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Züricher Novellen
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Züricher Novellen

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Neue Deutsche Rechtschreibung
Die "Züricher Novellen" sind ein Novellenzyklus von Gottfried Keller.
Die drei Novellen des ersten Bandes sind durch einen Erzählrahmen verknüpft, der selbst eine Novelle ist. Bei den beiden Novellen des zweiten Bandes ist dies nicht der Fall.
Die "Züricher Novellen" nehmen in Gottfried Kellers Werk eine wichtige Stellung ein. Keller war Stadtschreiber von Zürich. Und diese Sammlung von Novellen war das erste Werk, das er nach seiner Niederlegung des Stadtschreiberamtes veröffentlichte.
Die einzelnen, teilweise in eine Rahmenhandlung eingebetteten Geschichten sind eine Hommage an die Stadt Zürich und den gleichnamigen Kanton.
Der erzählerische Bogen über die einzelnen Geschichten spannt sich vom 13. bis ins 18.Jahrhundert.
Null Papier Verlag
LanguageDeutsch
Release dateMay 31, 2019
ISBN9783962812546
Züricher Novellen
Author

Gottfried Keller

Gottfried Keller (1819-1890) war ein Schweizer Schriftsteller, der auch politisch tätig war. Kleider machen Leute ist sein bekanntestes Werk.

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    Book preview

    Züricher Novellen - Gottfried Keller

    htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

    Einleitung

    Ge­gen das Ende der acht­zehn­hun­dert­und­zwan­zi­ger Jah­re, als die Stadt Zü­rich noch mit weit­läu­fi­gen Fes­tungs­wer­ken um­ge­ben war, er­hob sich an ei­nem hel­len Som­mer­mor­gen mit­ten in der­sel­ben ein jun­ger Mensch von sei­nem La­ger, der we­gen sei­nes Heran­wach­sens von den Dienst­bo­ten des Hau­ses be­reits Herr Jac­ques ge­nannt und von den Haus­freun­den einst­wei­len geih­rzt wur­de, da er für das Du sich als zu groß und für das Sie noch als zu un­be­trächt­lich dar­stell­te.

    Herrn Jac­ques’ Mor­gen­ge­müt war nicht so la­chend wie der Him­mel, denn er hat­te eine un­ru­hi­ge Nacht zu­ge­bracht, voll schwie­ri­ger Ge­dan­ken und Zwei­fel über sei­ne ei­ge­ne Per­son, und die­se Un­ru­he war ge­weckt wor­den durch den am Abend vor­her in ir­gend­ei­nem vor­lau­ten Bu­che ge­le­se­nen Satz, dass es heut­zu­ta­ge kei­ne ur­sprüng­li­chen Men­schen, kei­ne Ori­gi­na­le mehr gebe, son­dern nur noch Dut­zend­leu­te und gleich­mä­ßig ab­ge­dreh­te Tau­sends­per­so­nen. Mit Le­sung die­ses Sat­zes hat­te er aber gleich­zei­tig ent­deckt, dass die sanft auf­re­gen­den Ge­füh­le, die er seit ei­ni­ger Zeit in Schu­le und Haus und auf Spa­zier­gän­gen ver­spürt, gar nichts an­de­res ge­we­sen, als der un­be­wuss­te Trieb, ein Ori­gi­nal zu sein oder ei­nes zu wer­den, das heißt, sich über die run­den Köp­fe sei­ner gu­ten Mit­schü­ler zu er­he­ben. Schon hat­te sich in sei­nen Schulauf­sät­zen die kur­ze, dürf­ti­ge Schreib­wei­se ganz or­dent­lich zu be­we­gen und zu fär­ben an­ge­fan­gen; schon brach­te er hier und da, wo es an­ge­zeigt schi­en, ein kräf­ti­ges sic an und wur­de des­halb von den Ka­me­ra­den der Si­kam­ber ge­hei­ßen. Schon brauch­te er Wen­dun­gen wie: »ob­gleich es schei­nen möch­te«, oder »nach mei­ner un­maß­geb­li­chen Mei­nung«, oder »die Au­ro­ra die­ser neu­en Ära«, oder »ge­sagt, ge­tan« und der­glei­chen. Ein his­to­ri­sches Auf­sätz­chen, in wel­chem er zwei ent­schie­den ein­an­der ent­ge­gen­wir­ken­de Tat­sa­chen rasch auf­ge­zählt hat­te, ver­sah er so­gar mit dem pomp­haf­ten Schlus­se: »Man sieht, die Din­ge stan­den so ein­fach nicht, wie es den An­schein ha­ben moch­te!«

    Auch gab es un­ter sei­nen Sa­chen ein Heft im­mer weiß blei­ben­den Pa­piers, über­schrie­ben: »Der neue Ovid«, in wel­ches eine neue Fol­ge von Ver­wand­lun­gen ein­ge­tra­gen wer­den soll­te, näm­lich Ver­wand­lun­gen von Nym­phen und Men­schen­kin­dern in Pflan­zen der Neu­zeit, wel­che die Säu­len des Ko­lo­ni­al­han­dels wa­ren, dem das el­ter­li­che Haus sich wid­me­te. Statt des an­ti­ken Lor­beers, der Son­nen­blu­me, der Nar­zis­se und des Schil­fes soll­te es sich um das Zucker­rohr, die Pfef­fer­stau­de, Baum­woll- und Kaf­fee­pflan­ze, um das Süß­holz han­deln, des­sen schwärz­li­chen Saft sie in je­ner Stadt Bä­ren­dreck nen­nen. Na­ment­lich von den ver­schie­de­nen Farb­höl­zern, dann vom In­di­go, Krapp usw. ver­sprach er sich die wir­kungs­reichs­ten Er­fin­dun­gen, und al­les in al­lem ge­nom­men schi­en es ihm ein zeit­ge­mä­ßer und zu­tref­fen­der Ge­dan­ke zu sein.

    Frei­lich bo­ten die Er­fin­dun­gen selbst nir­gends eine Hand­ha­be dar, bei wel­cher er sie an­pa­cken konn­te; sie wa­ren sämt­lich wie schwe­re, große run­de Töp­fe ohne Hen­kel, und aus die­sem Grun­de blieb je­nes Heft bis auf die statt­li­che Über­schrift durch­aus rein und weiß. Aber das Da­sein des­sel­ben, so­wie noch ei­ni­ge an­de­re Er­schei­nun­gen un­ge­wöhn­li­cher Art, de­ren Auf­zäh­lung hier un­ter­blei­ben kann, bil­de­ten eben das­je­ni­ge, was er nun­mehr als Trieb zur Ori­gi­na­li­tät ent­deck­te in dem glei­chen Au­gen­bli­cke, da die­se Tu­gend dem da­ma­li­gen Ge­schlech­te rund­weg ab­ge­spro­chen wur­de.

    Ängst­lich und fast trau­rig be­trach­te­te Herr Jac­ques den schö­nen Tag, fass­te dann aber sei­ner Ju­gend ge­mäß einen ra­schen Ent­schluss, nahm sein Ta­schen­buch, das für man­nig­fa­che Auf­zeich­nun­gen sinn­reich ein­ge­rich­tet war, zu sich und be­gab sich auf einen Spa­zier­gang für den gan­zen Tag, um sei­ne Sa­che, die er mein­te, zu er­wä­gen, zu er­pro­ben und in Si­cher­heit zu brin­gen.

    Erst­lich be­stieg er eine hohe Bas­ti­on, die so­ge­nann­te Kat­ze, an wel­cher jetzt der Bo­ta­ni­sche Gar­ten liegt, und ar­bei­te­te sich so über sei­ne Mit­bür­ger em­por, in­dem er über die Stadt hin­blick­te.

    Al­les war in täg­li­cher Ar­beit und Tä­tig­keit be­grif­fen; nur ein klei­ner, schul­schwän­zen­der Jun­ge schlich um Herrn Jac­ques her­um und schi­en eben­falls ein Ori­gi­nal wer­den zu wol­len, ja ihn an Be­ga­bung be­reits zu über­tref­fen; denn man konn­te be­ob­ach­ten, wie der Klei­ne in ein Ka­se­mat­ten­ge­mäu­er schlich, dort einen künst­lich an­ge­leg­ten Be­häl­ter öff­ne­te, Spiel­sa­chen und Ess­wa­ren her­vor­hol­te und sich mut­ter­see­len­al­lein, aber eif­rig zu un­ter­hal­ten be­gann.

    So war al­les be­tä­tigt, selbst der blaue See fern­hin von den Se­geln der Last- und Markt­schif­fe be­deckt, mü­ßig al­lein die stil­le wei­ße Al­pen­ket­te und Herr Jac­ques.

    Da sich nun auf die­ser Kat­ze kei­ne er­freu­li­che Er­fah­rung oder Aus­zeich­nung dar­bie­ten woll­te, so stieg er wie­der hin­un­ter und ging aus dem nächs­ten Tore, sich bald an den ein­sa­men Ufern des Sihl­flus­ses ver­lie­rend, der wie her­kömm­lich durch die Ge­höl­ze und um die aus dem Ge­bir­ge her­ab­ge­wälz­ten Stein­blö­cke schäu­mend da­hin­eil­te. Seit hun­dert Jah­ren war die­se dicht vor der Stadt lie­gen­de ro­man­ti­sche Wild­nis von den zür­che­ri­schen Ge­nies, Phi­lo­so­phen und Dich­tern mit De­gen und Haar­beu­tel be­gan­gen wor­den; hier hat­ten die jun­gen Gra­fen Stol­berg als Durch­rei­sen­de ge­nia­lisch und pu­del­nackt ge­ba­det und da­für die Stein­wür­fe der sitt­sa­men Land­leu­te ein­ge­ern­tet. Die Fel­strüm­mer im Flus­se hat­ten schon hun­dert­mal zu den Ro­bin­son­schen Nie­der­las­sun­gen jun­ger Schul­schwän­zer ge­dient; sie wa­ren ge­heim­nis­voll von dem Feu­er ge­schwärzt, in wel­chem ge­raub­te Kar­tof­feln oder un­glück­se­li­ge Fisch­chen ge­bra­ten wor­den, die den Ro­bin­sons in die Hän­de ge­fal­len. Herr Jac­ques sel­ber hat­te meh­re­re der­glei­chen Pro­jek­te her­vor­ge­bracht. Al­lein, ein bes­se­rer Kauf­mann als Ro­bin­son, hat­te er die­sel­ben, das heißt die Wahl des Plat­zes und das Ein­zel­ne der Aus­füh­rung, je­des Mal für ba­res Geld an an­de­re Kna­ben ab­ge­tre­ten, wor­auf die Käu­fer dann eben­so re­gel­mä­ßig in­fol­ge die­ser Wahl und Aus­füh­rung von den Bau­ern als Holz­frev­ler und Feld­die­be über­fal­len und ge­prü­gelt wor­den wa­ren.

    Die­ses er­in­ne­rungs­rei­che Ufer ent­lang wan­del­te Herr Jac­ques, die of­fe­ne Schreib­ta­fel in der einen, den Stift in der an­de­ren Hand und ganz ge­wär­tig, die Zeug­nis­se sei­ner Ori­gi­na­li­tät zu be­glau­bi­gen, wel­che die rau­schen­den Was­ser ihm brin­gen soll­ten. Al­lein der flei­ßi­ge Strom hat­te an­de­res zu tun, er muss­te den Bür­gern von Zü­rich das gute Bu­chen­holz zu­tra­gen, wel­ches sie aus dem schö­nen Wal­de be­zo­gen, den ih­nen nach der Über­lie­fe­rung zur al­ten Reichs­zeit die Kin­der Kö­nig Al­brechts von Ös­ter­reich aus dem Gute ei­nes sei­ner Mör­der für loya­les Ver­hal­ten ge­schenkt, oder aus je­nem Fors­te, den Lud­wig der Deut­sche der Ab­tei Zü­rich ge­wid­met. Zu vie­len Tau­sen­den ka­men, den Fluss be­de­ckend, die bra­ven Holz­schei­te aus den mäch­ti­gen Wäl­dern stun­den­weit her­ge­schwom­men, und der Fluss, von frü­he­rem Re­gen­wet­ter an­ge­schwol­len, mit weg­ge­schwemm­tem Erd­reich ge­sät­tigt und schmut­zig ge­färbt, warf die Last mit wil­der Kraft vor sich her, als der un­ge­schlach­te Holz­knecht der gu­ten Stadt, dass das Holz gar ei­lig in de­ren Be­reich sich spu­te­te.

    An die­sem An­bli­cke hät­te nun Herr Jac­ques sich zu ei­nem frucht­brin­gen­den Ge­dan­ken er­he­ben und, den Lauf der Zei­ten ver­fol­gend, das Auge in die graue Vor­zeit ver­sen­kend, den Be­stand der mensch­li­chen Din­ge er­wä­gen, oder er hät­te das Lob je­nes grü­nen Wal­des sin­gen kön­nen, der in der Hand aus­dau­ern­der Bür­ger­kraft al­lein noch leb­te von all der Herr­lich­keit ver­schol­le­ner Rit­ter und Ab­tei­en, noch so frisch und grün, wie vor ei­nem hal­b­en oder bald gan­zen Jahr­tau­send.

    Doch konn­te er nicht auf sol­che Ab­schwei­fun­gen ge­ra­ten, weil er so­fort be­gann, die Holz­schei­te, so schnell er konn­te, in­ner­halb ei­nes un­ge­fäh­ren qua­dra­ti­schen Be­zir­kes zu zäh­len, die mut­maß­li­che Flä­che, wel­che zu ei­nem Klaf­ter wohl­ge­mes­se­nen Bu­chen­hol­zes ge­hö­ren moch­te, zu über­schla­gen, dann sol­che Flä­chen ab­zu­gren­zen und zu zäh­len, und end­lich den Wert des vor­über­schwim­men­den Hol­zes aus­zu­rech­nen, so­dass er, nach­dem er, kein Auge ver­wen­dend und die Uhr in der Hand, eine hal­be Stun­de fluss­auf­wärts ge­gan­gen war, auf sei­ner Schreib­ta­fel die ziem­lich wahr­schein­li­che Sum­me trug, für wel­che die Stadt wäh­rend zwei­er Tage Brenn­holz ein­führ­te. Denn er kann­te die ge­gen­wär­ti­gen Holz­prei­se ge­nau und freu­te sich, die heu­ti­ge Mis­si­on ganz ver­ges­send, sei­nes Flei­ßes und sei­ner Ge­schick­lich­keit.

    Plötz­lich er­wach­te er aus sei­nen Be­rech­nun­gen, als die Fluss­ge­gend sich er­wei­ter­te und er eine von Hü­geln und Ber­gen ein­ge­schlos­se­ne Ebe­ne be­trat, die Wol­lis­ho­fer All­men­de ge­nannt, auf wel­cher sich ihm ein neu­es Schau­spiel dar­bot.

    Auf die­ser All­men­de sah er näm­lich ein Häuf­lein meis­tens äl­te­rer Her­ren sich rüs­tig und doch ge­mäch­lich durch­ein­an­der be­we­gen und alle Vor­be­rei­tun­gen zu ei­nem er­kleck­li­chen Bom­ben­wer­fen aus­füh­ren. Es wa­ren die Her­ren der löb­li­chen al­ten Ge­sell­schaft der Kon­staff­le­ren und Feu­er­wer­ker, wel­che die­ses krie­ge­ri­sche We­sen zu ih­rem Pri­vat­ver­gnü­gen so­wohl als zu ge­mei­nem Nut­zen be­trie­ben und heu­te ihr jähr­li­ches Mör­ser­schie­ßen fei­er­ten.

    Da wa­ren also meh­re­re sol­cher Ge­schüt­ze, in der Son­ne glän­zend, auf­ge­pflanzt; da­ne­ben stand ein großes of­fe­nes Zelt; der Tisch dar­un­ter trug Pa­pie­re, In­stru­men­te so­wie Fla­schen und Glä­ser und eine blan­ke Zinn­schüs­sel mit Ta­bak nebst lan­gen ir­de­nen Pfei­fen. Eine der letz­te­ren trug bei­na­he je­der der Her­ren in der Hand, fei­ne Räuch­lein aus­bla­send in Er­war­tung des Pul­ver­damp­fes. Zwei oder drei von den äl­tes­ten tru­gen noch Haar­zöpf­chen und meh­re­re an­de­re ge­pu­der­te Haa­re. Im üb­ri­gen gin­gen sie in blau­en oder grü­nen Frä­cken ein­her, in wei­ßen Wes­ten und Hals­bin­den.

    Sie säu­ber­ten auf­merk­sam die Bet­tun­gen der Ge­schüt­ze und brach­ten al­les wohl in sei­ne Lage; denn wie es schon in dem »ei­ner ehr- und tu­gend­lie­ben­den Ju­gend« ge­wid­me­ten Neu­jahrs­blat­te der Ge­sell­schaft vom Jah­re 1697 hieß:

    Was die Wer­let ist und he­get,

    Auf ein Pfim­met ist ge­le­get.

    End­lich aber be­gann

    Das schleu­ni­ge Schie­ßen,

    Des Fein­des Ver­drie­ßen!

    Bald wälz­ten sich die Rauch­wol­ken über die Flä­che, wäh­rend die Bom­ben in ho­hem Bo­gen am blau­en Him­mel nach der Schei­be hin­fuh­ren und die wei­ßen Her­ren in stil­ler Fröh­lich­keit han­tier­ten wie die ba­ren Teu­fel. Hier setz­te ei­ner die Bom­be in den Mör­ser, dort senk­te ein an­de­rer das Ge­schütz und rich­te­te es kunst­ge­recht, ein drit­ter zün­de­te an und

    Der vier­te den Mör­sel schon wie­der aus­butzt,

    Vul­ka­nens Ge­sin­de hier die­net und trut­zt!

    wie es in ei­nem an­de­ren Neu­jahr­s­stücke von 1709 heißt.

    Bei al­ler Fu­ria leuch­te­te aber doch eine alt­vä­te­rische Fröm­mig­keit aus den Au­gen die­ser Vul­kans­die­ner, ab­ge­se­hen da­von, dass auch ein Chor­herr vom Stift un­ter ih­nen ar­bei­te­te, und man konn­te sich an je­nes an­de­re Frag­ment ih­rer ar­til­le­ris­ti­schen Poe­sie er­in­nern, wel­ches lau­tet:

    Wann der Sa­tan mit Hau­bit­zen

    Sei­ne Pla­gen auf dich spielt,

    Dann so wis­se dich zu schüt­zen

    Mit Ge­bet als ei­nem Schild,

    Sein Ge­schütz, ge­pflanzt zu haglen,

    Wird dein’ An­dacht bald ver­naglen!

    Herr Jac­ques, der nichts zu tun hat­te, schau­te die­sem Spie­le weh­mü­tig und be­schei­den im Schat­ten ei­nes Bau­mes zu, bis ihn ei­ner der Bom­ben­schüt­zen, der sein Pate war, er­kann­te, her­an­rief und ihm die lan­ge Ton­pfei­fe zu hal­ten gab, wäh­rend er mit dem Pul­ver­sa­cke zu schaf­fen hat­te. Die­se Be­quem­lich­keit merk­ten sich die an­de­ren Her­ren auch, und so stand der jun­ge Ori­gi­nal­mensch bis zum Mit­tag, stets eine oder zwei Pfei­fen in der Hand vor sich hin­stre­ckend. Nur der Chor­herr, wel­cher statt der Pfei­fe eine läng­li­che, mit ei­nem Fe­der­kiel ver­se­he­ne Zi­gar­re rauch­te, leg­te die­se nicht weg, son­dern brann­te kühn sei­nen Mör­ser mit ih­rem Feu­er los.

    Für sei­ne Mü­he­wal­tung wur­de Jac­ques dann aber zu dem Mit­ta­ges­sen ge­zo­gen, wel­ches die heu­ti­ge Tat­hand­lung der Feu­er­wer­ker krön­te und auf ei­nem na­hen Bü­hel un­ter den Bäu­men be­rei­tet war. Wenn die­se wa­cke­ren Geis­ter schon durch den Pul­ver­ge­ruch ver­jüngt wor­den, so fühl­ten sie sich nun durch den blau­en Him­mel, die grü­nen Wäl­der rings­um­her und durch den gol­de­nen Wein noch mehr er­hei­tert, und nach­dem in vol­lem Chor ein Kriegs­lied er­schol­len, ver­such­ten sie sich in ei­nem Rund­ge­san­ge, in wel­chem auch nicht ei­ner sei­nen Bei­trag ver­wei­ger­te. Da ka­men al­ler­lei schnur­ren­haf­te Lied­chen zum Vor­schein, von de­ren Da­sein Herr Jac­ques kei­ne Ah­nung ge­habt. Er lausch­te laut­los und sah einen der Sin­gen­den nach dem an­de­ren an, und sei­ne weit­hin ra­gen­de blei­che Nase dreh­te sich da­bei lang­sam in die Run­de gleich dem La­fet­ten­schwanz ei­ner Ka­no­ne, wie ei­ner der Feu­er­wer­ker mein­te.

    Als nun die Rei­he an ihn kam und die Män­ner dar­auf hiel­ten, dass er auch sei­nen Vers sin­ge, wuss­te er kei­nen, und es fiel ihm nicht der ge­rings­te sang­ba­re Ge­gen­stand ein. Dar­über wur­de er ganz be­tre­ten und nie­der­ge­schla­gen.

    Die Feu­er­män­ner aber ach­te­ten nicht dar­auf, son­dern be­gan­nen den Rund­ge­sang: »Las­set die feu­ri­gen Bom­ben er­schal­len«, in wel­chem an je­den die Fra­ge ge­rich­tet wur­de:

    »Herr Bru­der, dei­ne Schö­ne heißt?«

    wel­che Schö­ne je­wei­lig nach ih­rer Nam­haft­ma­chung hoch­le­ben muss­te. Da rie­fen nun die einen, mit Scho­nung der wür­di­gen Haus­frau, den ver­stell­ten Na­men ir­gend­ei­ner Ju­gend­freun­din, wie Do­ris, Phil­lis oder Chloe. An­de­re nann­ten Dia­na, Mi­ner­va, Ve­nus oder Con­stan­tia, Abun­dan­tia und der­glei­chen. Das wa­ren aber kei­ne Da­men, son­dern Lieb­lings­ge­schüt­ze, die ehr­bar im Zeug­hau­se stan­den. Die­se Ge­schütz­na­men wur­den je­des Mal wie Ka­no­nen­schüs­se mit furcht­ba­rer Don­ner­stim­me aus­ge­sto­ßen, so­dass es fast tön­te, wie wenn die Roh­re ei­ner Zwölf­pfün­der­bat­te­rie ei­nes nach dem an­de­ren ab­ge­feu­ert wür­den. Als nun auch hier wie­der die Rei­he an Herrn Jac­ques kam, ge­dach­te er sich end­lich her­vor­zu­tun, und be­zeich­ne­te, so laut er konn­te, sei­ne Ge­lieb­te als »Sa­pi­en­tia!« Da aber sei­ne Stim­me zu je­ner Zeit eben im Bre­chen war, er­dröhn­ten nur die ers­ten Sil­ben des Wor­tes in tiefer Ton­la­ge, wäh­rend das Ende über­schlug und ganz in die Höhe schnapp­te, was bei sei­nem tie­fen Erns­te sich so lus­tig aus­nahm, dass alle Her­ren in ein fröh­li­ches Ge­läch­ter aus­bra­chen.

    Da wur­de er noch stil­ler und blick­te lan­ge nicht mehr auf.

    Dies be­mer­kend, klopf­te ihm der Herr Pate auf den Rücken und sag­te: »Was ist’s mit Euch, Meis­ter Jac­ques? Wa­rum so mau­se­rig?«

    Der klei­ne Mann schwieg aber noch eine Wei­le un­be­hol­fen fort, bis ihm ei­ni­ge Schlücke bes­se­ren Wei­nes plötz­lich die Zun­ge lös­ten und er un­ver­se­hens sein Herz aus­zu­schüt­ten be­gann. So er­öff­ne­te er denn dem al­ten Herrn sei­ne Kla­ge: Jene hät­ten gut la­chen; er da­ge­gen sei in ei­ner Zeit ge­bo­ren, in der man un­be­dingt kein Ori­gi­nal­mensch mehr wer­den kön­ne und am Ge­wöhn­li­chen haf­ten­blei­ben müs­se, was um so schmerz­li­cher sei, wenn man die letz­ten Über­bleib­sel schö­ne­rer Tage noch vor sich sehe. Die­se al­ten Bom­ben­wer­fer mit ih­ren ge­pu­der­ten Köp­fen und Ton­pfei­fen sei­en ja die ori­gi­nells­ten Käu­ze von der Welt, und ein jun­ger Schü­ler von heu­te zer­bre­che sich ganz ver­geb­lich den Kopf, aus­fin­dig zu ma­chen, was et­was dem Ähn­li­ches dar­stel­len wür­de. Die­ses sei der be­seuf­zens­wer­te Nach­teil des Jahr­hun­derts, in dem man le­ben müs­se, und kein Kraut sei für sol­ches Übel ge­wach­sen.

    Der Alte be­schau­te den Spre­cher von der Sei­te, ohne et­was zu sa­gen. Die Nächst­sit­zen­den je­doch sa­hen sich un­ter­ein­an­der an und murr­ten ver­nehm­lich über ein Zeit­al­ter, in wel­chem Kin­der sich her­aus­neh­men dürf­ten, über die Al­ten na­se­wei­se Be­mer­kun­gen zu ma­chen und ih­nen Spitz­na­men zu ge­ben, wie ori­gi­nel­le Käu­ze und der­glei­chen.

    Da wur­de der Ärms­te ganz ein­ge­schüch­tert und be­schämt und ließ feu­er­rot sei­nen Blick her­u­mir­ren, nach wel­cher Sei­te hin er ent­wi­schen kön­ne. Der Herr Pate nahm ihn aber un­ter den Arm und sprach: »Kommt, Meis­ter Ja­ko­bus! Ich will Euch den Über­bleib­sel die­ses hei­te­ren Ta­ges wid­men, da wir bei­de wohl nicht mehr viel zur Ar­beit tau­gen wer­den! Wir wol­len einen Gang auf die Ma­negg ma­chen und bis da­hin des lieb­li­chen Wal­des ge­nie­ßen.«

    Sie spa­zier­ten also über die wei­te All­men­de und über den Sihl­fluss, stie­gen durch schö­nes jun­ges Bu­chen­ge­hölz die jen­sei­ti­gen Hö­hen em­por und ge­lang­ten auf einen ebe­nen Ab­satz, von zwei mäch­ti­gen, breitäs­ti­gen Bu­chen be­schat­tet, wo aber schon ein neu­es Aben­teu­er auf den jun­gen Ver­eh­rer der Sa­pi­en­tia her­an­stürm­te.

    Die Ter­ras­se war be­völ­kert und be­lebt von ei­ner Schar jun­ger Schul­mäd­chen, wel­che zur Be­ge­hung des jähr­li­chen so­ge­nann­ten Lustig­ma­chens aus der en­gen Stadt ins Freie ge­führt wor­den wa­ren und hier un­ter der Ob­hut ei­ni­ger Her­ren Vor­ste­her und Leh­re­rin­nen ih­ren un­schul­di­gen Rin­gel­tän­zen und Fang­spie­len ob­la­gen. Sie wa­ren alle weiß oder ro­sen­rot ge­klei­det; ei­ni­ge tru­gen zur Er­hö­hung der Lust bun­te Trach­ten als Bäue­rin­nen oder Hir­tin­nen, wie zu sol­chem Be­hu­fe die ge­eig­ne­ten Ge­wän­der da und dort in den Fa­mi­li­en auf­be­wahrt und im Stan­de ge­hal­ten wur­den. Das al­les ver­ur­sach­te eine hei­te­re und glän­zen­de Er­schei­nung in der grün­schat­ti­gen Um­ge­bung, und gern hielt der Herr Pate einen Au­gen­blick an, um sich an dem lieb­li­chen An­blick zu er­fri­schen. Er be­grüß­te die ihm be­kann­ten Vor­ste­her und scherz­te mit den ver­klei­de­ten klei­nen Schön­hei­ten, sie nach Stand und Her­kom­men be­fra­gend, ob sie hier in Dienst zu tre­ten oder wei­ter­zu­rei­sen ge­däch­ten und so wei­ter.

    So­gleich kam aber die gan­ze Mäd­chen­schar her­bei­ge­lau­fen und um­ring­te den al­ten Herrn samt sei­nem jun­gen Schütz­ling, wel­cher jetzt in noch grö­ße­re Be­dräng­nis ge­riet, als er heu­te je er­lebt. Wo er hin­sah, er­blick­te er in dich­ter Nähe nichts als blü­hen­de und la­chen­de Ge­sich­ter, die an der Gren­ze der Kind­heit noch alle frisch und lieb­lich wa­ren und das ih­rer war­ten­de Reich der Un­schön­heit noch nicht ge­se­hen hat­ten. Hier das schön­äu­gi­ge Ge­sicht­chen mit den et­was star­ken, fa­mi­li­en­mä­ßi­gen Vor­der­zähn­chen ahn­te nicht, dass es in we­ni­ger als zehn Jah­ren ein so­ge­nann­ter To­ten­kopf sein wür­de; dort das re­gel­mä­ßi­ge ru­hi­ge En­gel­sant­litz schi­en un­mög­lich Raum zu bie­ten für die Züge an­e­rerb­ter Hab­sucht und Heu­che­lei, wel­che in kur­z­er Zeit es durch­fur­chen und ver­wüs­ten soll­ten; wer glaub­te von je­nem ro­si­gen Stumpf­näs­chen, dass es zu ei­nem Thron und Sitz un­er­träg­li­cher Neu­gier­de und Späh­sucht be­stimmt war und die bei­den Ster­n­äu­ge­lein links und rechts in falsche Irr­lich­ter ver­wan­deln wür­de? Wer hät­te von dem küß­li­chen Breit­mäul­chen da den­ken kön­nen, dass sei­ne jet­zo so an­mu­ti­gen Lip­pen der­einst, von ewi­ger Be­we­gung klei­ner Lei­den­schaf­ten und Mü­ßig­kei­ten aus­ge­dehnt und form­los ge­wor­den, sich bald ge­gen das rech­te, bald ge­gen das lin­ke Ohr hin ver­zie­hen, bald die un­te­re die obe­re, bald die obe­re die un­te­re be­de­cken, dann plötz­lich wie­der bei­de ver­eint sich ver­län­gern und als En­ten­schna­bel schnat­tern wür­den? Ei, und dort das an­ge­hen­de Spitz­näs­chen, das die er­ha­be­ne Bea­trix für einen kom­men­den Dan­te zu ver­kün­den scheint und sich zu ei­nem Gei­er­schna­bel aus­wach­sen wird, der ei­nem ehe­li­chen Dul­der täg­lich die Le­ber auf­hacket, un­ver­sehrt von sei­nem schwei­gen­den Has­se! Und wie­der­um die­se in gleich­mü­ti­ger Un­schuld und zar­ter Hei­ter­keit la­chen­de jun­ge Rose, die vor der Zeit ent­blät­tert sein wird von tau­send Sor­gen und un­ge­ahn­ten Er­fah­run­gen, ge­bleicht von Kum­mer und zu schwach auch nur für den Wi­der­stand der Ver­ach­tung!

    Nichts von al­le­dem war hier zu ah­nen; wie eine le­ben­di­ge Ro­sen­he­cke um­dräng­te das Mäd­chen­volk den hoch­ra­gen­den Herrn Pa­ten und den et­was kür­ze­ren Herrn Ja­ko­bus, wel­chen die lo­sen Kin­der so oft auf dem Schul­we­ge als ernst­haf­ten, pe­dan­ti­schen Groß­schü­ler tra­fen, schwe­re Bü­cher un­ter dem Arm. Neu­gie­rig be­trach­te­ten sie ihn jetzt nach Her­zens­lust und so recht in der Nähe, und er­forsch­ten un­ver­zagt sein tief­sin­ni­ges Ge­sicht, sei­ne ver­le­ge­ne Hal­tung, sei­ne et­was lan­gen Hän­de und Füße, und ki­cher­ten da­bei fort­wäh­rend, so­dass es ihm un­an­ge­nehm zu­mu­te wur­de. Wäh­rend der Alte fort­fuhr, mit ih­nen zu scher­zen, und das eine oder an­de­re Köpf­chen strei­chel­te, dräng­ten sie sich im­mer nä­her und scho­ben da­bei die­se oder jene im Hin­ter­tref­fen Ste­hen­de mut­wil­lig in den Vor­der­grund. Plötz­lich stieß auf die­se Wei­se ein lan­ges, stär­ke­res Mäd­chen, das all­ge­mein der Holz­bock ge­nannt wur­de, eine zar­te Ge­stalt so ge­walt­sam her­vor und ge­gen den Herrn Jac­ques, dass sie er­rö­tend und auf­schrei­end die Hän­de wi­der sei­ne Brust stem­men muss­te, um nicht an die­sel­be hin­zu­fal­len, wäh­rend er über­rascht und er­schro­cken glei­cher­wei­se die Ärms­te von sich stieß, wie ein un­vor­her­ge­se­he­nes großes Übel.

    Und doch war es sei­ne von ihm selbst er­wähl­te und fest­ge­setz­te ers­te Lie­be, sei­ne Ju­gend­flam­me, wel­che, ohne zu bren­nen, still auf al­len sei­nen Pfa­den leuch­te­te, ein schma­les Jung­fräu­lein mit sie­ben oder acht lang­ge­dreh­ten, auf den Rücken fal­len­den blon­den Lo­cken, an­ge­tan mit ei­nem blen­dend wei­ßen Klei­de und him­melblau­en Schu­hen mit kreuz­wei­se um die Knö­chel ge­wun­de­nen Bän­dern.

    Die­se äu­ße­re Er­schei­nung war der Wil­le und das Werk der Mut­ter, wel­che die ver­meint­lich ver­scherz­te ei­ge­ne Be­deu­tung auf sol­che Wei­se an dem Kin­de nach­ho­len woll­te, ihm mit Sorg­falt alle Tage ei­gen­hän­dig die Lo­cken wi­ckel­te und es so her­um­lau­fen ließ, dass es sich von al­len an­de­ren Kin­dern un­ter­schied, ob­gleich es ein ganz ge­wöhn­li­ches We­sen war.

    Eben­die­se Aus­zeich­nung aber hat­te den wäh­le­ri­schen jun­gen Schol­a­ren be­stimmt, bei Grün­dung der ers­ten Lie­be sein Auge auf das Mäd­chen zu wer­fen. Im üb­ri­gen be­gnüg­te er sich da­mit, das­sel­be von fer­ne an­zu­se­hen und die Wege zu wan­deln, auf de­nen es zur Kir­che oder Schu­le ging, in der Nähe aber im­mer das Ge­sicht ab­zu­wen­den, so­dass ihm die Ge­sichts­zü­ge der Ge­lieb­ten ei­gent­lich fast un­be­kannt wa­ren und er nur ein un­ge­fäh­res Bild im Kop­fe trug, an wel­chem die Lo­cken und das Kleid die Haupt­sa­che bil­de­ten. Auch war sein Ge­fühl noch kühl und schwach und mit kei­ner­lei Schla­gen des Her­zens ver­bun­den. Die­ses klopf­te ihm jetzt nicht ein­mal, als er die Ju­gend­ge­lieb­te so un­ver­hofft nahe sah und sie von sich sto­ßen muss­te, wo­bei er einen Au­gen­blick lang zum ers­ten Mal die Ge­sichts­zü­ge der Teu­ren deut­lich er­kann­te, und zwar nicht ohne ein ra­sches, kur­z­es Be­frem­den; denn die Züge ent­spra­chen gar nicht der Vor­stel­lung, die er da­von hat­te. Über­dies wa­ren sie et­was ent­stellt von Scham und Un­wil­len über den emp­fan­ge­nen Stoß und Ge­gen­stoß. Trotz die­ser schein­bar ge­fähr­li­chen Sach­la­ge kann jetzt schon er­zählt wer­den, dass Herr Jac­ques pe­dan­tisch ge­nug war, an sei­ner Ju­gend­nei­gung fest­zu­hal­ten, die­sel­be im­mer mehr aus­zu­bil­den und um das Mäd­chen spä­ter­hin zu wer­ben mit der Ruhe und Ge­mes­sen­heit ei­ner gu­ten Wand­uhr, ohne je den Schlaf zu ver­lie­ren oder, wenn er schlief, von der Sa­che zu träu­men.

    Für jetzt aber nahm der Auf­tritt eine aber­ma­li­ge plötz­li­che Wen­dung; denn von dem na­hen Mei­er­ho­fe her, des­sen Päch­ter eine Wirt­schaft be­trieb, wur­den große Kör­be voll ei­nes gold­brau­nen, duf­ten­den Ge­bäckes ge­bracht, wel­ches nur hier ver­fer­tigt wur­de und den Na­men des Ho­fes trug. Die Halb­kin­der rausch­ten wie ein Flug Tau­ben auf und da­von und flo­gen, ohne zu­rück­zu­bli­cken, nach dem lo­cken­den Spei­se­platz, al­so­dass Jac­ques mit sei­nem Pa­ten un­ver­se­hens al­lein da­stand und jetzt mit ihm wei­ter­zie­hen muss­te. Und doch drang auch ihm der süße Duft der Ku­chen in die Nase; er hat­te zu­dem aus Blö­dig­keit nicht ge­nug ge­ges­sen bei den Vul­kans­die­nern und ver­spür­te star­ke Ess­lust. Da­her be­drück­te es wie eine große Un­bil­lig­keit sein Herz, dass es klopf­te, als er ver­geb­lich nach den glück­se­li­gen Kör­ben zu­rück­schau­te, wäh­rend der alte Herr ihn ent­führ­te. Un­mut und Be­küm­mer­nis wur­den jetzt so stark, dass sie ihm das Was­ser in die Au­gen trie­ben, die er ver­stoh­len ab­wisch­te. Der alte Herr be­merk­te es aber wohl und sah ihn kopf­schüt­telnd wie­der von der Sei­te an; er hielt je­doch da­für, dass nicht die Ku­chen, son­dern sei­ne ju­gend­li­chen Ori­gi­na­li­täts­sor­gen ihm noch zu schaf­fen mach­ten und das Herz be­dräng­ten, und führ­te den trau­ern­den Heran­wüchs­ling schwei­gend den stei­ler wer­den­den Pfad em­por, bis sie auf dem Vor­sprung des Ber­ges an­lang­ten, auf wel­chem noch die letz­ten Stein­trüm­mer der ehe­ma­li­gen Burg Ma­negg zu se­hen wa­ren.

    Am Fuße des Ge­mäu­ers floss ein Brünn­lein mit fri­schem Berg­was­ser, ge­ziert mit ei­ner In­schrift zum An­den­ken des ehe­ma­li­gen Eig­ners der Burg, des Rit­ters und Freun­des der Min­ne­sin­ger, Herrn Rü­di­ger Ma­nes­se. Die bei­den Wan­de­rer er­quick­ten sich an dem küh­len Was­ser, und da über­dies von Bur­gen und Rit­tern die Rede war, so leb­te der Jüng­lings­kna­be wie­der auf und er­klomm mit dem Al­ten be­ru­hig­ter vollends die Burg­stät­te. Hier setz­ten sie sich auf eine Bank und be­trach­te­ten die rei­che Fern­sicht; über ih­nen rag­ten schlan­ke Föh­ren­bäu­me, wäh­rend hun­dert­jäh­ri­ge Stäm­me glei­cher Art aus der Tie­fe em­por­stie­gen und ihre schö­nen Kro­nen mit ge­wal­ti­gen, im Abend­lich­te röt­lich glü­hen­den Ar­men zu ih­ren Fü­ßen aus­brei­te­ten. Von Sü­den her leuch­te­te der wol­ken­lo­se Berg Glär­nisch über grü­ne Wald­tä­ler, und im Nord­os­ten über dem See la­ger­te die alte Stadt im Son­nenglanze.

    »Also ein Ori­gi­nal möch­tet Ihr ger­ne sein, Meis­ter Jac­ques?« sag­te nun­mehr der Pate und strich sei­nem Schütz­lin­ge das Haar aus der er­hitz­ten Stir­ne. »Ei, das kommt nur dar­auf an, was für ei­nes! Ein gu­tes Ori­gi­nal ist nur, wer Nach­ah­mung ver­dient! Nach­ge­ahmt zu wer­den ist aber nur wür­dig, wer das, was er un­ter­nimmt, recht be­treibt und im­mer an sei­nem Orte et­was Tüch­ti­ges leis­tet, und wenn die­ses auch nichts Un­er­hör­tes und Er­zur­sprüng­li­ches ist! Je­nes ist aber im gan­zen so we­nig häu­fig oder recht be­trach­tet so sel­ten, dass, wer es kann und tut, im­mer den Ha­bi­tus ei­nes Selbst­stän­di­gen und Ori­gi­na­len ha­ben und sich im Ge­dächt­nis der Men­schen er­hal­ten wird, gan­ze Stäm­me so­wohl wie ein­zel­ne.

    »Da ha­ben wir die­ses längst ver­schwun­de­ne Ge­schlecht der Ma­nes­se, die in ih­rer Blü­te­zeit al­les, was sie un­ter­nah­men, aus­führ­ten und, ohne sich durch selt­sa­me Ma­nie­ren be­merk­lich zu ma­chen, mus­ter­gül­tig ih­ren Platz aus­füll­ten, auch wenn es nicht der obers­te war. Hier sit­zen wir auf ei­nem ih­rer Burg­stäl­le, dort drü­ben in der Stadt kön­nen wir noch das hohe Dach ih­res Rit­ter­tur­mes er­bli­cken. Lass se­hen! Zwi­schen dem Frau­müns­ter und dem Groß­müns­ter muss er ste­hen! Da sind frei­lich noch an­de­re sol­che Spitz­dä­cher von ehe­ma­li­gen Ge­schlech­ter­tür­men. Zu äu­ßerst links der Glent­ner­turm, dicht über ihm der Wel­len­berg, mehr rechts der Grim­men­turm, gleich da­ne­ben, schein­bar, der Escher­turm, un­ten, hin­ter der Was­ser­kir­che, ragt der Turm der Her­ren von Hot­tin­gen; wo ist denn nun der große Er­ker, der ehe­ma­li­ge Turm der Ma­nes­sen? Halt, wenn du mit dem Fin­ger dort vom Wet­tin­ger­hau­se, das am Was­ser steht, über das Ge­wir­re der Dä­cher auf­wärts fährst, so tupfst du auf das so­ge­nann­te grü­ne Schloss, dann ziehst du nur eine ge­ra­de Li­nie nach links bis zu dem ra­gen­den di­cken Turm­kor­pus, dort haus­ten sie zu ei­ner Zeit und zu ei­nem Tei­le!«

    Der Jun­ge folg­te mit Auf­merk­sam­keit und ei­ni­ger Mühe dem Fin­ger des Al­ten; denn in­ner­halb der Wäl­le und Tore der Stadt stand noch eine Zahl grau­er Tür­me der frü­he­ren Ring­mau­er und al­ter Tore, zwi­schen wel­chen jene ho­hen Rit­ter­be­da­chun­gen zu su­chen wa­ren.

    »Jetzt«, fuhr der Alte fort, »hau­sen die Spin­nen und Fle­der­mäu­se auf den dunklen Estri­chen; der Metz­ger trock­net sei­ne Fel­le dort, oder es häm­mert ein ein­sa­mer Schus­ter im ho­hen Ge­mach! Aber einst war es lus­ti­ger; dort und hier, wo wir sit­zen, brach­te Rü­di­ger Ma­nes­se von Ma­negg ei­nes der schöns­ten Bü­cher der Welt zu­sam­men, die Lie­der der Min­ne­sän­ger, die so­ge­nann­te Ma­nes­si­sche Hand­schrift, die jetzt in Pa­ris liegt auf der Biblio­thek des Kö­nigs. Wenn du hin­kommst zu dei­ner Zeit, so musst du das alte Buch se­hen; es ist in ro­tes Le­der ge­bun­den, und der schnö­de Name Lud­wigs XV. ist ihm auf den Rücken ge­stem­pelt. Der Name des Samm­lers aber, un­se­res Rü­di­ger, ist in al­ler Welt ver­brei­tet, eben weil er die lie­be- und freu­den­vol­le und doch so be­schei­de­ne Un­ter­neh­mung be­harr­lich durch­ge­führt hat; sein Name lebt, ob­gleich ein Schul­fuchs neu­lich den Ton an­gab, ihm sein Ver­dienst strei­tig zu ma­chen, ein Ba­kel, wel­chem das Werk selbst doch nach fünf­hun­dert Jah­ren noch Quel­le und Werk­zeug sei­ner Ta­ges­ar­beit wur­de.

    »Die Ent­ste­hung der Hand­schrift aber be­wirk­te, dass wie­der­um an­de­re Ori­gi­na­le sich zeig­ten und ent­wi­ckel­ten; das er­eig­ne­te sich al­les gar hei­ter und er­götz­lich und hat mich in jün­ge­ren Jah­ren ge­reizt, mir die Ge­schich­te et­was zu­sam­men­zu­den­ken und aus­zu­ma­len, al­so­dass ich die­sel­be fast so er­zäh­len kann, als ob ich sie auf­ge­schrie­ben hät­te, und ich will dir sie jetzt er­zäh­len. Es wird eine schö­ne Mond­nacht wer­den, und bis wir zu Hau­se sind, bin ich fer­tig. Es han­delt sich da­bei haupt­säch­lich um den Meis­ter Had­laub, der das Buch ge­schrie­ben, wie ich an­neh­me, die vie­len Bil­der dar­in zum Teil ge­malt hat und dar­über selbst zum Dich­ter ge­wor­den ist durch das Min­ne­we­sen und den Scherz, den die Her­ren mit ihm trei­ben woll­ten. Von an­stän­di­gen Min­ne­sa­chen aber darfst du al­len­falls schon et­was ver­neh­men.«

    Hier schau­te der Alte den Herrn Jac­ques wie­der schalk­haft seit­wärts an und ge­dach­te, den höl­zer­nen und ein­bil­di­schen Ernst des­sel­ben ein we­nig zu ver­wir­ren. Er er­zähl­te ihm, in­dem sie die Heim­kehr nach der Stadt an­tra­ten, die nach­fol­gen­de Ge­schich­te von der Ent­ste­hung des Ma­nes­se­schen Ko­dex zu Pa­ris.

    Hadlaub

    Gleich un­ter­halb des aar­gaui­schen Städt­chens Kai­ser­stuhl ste­hen die bei­den Sch­lös­ser Schwarz- und Weiß-Was­ser­stelz, je­nes mit­ten im Rhein, das heißt nä­her dem lin­ken Ufer und jetzt noch von al­ler­lei Leu­ten be­wohnt, die es kau­fen mö­gen, die­ses zer­fal­len auf dem rech­ten Ufer. Zu den Zei­ten Ru­dolfs von Habs­burg aber sa­ßen zwei Schwes­tern auf den bei­den Bur­gen als Er­bin­nen ei­nes mä­ßi­gen Land­we­sens, das nach sei­ner Tei­lung kei­ner großes Gut üb­rigließ. Da­rum such­te die äl­te­re der­sel­ben, Mecht­hil­dis, wel­che auf Weiß-Was­ser­stelz haus­te und des­sen­un­ge­ach­tet eine fast ru­hi­ge, fins­te­re und ge­walt­tä­ti­ge Per­son war, un­abläs­sig ihre jün­ge­re Schwes­ter, Ku­ni­gun­de auf Schwarz-Was­ser­stelz, von ih­rem Erbe zu ver­drän­gen und mit al­len mög­li­chen Rän­ken in ein Klos­ter zu trei­ben. Denn die­se Ku­ni­gun­de war von schö­ner und lieb­li­cher Ge­stalt, von der wei­ßes­ten Haut­far­be und an­mu­tig-hei­te­ren We­sens und be­saß viel bes­se­re Aus­sich­ten für eine güns­ti­ge Hei­rat, als jene bös­ar­ti­ge.

    Trotz­dem war sie den Be­wer­bun­gen nicht zu­gäng­lich und ver­wahr­te sich ge­gen sol­che bei­nah eben­so sorg­fäl­tig, wie ge­gen die Lis­ten und Über­fäl­le ih­rer Schwes­ter, wel­che die­se in Ver­bin­dung mit an­de­ren Übel­tä­tern ins Werk zu set­zen such­te. Die schö­ne Ku­ni­gun­de ver­schloss sich zu­letzt ganz in ihr fes­tes Was­ser­haus, das rings von den tie­fen grü­nen Wel­len des Rhei­nes um­flos­sen war. Am Ufer be­saß sie eine Müh­le, be­trie­ben von ei­nem treu­en wehr­ba­ren Dienst­mann, der Zu­fahrt und Ein­gang des Schlos­ses be­wach­te mit sei­nen be­stäub­ten Knech­ten. Im üb­ri­gen war rings­um Stil­le der Wäl­der, und man hör­te nichts als das Zie­hen des Flus­ses, bis ein­mal je­mand sag­te, er habe in der Nacht durch ein of­fe­nes Fens­ter des Schlos­ses ein klei­nes Kind schrei­en hö­ren, und ein an­de­res Mal ein an­de­rer, er habe es auch ge­hört, und zwar bei hel­lem Tage. Bald aber ging das Gerücht im Land, die Dame auf Schwarz-Was­ser­stelz wer­de von ei­nem ge­wal­ti­gen Man­ne be­sucht, der nie­mand an­ders sei als des Kai­sers Kanz­ler, Hein­rich von Klin­gen­berg, mit dem nicht gut Kir­schen es­sen wäre. Ihm sei die schö­ne Frau in Lie­be er­ge­ben, und als star­ker Ne­kro­mant wand­le er, wenn er in die Ge­gend kom­me, nächt­lich über das Rhein­was­ser tro­ckenen Fu­ßes, um sie un­ge­se­hen zu be­su­chen; er glei­te auf ei­ner wie Gold leuch­ten­den Strick­lei­ter oder, wie an­de­re mein­ten, von Dä­mo­nen ge­tra­gen an der Turm­mau­er em­por bis zum of­fe­nen Fens­ter der Dame; denn er hielt sich als­dann im na­hen Schloss Rö­teln oder im Städt­chen zu Kai­ser­stuhl auf, das er spä­ter als Bi­schof von Kon­stanz von ei­nem der letz­ten Re­gens­ber­ger auch käuf­lich er­warb.

    Tat­sa­che war, dass nach etwa sie­ben oder acht Jah­ren die Frau von Schwarz-Was­ser­stelz ein gar an­mu­ti­ges Mäd­chen nach Zü­rich brin­gen ließ, dass sie bald dar­auf sel­ber, und zwar frei­wil­lig, als Klos­ter­frau in die Ab­tei Zü­rich ging und dass sie nach Ablauf ei­ner wei­te­ren Zeit durch den Ein­fluss eben des­sel­ben Bi­schofs Hein­rich zur Für­stäb­tis­sin ge­wählt wur­de.

    Ob die­se Geist­lich­wer­dung aus Reue ge­sch­ah und um die Jah­re der Lei­den­schaft ab­zu­bü­ßen oder ob es sich für das vor­neh­me Lie­bes­paar dar­um han­del­te, als kir­chen­fürst­li­che Per­so­nen in frei­er Ge­sell­schaft­lich­keit sich öf­ter zu se­hen und ei­ner be­ru­hig­ten Zu­nei­gung froh zu wer­den, ist jetzt nicht mehr zu er­mit­teln; doch spricht da­ma­li­ge Sit­te und das wei­ter sich Be­ge­ben­de eher für den letz­te­ren Fall.

    Denn es gab in un­se­rer Stadt Zü­rich eine man­nig­fa­che und an­sehn­li­che Ge­sell­schaft. Ne­ben den Präla­ten und ih­ren Amt­leu­ten wa­ren da an­ge­ses­se­ne, schon meh­re­re hun­dert Jah­re alte Ge­schlech­ter, die Nach­kom­men kö­nig­li­cher Ver­wal­ter mit selt­sam ab­ge­dreh­ten alt­deut­schen Na­men, die, meis­tens ein- oder zwei­sil­big, aus ehe­ma­li­gen Per­so­nen- oder Spitz­na­men zu rät­sel­haf­ten Fa­mi­li­enna­men ge­wor­den, man­cher ver­hal­len­de Na­t­ur­laut aus dem Rau­schen der Völ­ker­wan­de­rung dar­un­ter; klei­ne­re Edel­leu­te der um­lie­gen­den Land­schaf­ten mit den Na­men ih­rer Wohn­sit­ze zu Berg und Tal dräng­ten sich her­bei, und eine Rei­he wich­ti­ger Dy­nas­ten der ober­deut­schen Lan­de wa­ren in Zü­rich ver­bür­gert und gin­gen ab und zu. Un­ter al­lem dem wal­te­te eine nicht un­zier­li­che freie Ge­sel­lig­keit, und wie einst in sol­chen Klein­ge­bie­ten der ro­ma­ni­sche Bau­stil noch ge­pflegt wur­de, nach­dem er in den of­fe­nen Groß­län­dern längst dem Go­ti­schen ge­wi­chen, so er­freu­te man sich ei­nes ver­spä­te­ten Min­ne- und Lie­der­we­sens rit­ter­li­cher Art, nach­dem des­sen Blü­te­zeit schon vor­über war.

    Jetzt müs­sen wir uns aber nach dem Kin­de Fi­des um­se­hen, wel­ches eben das na­tür­li­che Töch­ter­lein der Für­stäb­tis­sin war. Das tun wir am bes­ten, wenn wir auf der an­de­ren Sei­te der Stadt am Zü­rich­berg hin­auf­ge­hen, wo wir das Kind als­bald an­tref­fen wer­den, und zwar auf ei­nem Spa­zier­gang an der Hand des al­ten Meis­ter Kon­rad von Mure, des rühm­li­chen Vor­ste­hers der Sing­schu­le am Groß­müns­ter­stift. Der sehr be­tag­te Mann hat das leb­haf­te Mäd­chen, das durch den Ein­fluss des Kanz­lers im Hau­se des Herrn Rü­di­ger Ma­nes­se er­zo­gen wur­de, un­ter die Fit­ti­che sei­ner be­son­de­ren Freund­schaft ge­nom­men und, da er häu­fig in der na­hen Rit­ter­woh­nung ver­kehrt, aus wel­cher auch sein Vor­ste­her, der Pr­obst Hein­rich Ma­nes­se, stammt, sei­ne klei­ne Freun­din zu dem Gan­ge ab­ge­holt.

    Je wei­ter es aber in die Höhe ging, de­sto we­ni­ger ver­moch­te er das ra­sche und et­was hef­ti­ge Kind an der Hand zu be­hal­ten we­gen über­hand­neh­men­der Schwä­che und Eng­brüs­tig­keit, wie der treff­li­che Mann denn auch da­zu­mal nicht man­ches Jahr mehr leb­te. Er ließ also das Mägd­lein lau­fen, wie es moch­te, und half sich an sei­nem Sta­be in den schat­ti­gen We­gen wei­ter, die zwi­schen den vie­len zer­streu­ten Bau­ern­hö­fen auf die Höhe des Ber­ges führ­ten.

    Als er eine ge­nü­gen­de Um­sicht er­reicht, ruh­te er eine Wei­le auf ei­nem Stei­ne sit­zend aus und ließ mit Be­ha­gen sei­nen Blick über die wei­te Land­schaft ge­hen oder viel­mehr über die Ver­samm­lung von Land­schaf­ten, wel­che eben­so wi­der­spruchs­voll sich auf­rei­h­te, wie un­ser Zü­rich, sei­ne Leu­te und sei­ne Ge­schich­te über­haupt. Das Ge­birgs­land ge­gen Sü­den war ur­hel­ve­ti­schen Cha­rak­ters, in un­ru­hi­gem und un­ge­fü­gem Zick­zack, eine wil­de Welt, die nur durch das Blau der Som­mer­luft und den Glanz von Schnee und See ei­ni­ger­ma­ßen zu­sam­men­ge­hal­ten war. Wen­de­te der Kan­tor aber den Blick rechts, ge­gen Abend, so sah er in das ru­hi­ge Tal der Lim­mat hin­aus, durch wel­ches der Fluss, an we­ni­gen Punk­ten auf­leuch­tend, hin­zog und in den sanft ge­run­de­ten und ge­schmieg­ten Hö­hen­li­ni­en sich ver­lor. Von ei­nem mas­si­gen Nuß­baum und ein paar jun­gen Eschen ein­ge­fasst, glich das Tal, wenn es im Abend­gol­de schwamm, in sei­ner maß­vol­len Ein­fach­heit ei­nem Bil­de des Loth­rin­gers, der vier­hun­dert Jah­re spä­ter mal­te. Nach die­ser Rich­tung hin schau­te der alte Herr Kon­rad am liebs­ten, wenn er hier oben aus­ruh­te; denn der Frie­den die­ses An­blickes er­götz­te und be­ru­hig­te sein trotz der Jah­re im­mer er­reg­tes Ge­müt.

    Als er sich nun zum Wei­ter­ge­hen wen­de­te und die Höhe vollends ge­wann, zeig­te sich auf dem Rücken des Ber­ges aber­mals ein neu­es Land­schafts­bild. Jen­seits wal­di­ger Grün­de und Hän­ge dehn­te sich ge­gen Nor­den und Os­ten fla­che­res Land, am wei­ten Ho­ri­zon­te von tief­blau­en schma­len Hö­hen­zü­gen be­grenzt. Im vor­ders­ten Pla­ne aber stan­den Grup­pen ho­her Eich­bäu­me, zwi­schen de­ren Kro­nen­dun­kel die wei­ßen Wol­ken glänz­ten. Die­se Ge­gend konn­te eben­so gut im Spess­art oder im Oden­wal­de lie­gen, wenn man das Auge nicht rück­wärts wand­te.

    Da und dort zwi­schen den Bäu­men war die Hof­s­tät­te ei­nes der Berg­ge­nos­sen zu er­bli­cken, die bis hier hin­auf ihre Woh­nun­gen zer­streut hat­ten, mehr als ei­ner noch von den ur­sprüng­li­chen frei­en Män­nern der Berg­ge­mein­de ab­stam­mend und den Hof in al­ter Frei­heit fort­füh­rend. Un­be­zwei­felt war ein sol­cher der Bau­er Ruoff oder Ru­dolf am Ha­de­laub, des­sen Haus am Ran­de ei­nes die­sen Na­men tra­gen­den Laub­ge­höl­zes stand. Der Name deu­tet auf einen Streit, der einst in dem Holz oder um das Holz ge­sche­hen sein mag; er kommt aber un­ter den jet­zi­gen Flur­na­men nicht mehr vor, weil das gan­ze Grund­stück in ei­nem grö­ße­ren Be­sitz auf­ge­gan­gen und auch der Hof längst ver­schwun­den ist; in­des­sen heißt heu­ti­gen Ta­ges noch eine kaum fünf­hun­dert Schrit­te wei­ter nörd­lich ge­le­ge­ne Wald­par­zel­le das Streit­holz. Da­mals aber lag das Haus, aus grö­ße­ren und klei­ne­ren Bach- und Feld­stei­nen ge­baut und mit ei­nem nied­ri­gen Schin­del­da­che ver­se­hen, samt dem höl­zer­nen Vieh­stal­le dicht an ei­ner der Schluch­ten, in wel­chen der Wolf­bach her­nie­der­fließt.

    Hier­her lenk­te aber jetzt Herr Kon­rad, das Mäd­chen an sich ru­fend, sei­nen Schritt und sprach bei dem Hof­be­sit­zer vor. Der lan­ge kno­chi­ge

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