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Neun Tage Königin: Roman.
Neun Tage Königin: Roman.
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Neun Tage Königin: Roman.

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About this ebook

Die New Yorker Antiquitätenhändlerin Jane Lindsay findet in einem alten Gebetbuch versteckt einen kostbaren Ring mit der Inschrift "Jane". Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf das Leben der Adeligen Jane Grey, die im England des 16. Jahrhunderts zur Königin ausgerufen wurde, bis sie - nach nur neun Tagen - von Mary, der Tochter von Heinrich VIII., verdrängt wurde. Fasziniert taucht Jane immer tiefer in das Leben ihrer Namensvetterin ein, was nicht ohne Folgen bleibt ...
LanguageDeutsch
PublisherGerth Medien
Release dateMar 4, 2013
ISBN9783961221271
Neun Tage Königin: Roman.

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    Book preview

    Neun Tage Königin - Susan Meissner

    Über die Autorin

    Susan Meissner ist eine vielfach ausgezeichnete

    Zeitungskolumnistin, Ehefrau eines Pastors und lehrt Journalismus an einer Highschool. Sie lebt mit ihrem Ehemann Bob und den vier gemeinsamen Kindern in Minnesota.

    Fünf ihrer Romane wurden bereits erfolgreich ins Deutsche übersetzt: „Leih mir deine Flügel, „Die Stimme meines Herzens, „Die Weite des Himmels, „Die Farben des Lebens und „Ein Garten voller Träume".

    88550.jpg

    Aus dem Englischen übersetzt

    von Antje Balters

    88585.jpg

    Originally published in English under the title „Lady in Waiting" by Susan Meissner.

    Copyright © 2010 by Susan Meissner

    Published by WaterBrook Press an imprint of The Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc.,

    12265 Oracle Boulevard, Suite 200, Colorado Springs, Colorado 80921, USA, International rights contracted through:

    Gospel Literature International, P.O. Box 4060, Ontario, California 91761-1003, USA

    This translation published by arrangement with WaterBrook Press, an imprint of The Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc.

    © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

    1. Auflage 2013

    Bestell-Nr. 816752

    ISBN 978-3-96122-127-1

    Umschlaggestaltung: Hanni Plato

    Umschlagfotos: 816752 – Corbis, Peter Harholdt;

    16752 – Corbis, Franz Xavier Winterhalter

    Lektorat und Satz: Nicole Schol

    Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

    Für Bob,

    den einen, für den mein Herz schlägt

    In jedem Steinblock steckt eine Skulptur, und es ist Aufgabe des Bildhauers, sie zu entdecken.

    Michelangelo

    Inhalt

    Jane

    Eins

    Zwei

    Drei

    Vier

    Fünf

    Lucy

    Sechs

    Sieben

    Acht

    Neun

    Zehn

    Jane

    Elf

    Zwölf

    Dreizehn

    Vierzehn

    Fünfzehn

    Lucy

    Sechzehn

    Siebzehn

    Achtzehn

    Neunzehn

    Zwanzig

    Jane

    Einundzwanzig

    Zweiundzwanzig

    Dreiundzwanzig

    Vierundzwanzig

    Fünfundzwanzig

    Lucy

    Sechsundzwanzig

    Siebenundzwanzig

    Achtundzwanzig

    Neunundzwanzig

    Dreißig

    Jane

    Einunddreißig

    Zweiunddreißig

    Dreiunddreißig

    Vierunddreißig

    Fünfunddreißig

    Lucy

    Sechsunddreißig

    Anmerkung der Autorin

    Danksagungen

    Jane

    Upper West Side, Manhattan

    schnoerkel.eps

    Eins

    Die Uhr auf dem Kaminsims war von exquisiter Qualität, auch wenn die Zeiger auf zwanzig nach zwei stehen geblieben waren. Soweit ich erkennen konnte, war sie aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt, und die schimmernde Patina vermittelte einen warmen Eindruck. In die Wirbel der Holzmaserung waren Rosenknospen eingeritzt, die die Uhr an beiden Seiten wie zwei Brautsträuße säumten. An der Oberseite war der Korpus abgerundet und glatt wie der verhangene Kopf einer Madonna. Als ich mit der Hand über die glatt polierte Oberfläche fuhr, fühlte es sich an, als berührte ich warmes Wasser.

    Der Legende nach hatte die Uhr ursprünglich der jungen Frau eines Arztes aus Southampton gehört und war im Jahr 1912 genau in dem Augenblick stehen geblieben, als die Titanic gesunken und die Besitzerin der Uhr dadurch zur Witwe geworden war. Der einzige Trost der trauernden Frau war die Tatsache gewesen, dass ihre Uhr das furchtbare Schicksal ihres Mannes scheinbar vorausgeahnt hatte und ihr Begleiter war in dem Schmerz, der sie geradezu lähmte. Die Frau hatte nie wieder geheiratet und auch die Uhr nie reparieren lassen.

    Ich hatte das Stück unbesehen für den Antiquitätenladen meiner Großtante gekauft, genau wie viele andere Stücke zuvor, die jetzt in den Schauvitrinen standen. In den anderthalb Jahren, die ich jetzt schon für das Warenangebot in dem Antiquitätenladen verantwortlich war, hatte ich die besten Stücke von irgendwelchen Haushaltsauflösungen und Ramschverkäufen alter Anwesen bekommen, auf die meine englische Auflösung eines Anwesens in Felixstowe aufgetrieben, und der Auktionator, so erzählte sie mir später, sei völlig unberührt gewesen von der traurigen Geschichte des schönen Stückes. Emma berichtete, der Mann hätte die Geschichte über die Herkunft der Uhr von einem Zettel abgelesen, und zwar in einem Tonfall, als würde er die Gebrauchsanweisung einer Waschmaschine vortragen.

    Meine Mutter sah mir dabei zu, wie ich die Uhr jetzt auf den schwarz lackierten Sims über dem Marmorkamin stellte. Sie hielt eine Bleikristallvase mit Seidennarzissen in der Hand.

    „Eigentlich müsste die Uhr ticken, schmollte sie. „Die Leute werden sich fragen, warum sie nicht tickt. Sie stellte die Vase auf dem Kaminboden ab und trat dann zurück, wobei ihre Absätze ein klackerndes Geräusch auf dem Parkettboden machten. „Wenn sie ginge, hättest du sie wahrscheinlich schon längst verkauft. Hat Wilson sie sich schon angesehen? Du hast mir doch erzählt, er könne alles reparieren."

    Ich wischte ein Staubkorn vom Ziffernblatt der Uhr. Nein, ich hatte den Ur-Mitarbeiter des Ladens und inoffiziellen Universalmechaniker nicht gebeten, sie zu reparieren. „Es wäre aber nicht mehr dieselbe Uhr, wenn sie funktionieren würde", wandte ich daher ein.

    „Es wäre eine Uhr, die das tun würde, wozu sie da ist", entgegnete meine Mutter energisch, beugte sich vor und zupfte eine der Narzissenblüten zurecht.

    „Es ist aber nicht irgendeine Uhr, Mutter", hielt ich ihr entgegen und trat jetzt ebenfalls einen Schritt zurück.

    Meine Mutter verschränkte die Arme über ihrem teuren Hosenanzug. Hellblau war er, die Farbe von Babydecken und Rotkehlcheneiern. Es war ihre Farbe, ihr Markenzeichen.

    „Hör mal, die Sache mit der ,Titanic‘ und der jungen Witwe – das mag ja alles stimmen, Jane, aber du hast dafür nicht den geringsten Beweis. Nie und nimmer wirst du die Uhr aufgrund dieser Geschichte verkaufen."

    Bei dem Gedanken, mich von der Uhr trennen zu müssen, stieg Traurigkeit in mir auf. So etwas kommt vor, wenn man im Verkauf arbeitet. Manchmal fällt es einem schwer, sich von dem zu trennen, was man erworben hat, um es wieder zu verkaufen.

    „Ich überlege, ob ich sie nicht vielleicht selbst behalten sollte."

    „Aber wenn du dich nicht von den Waren trennen kannst, verdienst du nichts." Das flüsterte meine Mutter zwar nur ganz leise vor sich hin, aber ich hatte es trotzdem gehört. Das war ihre Art, mir mitzuteilen, was sie von meiner Arbeit im Laden ihrer Tante hielt – den sie geerbt hatte, als ihre Großtante Thea gestorben war –, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie sich einmischte.

    Meine Mutter glaubt, dass sie sich große Mühe gibt, sich nicht einzumischen, und dass es ihr auch gelingt. Aber das ist auch eines ihrer Talente: sich einzumischen und zu glauben, sie täte es nicht. Meine jüngere Schwester Leslie treibt sie dadurch geradezu in den Wahnsinn.

    „Möchtest du, dass ich sie wieder mit in den Laden nehme?", fragte ich.

    „Nein, das nicht! Sie passt ja perfekt dorthin. Ich wünschte nur, sie würde ticken", sagte sie fast schmollend.

    Ich griff nach der kleinen Kiste zu meinen Füßen, in der ich die Uhr mitgebracht hatte und außerdem noch ein paar alte Ausgaben von Shakespeares Werken, einige Zinnleuchter und eine Wedgewood-Vase. „Du kannst ja eine CD mit Soundeffekten kaufen und dann eine tickende Uhr als Endlosschleife laufen lassen", scherzte ich.

    Mit kindlicher Entschlossenheit im Blick drehte sie sich zu mir um und sagte: „Was meinst du, ob es wohl schwierig ist, so eine CD aufzutreiben?"

    „Das war nur ein Scherz, Mama! Schau dir doch nur an, womit du dich dann zufriedengeben müsstest!", meinte ich und deutete auf die Stereoanlagenattrappe, die sie in einem Lackphonoschrank hinter uns aufgebaut hatte. Meine Mutter verwendete nie echte Elektrogeräte in den Häusern, die sie zum Verkauf herrichtete, obwohl sie das bei der Klientel, mit der sie normalerweise zu tun hatte – reiche Immobilienmakler und ebenso wohlhabende Käufer und Verkäufer –, ganz bestimmt hätte tun können.

    „Dann hole ich eben einen tragbaren CD-Player und verstecke ihn zwischen den Kissen am Kamin, sagte sie achselzuckend und wandte sich dann dem angrenzenden Esszimmer zu. Der glänzende schwarze Esstisch war mit weißem Porzellan, hellgelben Leinenservietten, jeder Menge falschem Hähnchensalat, dunkelroten Plastiktrauben, Plastikcroissants und Petit Fours gedeckt. Ein Gesteck aus Weidenkätzchen schmückte die Tischmitte. „Findest du die Weidenkätzchen zu rustikal?

    Sie wollte, dass ich Ja sagte, und deshalb tat ich ihr den Gefallen.

    „Mir gefallen sie dort auch nicht mehr, meinte sie. „Ich glaube, wir tauschen sie lieber gegen die Vase mit Gerbera aus, die bei dir im Laden auf dem alten Sekretär vorne im Schaufenster steht. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe, die hier zu kaufen. Bei diesen Worten griff sie nach den unglückseligen Weidenkätzchen. „Das Gesteck hier können wir auf den Tisch am Eingang stellen, auf dem unsere Visitenkarten liegen."

    Sie drehte sich zu mir um. „Du hast doch diesmal an deine Karten gedacht, oder? Es wäre dumm, sich all die Arbeit zu machen und dann nicht zu versuchen, dadurch auch neue Kunden zu gewinnen."

    Meine Mutter ging entschlossenen Schrittes mit den Weidenkätzchen nach vorn in den Eingangsbereich. Ich folgte ihr.

    Dies war erst das zweite Haus, bei dem ich offiziell mit ihr zusammenarbeitete, um es für den Verkauf herzurichten. Beim ersten hatte ich noch keine Visitenkarten dabeigehabt, weil meine Mutter mich erst gefragt hatte, ob ich mitkommen

    und ihr helfen wolle, als sie praktisch schon unterwegs gewesen war. Sie hatte mir dann aber auch sofort mitgeteilt, dass ich niemals irgendwo hingehen dürfe, ohne Visitenkarten dabeizuhaben. Nicht einmal auf die Toilette. Und dann hatte sie mich abwartend angeschaut, als wolle sie mich auffordern, sofort meinen BlackBerry zu zücken und mir ihre Anordnung zu notieren.

    „Ich habe Karten dabei, sagte ich also jetzt, griff in die Tasche meiner Caprihose und holte ein paar der Hochglanzfirmenkarten heraus. Sie waren mit der Aufschrift „Amsterdam Avenue Antiquitäten und dem Firmenlogo bedruckt –

    drei verschnörkelten A, die wie ein keltischer Ewigkeitsknoten ineinander verschlungen waren. Ich gab sie ihr, und sie legte sie auf einen Silberteller neben ihre eigenen Visitenkarten. „Sophia Keller – Innenausstattung und Home Staging". Die Weidenkätzchen sahen vor der hohen jutefarbenen Wand wirklich wunderschön aus.

    „So, das sieht schon besser aus!", sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. Dann drehte sie sich um und begutachtete noch einmal den Gesamteindruck des großen Raums im Erdgeschoss. Die Eigentümer des zum Verkauf stehenden Stadthauses waren in die Hamptons gezogen und verkauften ihre Immobilien in Manhattan, um mit dem Erlös einen sorgenfreien Ruhestand finanzieren zu können. Die Hälfte aller Dekorationsgegenstände – Bücher, Vasen und gerahmte Drucke – waren Leihgaben aus Tante Theas Antiquitätenladen. Meine Mutter, die seit zwei Jahren Immobilien für den Verkauf herrichtete, hatte mich ein paar Monate zuvor in ihre Firma aufgenommen, als sie gemerkt hatte, dass sich ein Haus, das mit hübschen, echten Antiquitäten dekoriert ist, schneller und leichter verkaufen lässt als eines, in dem nur Reproduktionen zu sehen sind.

    „Du und Brad, ihr solltet aus diesem winzigen Apartment an der West Side ausziehen und das hier kaufen. Die Eigentümer verschenken es ja praktisch."

    Das sagte sie in einem Tonfall, der nach einer Reaktion meinerseits verlangte, aber ich ließ ihre Bemerkung einfach in den Sonnenstrahlen verfliegen, die in den Raum fielen und uns liebkosten. Es war eine Bemerkung, auf die ich nichts zu entgegnen wusste.

    Meine Mutter ließ ihren Blick durch die beiden großen Räume schweifen, die sie eingerichtet hatte, und verzog missmutig das Gesicht, als er auf den Kaminsims mit der stummen Uhr fiel.

    „Nun, dann werde ich eben später noch einmal zurückkommen müssen, sagte sie in die Stille hinein. „Der Besichtigungstermin ist gleich morgen früh. Sie drehte sich um und meinte: „Komm, ich bringe dich noch zurück zum Laden."

    Wir traten hinaus in die Aprilsonne und gingen zu ihrem Lexus, der auf der gegenüberliegenden Seite vor einer Reihe von Stadthäusern geparkt war, die genauso aussahen wie das, welches wir gerade verlassen hatten. Als wir losfuhren, wurde das Schweigen im Auto bedrückend, und ich holte mein Handy aus der Handtasche, um nachzuschauen, ob mir irgendwelche Anrufe entgangen waren. Auf dem Hinweg hatte ich ein geschäftliches Telefonat mit Emma geführt. Es war dabei um eine Kiste mit alten Büchern gegangen, die sie auf einem Flohmarkt in Cardiff erstanden hatte. Das Gespräch hatte die gesamte Fahrtzeit vom Laden bis zu dem Stadthaus gedauert, und mir wäre es am liebsten gewesen, wenn ich jetzt wieder so ein geschäftliches Gespräch mit jemandem hätte führen können. Meine Mutter würde nämlich bestimmt nach Brad fragen, wenn das Schweigen noch länger andauerte. Mein Handy zeigte jedoch leider keinen Anruf in Abwesenheit an, und ich begann, mir das Hirn nach einem Gesprächsthema zu zermartern. Plötzlich fiel mir ein, dass ich meiner Mutter noch gar nicht von der neuen Verkäuferin erzählt hatte, die ich für den Antiquitätenladen eingestellt hatte. Ich holte also Luft, um ihr von Stacy zu erzählen, aber da war es bereits zu spät.

    „Und, was hast du so von Brad gehört?", fragte sie munter.

    „Es geht ihm gut. Meine Antwort kam so schnell, dass es klang, als hätte ich sie eingeübt. Meine Mutter wandte den Blick kurz von der Straße ab und sah zu mir herüber, um dann ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Straße zu richten. Vor ihr fuhr ein Taxi los und schnitt sie, woraufhin sie auf die Hupe drückte. Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Was meinst du denn, wie lange er noch in New Hampshire bleiben wird?, fragte sie mit gerunzelter Stirn. „Ihr wollt doch sicher nicht ewig zwei Haushalte führen, oder?"

    Ich atmete hörbar aus. „Es ist ein wirklich guter Job, Mama. Ihm gefallen die Abwechslung und die neuen Aufgaben, und außerdem ist er doch auch erst seit zwei Monaten weg."

    „Das mag ja sein, aber es ist doch für euch beide sicher ziemlich anstrengend und umständlich, zwei Haushalte zu führen, ganz zu schweigen von den Kosten und den langen Trennungen. Sie hielt inne, aber nur für einen kurzen Moment. „Ich verstehe einfach nicht, wieso er nicht etwas Entsprechendes hier in New York finden konnte. Bieten denn nicht alle großen Kliniken in etwa die gleichen Stellen für Radiologen? Das hat mir jedenfalls dein Vater erzählt, und der muss es doch schließlich wissen.

    „Dass es überall ähnliche Jobs an Kliniken gibt, muss doch nicht unbedingt heißen, dass auch die passenden Stellen frei sind, Mama."

    Sie trommelte auf dem Lenkrad herum. „Ja, aber dein Vater hat gesagt …"

    „Ich weiß, dass Vater meint, er hätte Brad helfen können, auf Long Island etwas zu finden, Mama, aber Brad wollte nun mal genau diesen Job. Und ich will dir ja auch nicht zu nahetreten, Mama, aber die Leitung des technischen Dienstes stellt nun mal keine Radiologen ein."

    Wahrscheinlich hätte ich mir diese Anmerkung lieber verkneifen sollen. Wahrscheinlich würde sie nämlich meinem Vater jetzt erzählen, was ich gesagt hatte, und zwar nicht, um ihn zu verletzen, sondern nur, um ihrem Frust darüber Luft zu machen, dass sie mich nicht davon hatte überzeugen können, dass sie recht hatte und ich unrecht. Trotzdem würde es ihn verletzen.

    „Tut mir leid, Mama, fügte ich also rasch hinzu. „Bitte erzähl ihm nicht, dass ich das gesagt habe, okay? Ich möchte das alles nicht schon wieder aufwärmen.

    Aber sie war noch nicht fertig. „Dein Vater ist seit siebenundzwanzig Jahren an der Klinik, und er kennt dort sehr viele Leute." Die letzten drei Worte betonte sie mit einem herausfordernden Blick in meine Richtung.

    „Das weiß ich, Mama. Aber darum geht es doch gar nicht. Es ist nur so, dass Brad sich genau so einen Job immer gewünscht hat. Er arbeitet dort mit Krebspatienten, und genau das möchte er."

    „Aber der Job ist in New Hampshire!"

    „Na ja, Connor ist ja auch in New Hampshire!" Sogar in meinen Ohren klang es erbärmlich, den Studienort unseres Sohnes als Begründung für die Tatsache anzuführen, dass mein Mann und ich derzeit in gewisser Weise getrennt lebten. Connor hatte mit all dem nun wirklich nichts zu tun. Und außerdem wohnte er über eine Autostunde von Brad entfernt.

    „Und du bist hier, sagte meine Mutter betont gleichmütig. „Wenn Brad unbedingt aus der Stadt rauswollte, dann hätte es sicher jede Menge ruhigere Kliniken in unmittelbarer Nähe gegeben. Und auch jede Menge kranker Leute.

    Da war ein Unterton in ihrer Stimme, unterschwellig, aber trotzdem unüberhörbar, der mir deutlich signalisierte, dass es hier keineswegs um kranke Menschen und Krankenhäuser und die Entfernung zwischen Manhattan und Manchester ging. Es war, als ahnte sie, was ich ihr und meinem Vater in den vergangenen Wochen zu verschweigen versucht hatte.

    Mein Mann wollte nicht aus der Stadt weg, sondern einfach nur weg.

    Zwei

    In den ersten paar Wochen nach Brads Auszug wachte ich manchmal mitten in der Nacht auf und dachte nicht mehr daran, dass ich ja jetzt allein in dem Doppelbett lag. Instinktiv rutschte ich dann weiter auf Brads Seite, und mir wurde jedes Mal seltsam schwindelig, wenn ich merkte, dass er ja gar nicht da war. Dann klammerte ich mich am Bettlaken fest, so, als wolle ich nicht fallen.

    In den ersten Wochen passierte das jede Nacht, und ich lag danach immer stundenlang wach und konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, warum Brad unbedingt Abstand von mir wollte und warum mich sein Wunsch und dessen praktische Umsetzung so eiskalt erwischt hatten. Nach etwa drei Wochen wachte ich dann nachts nicht mehr mit diesem Schwindelgefühl auf, sondern ich wachte einfach nur auf – manchmal um zwei Uhr morgens, manchmal auch erst um drei – und konnte dann bis zum Tagesanbruch nicht wieder einschlafen.

    Ich hatte wirklich nicht gewusst, dass Brad in unserer Ehe keine Luft bekam. Das war der Teil an der ganzen Sache, der mir so unheimlich vorkam, wenn sich Nacht für Nacht der Schlaf davonmachte. Brad hatte das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen, und ich hatte es nicht bemerkt. Manchmal hielten mich Zweifel wach, manchmal war es Trauer, manchmal Wut – und manchmal war es auch eine Mischung aus allen dreien.

    An dem Morgen, als Brad mir sagte, dass er gehen würde, saßen wir an unserem Küchentisch. Die Teile der Sonntagszeitung lagen verstreut zwischen unseren Kaffeetassen, und der Duft des Omeletts, das ich uns gemacht hatte, hing noch in der Luft. Zwiebel, Paprika und Frühstücksspeck. Es war Mitte Februar, aber die Sonne hatte an jenem Morgen schon ein wenig Kraft, und ihre Strahlen ergossen sich vom Balkonfenster aus über unsere Schultern, als wollten sie hereingebeten werden. Brad sagte meinen Namen. Ich blickte auf und dachte, dass er vielleicht noch Kaffee wollte, doch er sah nicht mich an, sondern schaute zur Wohnungstür.

    „Es gibt ein Stellenangebot für einen Radiologen in einer Klinik in New Hampshire", sagte er.

    Ein paar Sekunden verstrichen, bevor mir klar wurde, dass es hier um etwas ging, das ihm wichtig war. „New Hampshire?"

    Er schaute auf seine Kaffeetasse und strich mit dem Daumen über den Henkel.

    „Ja, in Manchester. Es ist eine Stelle in der Diagnostik, wo ich mit den Onkologen zusammenarbeiten würde, und ein Teil des Jobs ist auch Forschungsarbeit. Man hat mir diese Stelle angeboten."

    Er hob ganz langsam den Kopf, und unsere Blicke begegneten sich.

    „Und du hast sie angenommen?" Gedankenfetzen wirbelten durch meinen Kopf. Ich wusste gar nicht so recht, welche Frage ich ihm eigentlich stellen wollte. Warum erzählst du mir das?, schien da für den Anfang ganz angebracht, aber er redete weiter, bevor ich mich für die passende Frage entscheiden konnte.

    „Nun, sie sind auf mich zugekommen, nachdem sie meine Artikel im ,Journal‘ gelesen hatten. Sie hätten mich gern in ihrem Team."

    Vielleicht hätte ich etwas Bestätigendes sagen sollen, hätte deutlich machen sollen, wie stolz ich darauf war, dass man ihn auserwählt hatte, aber ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass Brad sich tatsächlich für diesen Job entscheiden könnte und wir aus New York weggehen müssten. Ich fragte mich schon, wie ich meiner Mutter und Tante Thea beibringen sollte, dass ich das Antiquitätengeschäft aufgeben müsse. Thea, die in einer betreuten Seniorenwohnanlage in Jersey City untergebracht war, würde wahrscheinlich darauf bestehen, dass dann meine Mutter wieder die Geschäftsführung übernahm, denn sie vertraute nur Blutsverwandten. Und darüber wiederum würde meine Mutter wahrscheinlich nicht besonders begeistert sein, denn Antiquitäten waren nicht ihr Ding. Und schon allein der Gedanke an meinen Umzug, daran, all das zu verlassen, was mir vertraut war, beunruhigte mich.

    „Aber das ist in New Hampshire – weit weg", sagte ich.

    Er strich erneut über den Henkel seiner Tasse. „Es wäre ein Riesenschritt auf der Karriereleiter für mich", fügte er hinzu und starrte weiterhin auf den Tisch hinab.

    Meine Gedanken wanderten zu meinen Eltern. Sie würden einen solchen Wechsel wahrscheinlich als kometenhaften Aufstieg betrachten, selbst wenn es bedeutete, dass wir Manhattan würden verlassen müssen. Auf jeden Fall würde mein Vater es so sehen. Meine Eltern vergötterten Brad; das war schon immer so gewesen. Sie würden sicher nicht ausflippen, wenn ich ihnen erzählte, dass wir wegziehen würden, aber meine Mutter wäre wahrscheinlich verärgert darüber, dass ich dann den Laden nicht mehr würde führen können …

    „Und willst du dir die Sache denn mal anschauen?", fragte ich schließlich.

    Meine Frage stieß auf ein Schweigen, das mir endlos vorkam. Und als Brad dann endlich aufblickte, wusste ich es.

    Er hatte den Job bereits angenommen.

    Ich stieß mit dem Ellbogen gegen meine Kaffeetasse, sodass ein kleiner Schwall Kaffees herausschwappte und den Sportteil der Zeitung besprenkelte. „Du hast schon Ja gesagt? Ohne es dir auch nur anzuschauen?"

    „Ich war vergangene Woche zu einem Vorstellungsgespräch da. Sie haben mir den Flug bezahlt …"

    Ich empfand eine Mischung aus Beschämung und Überraschung, die mich erröten ließ. Brad war wahrscheinlich an einem Tag nach New Hampshire und wieder zurückgeflogen, an dem ich davon ausgegangen war, dass er eine Zwölfstundenschicht hatte.

    „Warum hast du mir nichts davon gesagt?", murmelte ich.

    Er schob seine Tasse von sich weg. „Weil ich mir die ganze Sache allein ansehen wollte."

    Die Luft im Raum schien zu stehen. „Aber warum?"

    Brad strich sich mit der Hand über sein noch unrasiertes Gesicht. „Weil … weil ich da schon wusste, dass ich dich nicht bitten würde, meinetwegen irgendwelche Veränderungen in deinem Leben vorzunehmen."

    Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „Was soll denn das heißen?"

    Doch ich wusste es schon. Es sollte heißen, dass er allein nach New Hampshire gehen wollte.

    Er stieß beim Ausatmen einen Seufzer aus wie jemand, der um eine Erklärung für etwas gebeten wird, das eigentlich sonnenklar ist. „Ich glaube, es ist Zeit, dass wir ehrlich sind, sagte er, und es klang so, als hätte er diese Situation schon hundertmal durchgespielt. „Ich glaube, wir brauchen eine kleine Auszeit.

    Mein erster Gedanke war, dass er einen Scherz machte. Aber über so etwas macht man keine Scherze. Das Schlimmste war jedoch, dass er offenbar glaubte, ich wüsste Bescheid. Er glaubte, dass ich es ebenfalls für nötig hielt, ein bisschen Abstand zu bekommen. Dass ich auch der Meinung sei, unsere Ehe stecke in einer Sackgasse. Dass ich ebenfalls glaubte, eine vorübergehende Trennung würde uns guttun, und dass ich nur so getan hätte, als wäre mir das nicht ebenfalls klar. Er musste schon eine ganze Weile so empfunden haben. Und ich hatte keine Ahnung gehabt.

    Augenblicklich kamen mir die Tränen. Zwei davon lösten sich und liefen mir übers Gesicht. Brad wandte den Blick ab.

    „Eine Auszeit wovon?, flüsterte ich. „Brauchst du eine Auszeit von mir?

    „Jane …", setzte er an, und plötzlich überfiel mich der Gedanke, dass er eine Affäre haben könnte, mit einer solchen Wucht, dass mir schwindelig wurde.

    „Gibt es eine andere?, platzte es aus mir heraus. „Gibt es eine andere Frau? Hast du eine Affäre?

    „Nein."

    Die Antwort kam sehr schnell, aber auch mit derselben müden Stimme.

    „Du hast keine Affäre?" Ich hätte ihm gern geglaubt, hatte aber gleichzeitig auch Angst davor, es zu tun.

    „Nein, ich habe keine Affäre."

    Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, er hätte Ja gesagt. Ich wünschte, er hätte eine Affäre gehabt, denn dann hätte es wenigstens jemanden gegeben, auf den ich hätte wütend sein können. Jemanden, dem ich die Schuld hätte geben können. Mir liefen weiter die Tränen. Brad griff nach der Schachtel mit Taschentüchern auf dem Küchentresen, nahm eines heraus und hielt es mir hin. Ich ignorierte es und wischte mir mit dem Ärmel meines Bademantels die Tränen ab.

    „Ich verstehe das alles nicht", sagte ich.

    Er warf das Taschentuch auf den Tisch. „Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du glaubst, bei uns wäre alles in Ordnung, oder? Eigentlich hätte es gar nicht nötig sein müssen, es so deutlich auszusprechen. Ich wollte dir jedenfalls nicht wehtun."

    „Was hast du denn geglaubt, wie ich mich fühlen würde, wenn du mir das sagst? Feindseligkeit stieg in mir auf, die von Schmerz und Fassungslosigkeit herrührte. „Was hast du denn gedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn du mir sagst, dass du mich verlassen willst?

    „Ich habe nicht gesagt, dass ich dich verlassen will, sondern dass wir eine Auszeit brauchen."

    „Aber Tatsache ist doch, dass du mich verlässt." Ich legte die Hände in meinen Schoß, damit sie ruhiger wurden.

    „Ich glaube einfach, dass es uns beiden guttun würde, eine Zeitlang getrennt zu leben, um zu sehen, ob es überhaupt noch etwas gibt, das uns zusammenhält."

    Mein Gesicht brannte, als hätte er mich geohrfeigt. „Was sagst du denn da?"

    „Ich glaube, dass Connor das Einzige ist, was uns noch verbunden hat. Sein Auszug war im Grunde der letzte Nagel im Sarg unserer Ehe. Seitdem ist es nicht mehr wie früher, und ich glaube, das weißt du auch."

    Ich machte den Mund auf, um zu protestieren, aber ich fand keine Worte. In diesem Augenblick erkannte ich, dass ich nicht genug unternommen hatte, um mit der Leere fertigzuwerden, die entstanden war, als Connor seine Siebensachen gepackt hatte, um in Dartmouth zu studieren. Und Brad auch nicht. In den vergangenen anderthalb Jahren war es mir oft so vorgekommen, als würden wir zwischen Connors Semesterferien und seinen Besuchen zu Hause die Luft anhalten. Brad war damit offenbar ganz anders umgegangen – zum Beispiel, indem er sich ein Leben ohne mich ausgemalt hatte. Aber was er da vorschlug, wollte mir einfach nicht einleuchten.

    „Wie soll uns denn eine Trennung dabei helfen, herauszufinden, was uns noch zusammenhält?", fragte ich.

    „Wenn wir zusammen sind, bekommen wir es ja offenbar auch nicht heraus", antwortete er.

    Auch das saß. Ich griff nach den Taschentüchern, und er gab mir eines.

    „Sollten wir es nicht erst noch mal mit einer Eheberatung versuchen?", fragte ich

    Er zögerte kurz. „Vielleicht. Nach einer Weile. Im Moment brauche ich einfach mehr Raum. Für mich. Und ich glaube, den brauchen wir beide."

    Ich nahm den französischen Kaffeebereiter, stand auf, ging in die offene Küche und stellte die Kanne so fest auf den Küchentresen, dass der Kaffee überschwappte.

    „Jane?"

    „Und für wie lange?" Ich stand mit dem Rücken zu ihm.

    „Das … das weiß ich noch nicht."

    „Und was ist mit Connor? Was sollen wir ihm sagen?"

    „Wir sagen ihm nur so viel, wie er unbedingt wissen muss. Dass ich ein tolles Stellenangebot in New Hampshire bekommen habe und für eine Weile dorthingehe, um herauszufinden, ob wir uns beide einen Umzug vorstellen könnten."

    Ich drehte mich um und sah ihn an, meinen Ehemann, den Radiologen, dessen Aufgabe darin bestand, ins Innere der Menschen zu schauen. „Willst du das wirklich?"

    Er schloss die Augen, als hätte ich die falsche Frage gestellt und er müsse jetzt erst eine Antwort suchen, die zu der Frage passte. „Ja, ich muss das tun."

    Eine ganze Weile schwiegen wir beide. Dann erzählte er mir systematisch, so als hätte er es eingeübt, dass er eine möblierte Wohnung in der Nähe seiner neuen Klinik gemietet habe, dass das Memorial-Krankenhaus, in dem er jetzt noch arbeitete, bereits über alles informiert sei und einer frühzeitigen Vertragsauflösung zugestimmt habe, sodass er bereits am folgenden Dienstag seine neue Stelle antreten könne. Er fragte mich, ob er den Wagen mitnehmen könne, obwohl er sowieso ihm gehörte. Dann meinte er, wir könnten die Zeit der Trennung ja nutzen, um herauszufinden, wohin wir eigentlich innerlich unterwegs seien.

    „Und was soll ich meinen Eltern sagen?", fragte ich. Meine Wangen waren nass von den Tränen, die geflossen waren, während er mir erzählt hatte, was bereits alles geregelt war.

    Brad erhob sich. „Was haben denn deine Eltern damit zu tun?"

    „Ich muss ihnen doch irgendetwas sagen."

    „Sag ihnen, dass ich schuld bin."

    Er wollte an mir vorbei, um die Küche zu verlassen – vermutlich, um zu packen –, aber ich streckte meine Hand aus und berührte ihn am Arm, sodass er stehen blieb.

    „Aber du hast letzte Nacht mit mir geschlafen", flüsterte ich.

    Als er darauf nichts entgegnete, schaute ich zu ihm auf. Er blickte auf meine Hand, die auf seinem Arm lag, und wartete, dass ich losließ.

    Er sagte zwar nichts, aber plötzlich wusste ich, was er dachte.

    Was wir in der letzten Nacht zusammen erlebt hatten, war der körperliche Rest unseres Einsseins. Er hatte es geprüft und für nicht mehr ausreichend befunden.

    Wir hatten zweiundzwanzig Jahre lang im selben Haus gelebt, ein Auto geteilt, dieselben Freunde gehabt und in einem Bett geschlafen. Und es war Connor gewesen, der die losen Fäden miteinander verknüpft hatte.

    Ich ließ meine Hand sinken.

    Ich hatte die Anzeichen dafür, dass Brad sich in unserer Ehe nicht mehr wohlfühlte, wirklich nicht bemerkt. Es hatte sie mit Sicherheit gegeben, aber ich hatte sie übersehen. Meine beste Freundin Molly, an deren Schulter ich mich am Tag nach Brads Auszug ausweinte, meinte, ich hätte mich vielleicht mit der

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