang an und sind auch heute noch Mittelpunkt vieler Spekulationen.

    War sie es? Hat sie den perfekten Mord begangen? Oder war sie es nicht? Aber wer war es dann? Mit dem Abschluss des Prozesses und ihrem Freispruch verfolgte die Polizei auch keine anderen Spuren mehr, und wenn es einen anderen Täter als Lizzie gab, so ist er mit einem Doppelmord straffrei davongekommen.

    Diese Fragen machen für viele Menschen den Reiz aus und den Antrieb, das Geheimnis schlussendlich zu lösen und den Täter zu finden. Dies wird vermutlich niemals gelingen, weil die Akten unvollständig überliefert sind, die damalige Presse teilweise hanebüchene Berichte über den Fall abgedruckt hat (und auch einen besonders spektakulären rufschädigenden Bericht widerrufen musste) und man beim Durchlesen der Prozessabschriften unweigerlich zu dem Schluss kommt, dass irgendwie alle Beteiligten, seien es Zeugen oder Polizisten, nicht alles gesagt haben, was sie wussten oder auch einfach gelogen haben.

    Der Tote war ein schwerreicher Mann und aus seiner Hinterlassenschaft war es den Kindern (Emma und Lizzie) problemlos möglich, die besten Anwälte zu bezahlen, die man bekommen konnte – oder auch Zeugen zu bestechen??

    Werfen Sie mit mir nun einen Blick auf die Hintergründe des Falles, auf die Abläufe und Zeugenaussagen sowie auf die mögliche Lösung des Falles.

    TEIL I

    HINTERGRÜNDE

    Abb. 2: Karte von Massachusetts

    Massachusetts: In dem Neu-England-Staat siedelten die ersten Einwanderer, die mit der „Mayflower" ankamen. Und in der Stadt Salem fanden die berühmten Hexenprozesse statt. Außerdem spielte der Staat eine wichtige Rolle bei der industriellen Revolution. Massachusetts war auch einer der Staaten, in denen die Abolitionisten vorherrschten und außerdem eine der 13 Kolonien, die sich in der Amerikanischen Revolution gegen die britische Herrschaft auflehnten.

    1. Der Fall im Überblick:

    Es ist der 4. August 1892, ein heißer Sommertag, und wir befinden uns in Fall River, einer Stadt in Bristol County, Massachusetts, USA. Sie liegt am östlichen Ufer des Mount Hope Bay an der Mündung des Taunton Rivers.

    An jenem Tag im August 1892 ereignete sich einer der aufsehenerregendsten Doppelmorde der amerikanischen Geschichte, als Andrew Borden, Millionär, Textilfabrikant und Präsident der Union Savings Bank mit 11 Axthieben auf den Kopf bzw. ins Gesicht erschlagen wurde. Kurz zuvor war seine zweite Frau Abby Borden im Gästezimmer des Hauses mit 18 Schlägen ebenfalls getötet worden.

    Außer der jüngsten Tochter Lizzie und der Dienstmagd Bridget war zum Tatzeitpunkt niemand im Haus. Daher gab es vorrangig zwei Verdächtige. Da Lizzie zumindest ein Motiv hatte, wurde ihr der Prozess gemacht, doch aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Zu Recht?

    Bis heute ist unklar, was damals tatsächlich geschah. Trotz verdächtiger und widersprüchlicher Aussagen der Beklagten, die sie zur offensichtlich Verdächtigen machten, konnte ihr die Schuld nicht nachgewiesen werden, da die Jury sich einfach nicht vorstellen konnte, wie die vergleichsweise schwache und auch unauffällige Frau mit einer derartigen Brutalität ihren Vater und ihre Stiefmutter ins Jenseits befördert haben konnte.

    Doch offenbar war sie die einzige Person, die sich zur fraglichen Zeit im Haus aufhielt. Oder hat man nur damals nicht akribisch genug geforscht? Die Möglichkeiten der Polizei und der Forensik waren natürlich 1892 noch nicht so gut wie heute, könnten sich also Fehler bei der Ermittlung eingeschlichen haben? War ein anderer Täter raffiniert genug, die Morde der jungen Lizzie in die Schuhe zu schieben? Oder gab es sogar eine Gemeinschaft von Tätern, die sich gegenseitig deckten?

    Die Tageszeitung von Fall River führt online am Freitag, 02.08.2013 anlässlich des Jahrestages der Ereignisse ganz sparsam einige zentrale Höhepunkte auf (Anmerkungen in Klammern stammen von der Autorin):

    1892, 2./3. August – Am Tag vor der Tat

    00:00 Uhr: Die Eheleute Borden sind (plötzlich) um Mitternacht krank. (Abby Borden vermutet, dass jemand sie vergiften will, und sucht den Hausarzt auf)

    13:30 Uhr: John Vinnicum Morse, der Bruder von Lizzies verstorbener Mutter und einer der Verdächtigen, trifft (überraschend und unerwartet) um 13:30 Uhr ein.

    19-21 Uhr: Lizzie spricht mit der Nachbarin Alice Russell (darüber, dass sie Angst hat, dass jemand ihr oder ihrem Vater etwas antun will).

    1892, 4. August – Am Tag der Tat

    7:00 Uhr: Die Eheleute Borden frühstücken mit John Morse.

    8:45 Uhr: John Morse verlässt das Haus, kehrt erst um 11.30 Uhr zurück.

    8:50 Uhr: Lizzie kommt aus ihrem Zimmer herunter und frühstückt alleine (wie eigentlich immer, da sie ihrer Stiefmutter aus dem Weg geht).

    9:15 Uhr: Andrew Borden verlässt das Haus, um Besorgungen zu machen (er geht jeden Tag zur Bank und zur Post).

    9:30 Uhr: Abby Borden geht ins Gästezimmer, wo sie ermordet wird.

    10:45 Uhr: Andrew Borden kehrt (früher als üblich) zurück, weil er sich nicht wohlfühlt.

    11:05-11:10 Uhr: Lizzie informiert die Magd Bridget (die sich in ihrem Zimmer ausruhte), dass ihr Vater ermordet wurde. (Sie schreit panikartig nach ihr und schickt sie sofort nach dem Hausarzt Dr. Bowen).

    2. Zeitungsberichte 1892

    „Pittsburg dispatch", August 05, 1892

    Fall River, Mass., Aug. 4 – Andrew J. Borden, the millionaire mill

    owner and his aged wife were murdered in their home today, just before

    noon, and although there were other members of the family on

    the premises at the time, they heard no sound and the murder escaped

    without leaving a clue, so far as is known, although his clothing must

    have been covered with the blood of his victims (…)

    04. August 1892 The Fall River Herald

    SHOCKING CRIME

    A VENERABLE CITIZEN AND HIS AGED WIFE

    HACKED TO PIECES THEIR HOME.

    MR. AND MRS. ANDREW BORDEN LOSE THEIR LIVES

    AT THE HANDS OF A DRUNKEN FARM HAND.

    POLICE SEARCHING ACTIVELY FOR THE FIENDISH MURDERER.

    05. August 1892 The Fall River Herald

    THURSDAY'S AFFRAY

    NO CLUE AS YET TO ITS PERPETRATOR.

    POLICE WORKING HARD TO REMOVE THE VEIL OF MYSTERY THAT ENVELOPS THE AWFUL TRAGEDY.

    A POSTAL CARD THAT WOULD SERVE AS A LINK.

    „It was an impossible crime. But it was committed."

    Hosea Knowlton, District Attorney

    Abb. 3: Abby Bordens Leichnam, 04.08.1892

    Abb. 4: Der tote Andrew Borden, 04.08.1892

    3. Historischer Hintergrund

    Wie soll man einen solch komplexen Fall mit all seinen Widersprüchlichkeiten am besten darstellen?

    Die Autorin Victoria Lincoln („A private disgrace") sagt, dass man die Hintergründe bzw. einige Hintergründe nur verstehen kann, wenn man zu jener Zeit in Fall River aufgewachsen ist und mit den gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen vertraut war. Denn nur daraus ließen sich wichtige Rückschlüsse auf das Verhalten oder die Aussagen der Zeugen und Beteiligten ziehen.

    Sie selbst ist dort in der Nachbarschaft von Lizzie aufgewachsen und kannte sie sogar persönlich, genau wie andere Personen, die mit dem Fall zu tun hatten und die sie bei ihren Recherchen auch befragen konnte – was Autoren späterer Bücher in neuerer Zeit nicht mehr möglich war.

    Daher ist es nicht schlecht, wenn wir uns zunächst einen groben Überblick über den Ort und die Zeit verschaffen, an dem/zu der sich die Bluttat ereignet hat.

    Abb. 5: North Main Street, ca. 1910

    Die viktorianische Epoche

    und die Wohnsituation in Fall River

    Wir befinden uns in der viktorianischen Epoche, im Jahr 1892, in den Neuenglandstaaten von Amerika, genauer gesagt in Massachusetts. Hier in Fall River gilt die Familie Borden als eines der wichtigsten Gründungsmitglieder der Stadt, die ungefähr 8 Generationen zuvor aus dem Boden gestampft wurde. In Fall River herrscht die Baumwoll-/Textilindustrie vor und verbreitet sich geradezu explosionsartig.

    Abb. 6: Die erste Baumwollfabrik in Fall River, erbaut 1811

    Mit ihr steigt auch die Anzahl von Einwanderern massiv an. Die willigen Arbeitskräfte der Masseneinwanderung kamen in den 1870er Jahren hauptsächlich aus England, Irland, Kanada und Portugal, wodurch sich die Bevölkerung von Fall River innerhalb von ca. 20 Jahren ungefähr vervierfachte.

    Durch diesen Anstieg der Fremden, die zudem auf der sozialen Leiter sehr tief standen, fühlte sich die Elite von Fall River dazu berufen, sich von den „niedrigeren" Personen abzugrenzen.

    Abb. 7: Border City Mill Apartment. 1873 als Fabrik erbaut,

    kann man heute in dem historischen Gebäude wohnen.

    Die Elite (die sieben Gründerfamilien, darunter auch die Bordens) sonderte sich in den reicheren Teil der Stadt ab, wo sie nichts mit den Immigranten und ihrem schlechten Einfluss mitbekamen, denn sie fürchteten sich vor dem plötzlichen Anstieg der Kriminalität, der nicht nur sie selbst bedrohte, sondern auch die Jugend verderben und überhaupt den guten Namen der erfolgreichen Stadt beschmutzen würde.

    Das neue Domizil war der Stadtteil „The Hill". Hier wohnten nur die Reichsten und Besten in einer Spitzenlage mit Blick auf die Mount Hope Bucht und jeder Neureiche setzte sich zum Ziel, eines Tages ein Haus in dem Gebiet sein Eigen nennen zu können.

    Das Gefälle zwischen Reich und Arm oder auch zwischen dieser Elitegruppe und den Einwanderern oder den ärmsten Bürgern der Stadt war extrem und ließ sich am besten an den verschiedenen Stadtteilen ablesen, in denen die Menschen je nach Einkommensklasse hausten.

    Die Reichen hatten vor allem unbedingt Dienstboten zu haben, das war einfach unumgänglich. Zu diesem Zweck wurden die irischen Einwanderer bevorzugt, da sie eine strenge Erziehung genossen hatten und außerdem billig waren.

    Allerdings waren die Iren Katholiken, was für die protestantische Gesellschaft ein Problem darstellte – und die Iren außerdem zusätzlich noch minderwertiger dastehen ließ. Dieses schlechte Bild der Iren war auch ein Grund, warum die irische Dienstmagd Bridget Sullivan, die bei den Bordens arbeitete, eigentlich eine Vorzeigeverdächtige für den Mord gewesen wäre. Leider gab es dafür aber weder ein Motiv noch Beweise.

    Abb. 8: Das Academy Building (mit Theater), erbaut 1875 zu Ehren

    und als Erinnerung an Nathaniel Briggs Borden. (Foto von 1979)

    Das Haus der Bordens

    Abb. 9: Das Borden-Haus in der Second Street 92

    Wenn man sieht, wie die Reichen ihrer Ansicht nach zu wohnen hatten, und wo, dann wundert man sich darüber, dass unsere Bordens nicht in dem vornehmen oder „richtigen" Stadtteil lebten, sondern stattdessen an der viel befahrenen Durchgangsstraße in der Second Street in einem viktorianischen Doppelhaus. Und inmitten einer irisch-katholischen Nachbarschaft! Dies war gesellschaftlich keinesfalls angemessen.

    Für Andrew Borden war die Lage perfekt. Zum einen war er ohnehin geizig, weswegen ein preiswertes Haus durchaus ausreichend war (und das Haus dementsprechend mit abgewohnten Möbeln und fast ohne Luxus ausgestattet) und zum anderen war die Lage für ihn günstiger, da er in direkter Nähe zu seinen Fabriken lebte, was es ihm ermöglichte, diese mit einem kurzen Fußmarsch zu erreichen.

    Lizzie und Emma hätten sich lieber selbst auf „The Hill" gesehen und waren entsprechend unzufrieden mit der Wohnsituation. Lizzie stärker als Emma, sie war noch jünger und auch extrovertierter als ihre ältere Schwester.

    Abb. 10: Bank Street, Downtown Fall River, Massachusetts

    Das Haus war ursprünglich für zwei Familien gedacht, die jeweils ein Stockwerk bewohnen sollten. Doch Andrew Borden gestaltete das Haus nach seinen Bedürfnissen um. Die Anordnung war eigenwillig und ungewöhnlich, spielte aber für den späteren Ablauf (bei der Suche nach Ein- und Ausgängen für einen Mörder) eine Rolle.

    Das Haus besaß im ersten Stock die Küche, ein Wohn- und Esszimmer sowie einen Salon. Daneben gab es einen Raum oder eine Kammer für den Abwasch und einen für Lebensmittel.

    Im Obergeschoss lagen die Schlafzimmer von Lizzie, Emma, den Eheleuten Borden sowie ein Gästezimmer und unter dem Dach befand sich das Dienstbotenzimmer sowie ein weiteres Gästezimmer, das gelegentlich von einem Farmarbeiter genutzt wurde, wenn er für die Bordens kleinere Arbeiten zu erledigen hatte.

    Abb. 11: Das A. J. Borden Building in der South Main Street 91-111,

    wurde 1889 erbaut und ging nach seinem Tod auf Lizzie Borden über

    Die Zimmer gingen alle ineinander über und waren mehr oder weniger Durchgangszimmer mit vielen Türen. Besonders in der oberen Etage, wo die Schlafzimmer lagen, war dies ungünstig. Wenn man die Treppe nach oben ging, kam man vom Treppenabsatz nach links ins Gästezimmer, welches eine Verbindungstür in Lizzies Zimmer hatte, welches von der Treppe aus gesehen geradeaus lag.

    Von Lizzies Zimmer kam man linkerhand in Emmas Zimmer (welches früher Lizzies Zimmer gewesen war, aber die Schwestern hatten die Zimmer getauscht) und weiterhin nach hinten in das Zimmer der Eltern. Die Verbindungstüren waren jedoch geschlossen und von jeweils beiden Seiten mit Riegeln versehen, sodass ein Zutritt nicht möglich war.

    Die Eheleute Borden konnten ihr Schlafzimmer und das Ankleidezimmer nur erreichen, wenn sie vom Hintereingang des Hauses (der Seitentür aus) die hintere Treppe nach oben gingen und von dort ihr Zimmer betraten.

    Diese Hintertreppe führte auch weiter nach oben in Bridgets Zimmer. Dadurch war der vordere, obere Teil des Hauses also nur von Lizzie und Emma erreichbar, die das Gästezimmer als Empfangsraum benutzten, wenn sie Besuch bekamen und unter sich sein wollten.

    Was den weiteren Luxus betraf, so ist zu sagen, dass Andrew Borden auch hier für einige Annehmlichkeiten wie fließendes Wasser zu geizig war. Denn obwohl es 1892 bereits Toiletten gab, befand sich lediglich eine selten genutzte Toilette mit Wasserspülung im Keller bei der Waschküche. Ansonsten wurden Nachttöpfe benutzt, die morgens zusammen mit dem Wasser der morgendlichen Wäsche und des Zähneputzens in den Hof (Rasen) geleert wurden.

    Es hatte auch als einziges Haus in der Straße keinen Gasanschluss und Andrew beleuchtete das Haus lieber mit Kerosin-Lampen. Dabei saß er dann oft abends lieber im Dunkeln, um Kerosin zu sparen. Zeitungen sparte er auf zum Feuer machen oder als Toilettenpapier.

    Immerhin gab es im Keller einen Heizkessel, der über verschiedene Rohre die Wärme in die oberen Zimmer des Hauses leitete. Der Kessel wurde mit Kohlen befeuert, die auch im Keller gelagert wurden. Dort befand sich die Waschküche, ein Vorrat an Kohle und Holz sowie Lebensmittel und auch die selten genutzte Toilette mit Wasserspülung.

    Die gesamte Einrichtung des Hauses war eher fad und entsprach nicht der Einkommensklasse der Bordens, und schon gar nicht dem Geschmack der beiden Töchter. Apropos Geschmack: Andrew geizte auch beim Essen, denn dieses wurde so oft wieder aufgewärmt, bis es restlos verbraucht war – und was auch ein Grund für die plötzliche Übelkeit und angeblichen „Vergiftungserscheinungen" der Familie am Tag vor den Morden hätten gewesen sein können.

    Überhaupt waren der Geiz und das kalte, distanzierte Verhalten bezeichnend für Andrew Borden. Während andere wohlhabende Familien der Wohlfahrt und der Kirche spendeten, vergeudete er keinen Penny an diese Institutionen. Er war nicht sehr beliebt in der Stadt.

    Abb.12: Grobe Skizze des ersten Stockwerkes (Autorin)

    An der hinteren Treppe befindet sich der Hintereingang in den

    Garten und der Aufgang zum Schlafzimmer der Bordens und

    Bridgets Dachkammer sowie der Abstieg in den Keller.

    Auf dem Sofa lag die Leiche von Andrew Borden.

    Abb. 13: Grobe Skizze des zweiten Stockwerks (Autorin).

    Der Durchgang zwischen Lizzies Zimmer und dem Gästezimmer

    sowie Lizzies Zimmer und dem Schlafzimmer der Eltern war stets

    verschlossen (beidseitig) bzw. zusätzlich mit Möbeln von Lizzies

    Seite aus verstellt. Im Gästezimmer zwischen Bett und Kommode

    wurde Abbys Leiche gefunden.

    Abb. 14: Grobe Skizze des Kellers (Autorin) mit Wäscheplatz

    und Kohle-/Holz-/Obst- und Gemüsekeller sowie der Toilette

    mit Wasserspülung und Ausgang in den Garten.

    Abb. 15: Lageplan der Nachbarschaft. Vorne verläuft die Second Street,

    die hintere Straße ist die Third Street.

    Haus der Bordens

    Einfahrt zur Scheune

    Haus der Churchills

    Haus der Kellys

    Haus von Dr. Bowen

    Beobachtungsposten (Polizei)

    Haus von Dr. Chagnon

    Scheune der Bordens

    Borden-Zaun, mit Stacheldraht obenauf

    Obstgarten

    Haus der Crowes

    Lizzies mögliche Wurfposition des Beils

    Scheune der Crowes, Fundort des Beils

    Das Bild wurde von Autor und Illustrator Kurt Diedrich nach historischen Zeitungsausschnitten erstellt.

    4. Die Geschichte der Familie Borden

    Die Bordens gehörten, wie bereits erwähnt, zu den Gründerfamilien von Fall River. Ein kurzer Blick auf die Ahnenreihe bis hin zu den Geschäften des unsanft verstorbenen Andrew Borden gibt weitere Einblicke in das Denken und Handeln dieser Familie.

    Begonnen hat alles mit John Borden, der 1635 von Kent, England, nach Boston auswanderte. Wegen Häresie seiner Gattin Anne Hutchinson, die die kirchlichen Schriften für den Geschmack der Obrigkeit etwas zu frei interpretierte, wurde er 1638 nach Portsmouth, Rhode Island verbannt.

    Johns Sohn, ebenfalls auf den Namen John getauft, wurde 1640 geboren und 1684 ins Gefängnis gesperrt, weil er sich weigerte, Steuern zu bezahlen. Ihm gehörte das Land, das als das „West End" von Fall River bekannt ist.

    Johns Sohn Richard kaufte die Wasserrechte und zusätzliches Land im heutigen Fall River, um einen Grundstückstreit beizulegen. 1714 gehörten Richard und seinem Bruder fast das gesamte Gebiet von Fall River und ein großer Teil dessen, was heute Swansea und Somerset ist.

    Richards Sohn, der wiederum ebenfalls Richard genannt wurde, wurde 1750 in eine reiche Familie geboren. Dessen Sohn Abraham (Vater unseres ermordeten Andrew und Großvater unserer Lizzie) hatte jedoch nicht den guten Geschäftssinn seiner Vorfahren geerbt und verlor recht schnell das gesamte Vermögen seiner Vorfahren.

    Seinem Sohn Andrew konnte er lediglich die Wasserrechte und den Familienbesitz in der Ferry Street 12 hinterlassen, was zudem noch kein luxuriöses Anwesen war, sondern eine Hütte im Armenviertel der Stadt.

    Andrew Borden hatte also alle Hände voll zu tun, um sich aus dieser Misere wieder hochzuarbeiten. Das gelang ihm auch durch Ausdauer und harte Arbeit. Doch obwohl er als ehrlicher Geschäftsmann galt, bediente er sich seltsamer Geschäftstaktiken.

    Zunächst verdiente er sein Geld als Agent für „Crane’s Patent Casket Burial Cases", ein Sargunternehmen, das Luxussärge verkaufte. Ihm wurde nachgesagt, dass er – wenn die Särge zu klein waren für die Verstorbenen – ihnen einfach die Füße abschnitt und daneben in den Sarg stopfte.

    Danach kaufte er Gewerbeanwesen, die er an neue Geschäftsleute weitervermietete. Auch verlassene Farmen wurden von ihm aufgekauft und mit Gewinn weiterveräußert.

    Schließlich begann er zusammen mit seinem Partner, William J. Almy, in Fall River ein Bestattungsunternehmen aufzuziehen. Von April 1844 bis ins Jahr 1878 führte er das Unternehmen sehr erfolgreich, bevor sie sich zur Ruhe setzten, aber weiterhin in der Immobilienbranche tätig blieben.

    Almy und Borden kamen beide auf tragische Weise ums Leben und die Gerüchteküche führte diese Tatsache auf die unlauteren Geschäftspraktiken der beiden Herren zurück, die ihre Klienten oft betrogen und teure Särge verkauften, die beim anschließenden Begräbnis rasch gegen günstige Särge getauscht wurden.

    1845 heiratete Andrew Borden Sarah Morse, eine Farmerstochter. Laut den Aussagen seiner Freunde eine echte Liebesheirat, im Gegensatz zur zweiten Ehe. 1851 wurde Emma geboren, 1856 Alice, die aber zwei Jahre später starb und 1860 folgte Lizzie – zur Enttäuschung von Andrew, der wenigstens jetzt mit einem Sohn gerechnet hätte. Daher taufte er sie „Lizzie Andrew Borden".

    1863 starb Sarah Borden im Alter von nur 40 Jahren an einer Unterleibskrankheit. 1865 heiratete Andrew erneut, Abby Durfee Gray, Tochter eines Weißblechverkäufers, der seine Ware von der Handkarre herunter feilbot. Abby war schon 38 und es war ihre erste Ehe.

    Abb. 16: Karte von 1893. Rechts Fairhaven (wo Emma sich aufhielt)

    links New Bedford, von wo die Zuglinie nach Fall River führt (nach

    links weg, nicht mehr im Bild) und unten South Dartmouth,

    wo sich Onkel John Morse herumtrieb.

    Die Familienmitglieder

    Im Rahmen der Familienchronik haben wir schon gesehen, dass es sich bei Andrew Borden um einen schwierigen Menschen gehandelt haben musste. Ihm war nicht das Geld seiner Vorfahren in die Wiege gelegt worden, sondern er musste sich den Wohlstand wieder hart erarbeiten. Vielleicht stammte daher sein Geiz?

    Nachdem wir auch sein Geschäftsgebaren gesehen haben, ist es nicht weiter verwunderlich, dass er sich auf diese Art und Weise Feinde geschaffen hatte – aber war diese Feindschaft stark genug, um ihn ermorden zu wollen?

    Nicht nur die Geschäftspartner kamen als mögliche Mörder in Betracht, sogar in der eigenen Familie könnte sich der Mörder befinden. Neben Lizzie wurden zunächst noch andere Personen verdächtigt.

    Werfen wir noch einen Blick auf diese anderen Familienmitglieder, von denen sich gewöhnlich nur die Eheleute Borden, die Schwestern Emma und Lizzie sowie das Dienstmädchen Bridget im Haus in der Second Street 92 aufhielten:

    Sarah Borden, geborene Morse

    Sarah heiratete Andrew mit 23 und bekam zunächst Emma, dann Alice, die jedoch nicht lange lebte und zuletzt Lizzie. Sie starb, als Lizzie zwei Jahre alt war.

    Man sagte, sie hätte an schwerer Migräne sowie unkontrollierten Wutausbrüchen gelitten. Bösen Stimmen zufolge war dies jedoch der Tatsache geschuldet, dass sie ausgerechnet mit Andrew Borden verheiratet war.

    Man hatte ihr auch nachgesagt, dass sie wohl verrückt war, aber das konnte nicht bewiesen wären – es war wohl nur eine Wunschvorstellung der vielen Forscher, die gerne Lizzie eine Art „vererbten Wahnsinn" angedichtet hätten, um die Morde zu erklären.

    Dass Lizzie die Tat möglicherweise wirklich in einer Art Anfall begangen hat, wurde häufig thematisiert und wird in einem separaten Kapitel noch untersucht werden.

    Abb. 17: Sarah Morse mit Baby Emma

    Abby Durfee Gray (Borden)

    Abby war bereits 39 als Andrew sie geheiratet hat und genaugenommen keine standesgemäße Wahl für den reichen Witwer. Dieser arbeitete 14 Stunden am Tag und brauchte mehr oder weniger jemanden, der sich um die beiden kleinen Mädchen und den Haushalt kümmerte.

    Abb. 18: Abby Borden

    Abby war zufrieden damit, eine reiche Partie gemacht zu haben. Von einer Liebesheirat kann nicht die Rede sein. Dennoch berichten die Quellen, dass die Ehe wohl für beide zufriedenstellend war. Für Abby war sie eine gute Partie und Andrew hatte jemanden, der Zuhause nach dem rechten sah.

    Verschiedene Quellen berichten unterschiedlich von ihren Leistungen und Bemühungen als Stiefmutter der beiden Mädchen. Einerseits heißt es, sie habe sich redlich bemüht, die kleinen Mädchen gut zu erziehen und sich um sie zu kümmern, andere

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