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Nitro
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Ebook320 pages4 hours

Nitro

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About this ebook

Von seinem Büro im riesigen Bankenturm taucht Mike Hauser immer wieder ein in das bunte Treiben am Wiener Donaukanal: Graffiti-Künstler, Partymacher, Liebespaare. Die Gegenwelt zum Bankenturm. Die Freiheit, die er immer haben wollte. Und manchmal sogar Exerzierfeld für Mörder.
LanguageDeutsch
Release dateDec 12, 2017
ISBN9783902924797
Nitro

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    Nitro - Fritz Lehner

    Milchstraße

    1

    Feuerrad-Galaxie

    Alles war so wie immer. Mike mochte diese Stunde, diesen Platz im Schatten des Baumes, auf der siebenten Stufe der großen Stiege, den Blick auf den Himmel, die vorbeiziehenden Rundfahrtschiffe mit den Touristen, die Angler, die leichte Brise in der tropischen Hitze. Mike liebte den Donaukanal. Andere saßen in der Kantine der Danubia-Bank und wählten tagaus tagein unter den drei Mittagsmenüs, er aber zog es vor, leicht hungrig zu bleiben, und vor allem nüchtern. Mike wollte auch nicht einer von jenen sein, die schon um diese Zeit zu einem oder zwei Gläsern greifen mussten, um die anstrengenden Stunden in der Bank zu überstehen. Dramatische Stunden. Weil über Schicksale entschieden wurde. Wie oft hatte er im Lift bei einer Fahrt vom 17. Stockwerk ins Erdgeschoss Männer mit Tränen in den Augen gesehen oder mit einem irren Blick, der auf den kleinen Schaukasten mit der Tageskarte der Kantine geheftet war. Ihnen waren Kredite verweigert oder fällig gestellt worden. Voller Hoffnung waren sie in das höchste Haus am Donaukanal gekommen, ohne Existenz und gebrochen verließen sie es. Aber es gab auch andere. Viele sogar. Unternehmer mit Zusagen der Bank in ihren Aktenkoffern und mit einem Ausblick auf eine goldene Zukunft. Mike war sich sicher, dass mehr glückliche Menschen aus seinem Turm traten als solche, bei denen man Angst haben musste, dass sie mit ihrem Auto gegen die nächste Hauswand rasen oder sich gleich von der Salztorbrücke in das Wasser des Donaukanals stürzen würden. Der Fluss war so schnell, dass sie sich ihres Todes sicher sein konnten und ihre Leichen erst einige Kilometer entfernt irgendwo im Freudenauer Hafen zum Stillstand kämen. Mike würde keinem nachspringen, obwohl er ein guter Schwimmer war. Mike gehörte zu den Menschen, die nie untergingen. In den letzten Jahren aber war er eher ein heimlicher Sieger gewesen, einer, den man kaum beachtete, auf den man hinuntersehen konnte. Nur weil er drei Studien begonnen, aber keines beendet hatte. Oder waren es vier? Biologie war auf jeden Fall nicht dabei, obwohl ihn seine Schwester dazu gedrängt hatte. Lieber mit 80 Stundenkilometern gegen eine Hauswand oder gefesselt in den Kanal, als so zu werden wie sie.

    Doch jetzt liebte er seine Schwester. Weil sie verreist war. Seit ein paar Tagen keine Belehrungen, keine Kommandos mehr. In ihrer Schule war Inge nur Professorin für Biologie und Chemie, bei Mike jedoch Feldherr. Sie war so beherrschend, dass er sich ihren Geburtstag merkte, obwohl er den seinen manchmal vergaß. Aber er konnte rechnen. Im Frühling war sie 43 geworden, dann musste er jetzt 32 sein. Ein Nachzügler hat es nie leicht, das hatten ihm seine Eltern zugestanden, aber Inge wollte in ihm das Schwarze Schaf sehen, später den verlorenen Sohn, als er auf der Kunstakademie war und sich zu Hause überhaupt nicht mehr blicken ließ. Das änderte sich schlagartig nach dem gemeinsamen Tod der Eltern bei einem Verkehrsunfall. Er konnte zunächst fliehen, über Afrika nach Asien, denn Inge hatte ihn ausbezahlt und das Haus behalten. Es gehörte ihr noch immer, Mike durfte aber jetzt wieder bei ihr wohnen, denn das Erbe hatte er in einem Jahr aufgebraucht.

    Mike blickte von seinem Sitzplatz auf der großen Stiege hinüber zum Danubia-Turm. Die Fassade war kühn, mächtig, aber auch ästhetisch, weil sich das Nachbarhaus und der Himmel in ihrer Wölbung spiegelten. Noch nie war es ihm gelungen, auch nur einen einzigen Menschen darin zu erkennen. Natürlich waren sie da, hunderte, aber die doppelte Verglasung sorgte dafür, dass sie unsichtbar blieben.

    Eben sah Mike Holy auf sich zukommen. Holy kam jeden Tag hierher, und er grüßte sie gerne. Weil es sonst niemand tat, weil das unattraktive Mädchen niemand mochte. Weniger anziehend war nur noch die Katze, ihr ganzer Stolz, eine perverse Züchtung, auch wenn Holy behauptete, dass eine Don Sphynx in Sammlerkreisen höher geschätzt werde als Siams oder Perser und bei Auktionen unglaubliche Preise erzielten. Halloween hieß das Ungeheuer, das sich wie ein Hund an der Leine führen ließ. Von Schatten zu Schatten, denn Halloween war eine haarlose Nacktkatze, die keinen Sonnenbrand bekommen durfte.

    Holy setzte sich drei Stufen höher als Mike. Heute würde sie ihm nicht über die Schulter schauen, weil sie sich konzentrieren musste, damit sie den nackten Alien nicht verletzte.

    Alles war so wie immer. Mike liebte den Donaukanal, diesen Schnitt durch die Stadt, diesen anderen Kosmos fünf Meter unter den glühend heißen Pflastersteinen von Wien. Prächtig vor allem durch eine Flut von Farben. Selbst wenn sich Mike manchmal auf der breiten Steinstiege auf die moosbewachsenen Stufen zurücklehnte und ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen, sah er noch immer das teuflische Rot, das meterhohe Blau, das glänzende Silber und das Gold, heller als die Sonne. Buchstaben, Parolen, Verwünschungen, Hass, aber noch öfter kam die Liebe vor, zu einem Mädchen, zu der ganzen Menschheit.

    Am Donaukanal müsste die Street Art eigentlich Channel Art heißen. Mike nannte sie der Einfachheit halber Graffitis, nicht nur die Schriftzüge, auch die Bilder, obwohl das die Sprayer nicht gerne hörten, denn die richtigen Bezeichnungen waren ihnen wichtig. Fast so wie ihre eigenen Namen: Buzz, Rock, Fiscus, Kongo, Cash, Chaos, Red Cat oder I Love Me. Oder I Hate Me. Oder Nitro.

    Nitro war der Größte. Nicht nur für Mike. Nach seinen Kunstwerken drehte man sich um, vor einem Nitro ließ man sich fotografieren, in den Wänden dieses Meisters versanken die Mädchen. Er selbst aber war so unbekannt wie seine Pieces. Vielleicht gab es ihn überhaupt nicht. Oder er war nur zu Besuch hier, angereist von einem anderen Stern. Das würde zu Nitro passen. Seine Motive waren außerirdisch, nicht nur sein Können. Der Name versprach nicht zu viel, Mike war bestimmt nicht der Einzige, der an Nitroglycerin dachte, an Dynamit, an Explosionen, an Menschen, die damit gefüllte Kapseln zerbissen, damit ihr Herz nicht aufhörte zu schlagen.

    Heute hatte Mike in seiner Mittagspause noch etwas nicht Alltägliches zu erledigen. Die Füllfeder lag schon bereit, der dünne Stapel von Ansichtskarten auch, er musste nur noch eine aussuchen, das konnte dauern. Es war so heiß, dass ihm niemand einen Vorwurf machen würde, wenn er ein paar Minuten zu spät das Hochhaus betrat und in den Lift stieg, um in den 17. Stock zu fahren. Es durfte nur keine halbe Stunde werden. Noch nicht. Erst wenn sein Büro im 19. oder 20. Stock lag.

    Aber er durfte sich nicht beklagen. Für das Wenige, das er konnte, hatte er es schon weit gebracht. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass er ohne den Verkehrsunfall seiner Eltern nicht dort oben wäre. Ein Freund seines Vaters hatte ihn vor einem Jahr in die Danubia gebracht, gleich hinauf in die 17. Etage. Michael Hauser stand auch auf der Bürotür, sonst nichts, aber viele in der Bank wussten, was er tat. Sie grüßten ihn, als hätte er sie in der Hand. Sie erkundigten sich bei ihm, als wüsste er schon ihre Zukunft. Das war auch oft der Fall, und Mike nannte sich den Buchhalter der Schicksale. Es freute ihn, dass er mit Geld nichts zu tun hatte, mit keinem einzigen Kunden der Bank. Er war zuständig für die Organigramme, für die Skizzierung der personellen Hierarchien. Mike Hauser wusste immer als Erster, welcher Mensch im Danubia-Turm einen Grund zum Feiern hatte, weil er nach oben geklettert war, und wer eigentlich nach Hause gehen und sich erschießen müsste, weil das Unternehmen ihn nicht mehr brauchte. Dann schob er auf seinem Bildschirm die Namen und Gesichter hin und her, brachte er den Organismus seines Hauses zum Leuchten, das Oben und Unten, Vorgesetzte und Untergebene, Strahlende und Hoffende, keine Verzweifelten, denn die waren schon zu Hause. Ein Tastendruck genügte schließlich, und das Gefüge aus Macht und Dienen wurde in einem grafischen Meisterwerk zum Anklicken freigegeben. Schaut her, das sind wir, hunderte Mitarbeiter, und alle haben ein Gesicht.

    Mikes Organigramme hatten nur einen Fehler. Er war zwar ihr Schöpfer, kam aber darin lediglich in einer Verästelung vor, mühsam erreichbar, tief unten. Kein schöner Anblick. Mike hasste ihn. Aber Veränderung war ohnehin alles. Schon morgen hatte das Organigramm von heute keine Gültigkeit mehr. In einer Stunde gab es neue Gesichter, darunter von Frauen, die er gerne näher kennenlernen würde, aber noch mehr mochte er die Männer, die er mit einem Klick ins Nichts schicken konnte. Mike Hauser war diesem Computerspiel mit realen Figuren verfallen, und er bekam auch noch bezahlt dafür.

    Jetzt hörte er, wie Halloween über ihm aufjaulte. Holy entschuldigte sich sofort bei der Katze, streichelte das nackte Ungeheuer, küsste es auf die faltige Haut und auf die Ohren, groß wie Segel, sah sogar zu Mike her, wie um Verzeihung bittend.

    »Holy, was du hier machst, ist nicht einfach, ich könnte es nicht.«

    »Sie müssen geschnitten werden, sie müssen, nicht für mich, ich mag es, wenn sie mich kratzt, aber Halloween hat eine so empfindliche Haut. Ich kann sie nicht bluten sehen! Ein Tier, das sich selbst verletzt, ist das Schrecklichste auf der Welt.«

    »Säbelkrallen.«

    »Woher weißt du das?«

    »Holy! Das hast du mir doch selbst gesagt.«

    »Du bist sehr aufmerksam, Mike! Ein sehr netter Mensch! Die anderen vergessen sofort alles, deswegen sitze ich auch hier bei dir.«

    Holy drückte sanft auf die rechte Vorderpfote der fahlgelben Katze, bis ihre Krallen zum Vorschein kamen, immer länger und länger heraustraten. Mike hörte das Zwicken der Zange.

    »Krallenzange. Oder irre ich mich, Holy?«

    »Schon wieder richtig. 12 Euro. Aber nicht vom Baumarkt, aus der Tierhandlung. Das Beste vom Besten, Edelstahl, scharfer Schnitt, schmerzlos, nur der Mensch macht Fehler, wie ich, aber jetzt war es gut. Oder, Mike?«

    Holy hielt ihm die Pfote der Katze entgegen. Mike bejahte, und er lächelte, um Holy Mut für ihre weitere Arbeit zu machen. Auf der vierten Stufe, wo Holy mit ihrer Katze saß, sah er schon mindestens zehn abgeschnittene Krallen liegen. Widerlich. Wie die Piercings in ihrem Gesicht, die er ebenso wenig mochte. Holy zog an einem der glänzenden Ringe an ihrer Lippe.

    »Gib es zu, Mike, sie gefallen dir noch immer nicht.«

    »Stahl im Gesicht? An den Ohren ja, aber mitten im Gesicht?«

    »Titan. Zu 99 Prozent. Das Edelste vom Edelsten. Wird auch für Hüften und Herzschrittmacher verwendet, und mir machst du Vorwürfe.«

    »Ich werfe dir nichts vor, es ist dein Gesicht.«

    »Du siehst mich komisch an. Gib zu, Halloween gefällt dir auch nicht.«

    Holy setzte ihre Arbeit traurig fort. Der Traum ihres Lebens war es, Schauspielerin zu werden, alte Filme nach den damals neuen Theaterstücken sah sie besonders gerne, und man hört es ihr auch an. Mike blickte auf den Schmetterling der Ansichtskarte in seinem Schoß, um ihre feuchten Augen nicht sehen zu müssen. Er hoffte, dass die Katze nicht wieder aufschrie, denn jetzt wäre es seine Schuld gewesen. Es gelang ihm immer wieder, Mädchen und Frauen gegen ihn aufzubringen. Seine Schwester hatte er oft zur Weißglut gebracht. Vielleicht war er das Problem, nicht Inge.

    »Ihr beide seid großartig, Holy, außergewöhnlich. Doch, doch!«

    Das war seine Waffe. Nicht ein Messer, mit dem er seiner Schwester oder einer anderen Frau die Kehle durchschnitten hätte, sondern Komplimente. Aber auf höchstem Niveau, keine billigen Schmeicheleien, auf die Wahl der Worte kam es an.

    »Holy and Halloween, best freaks of the Danube Channel!«, kramte er sein lückenhaftes Schulenglisch hervor.

    »Aber nur am Tag. Du bist ein guter Mensch, Mike.«

    »Und in der Nacht?«

    »In der Nacht bin ich auch hier, aber allein. Halloween ist dann zu Hause und schläft. Ich nehme sie nie mit, wir könnten überfallen werden. Ich kann weglaufen, aber Halloween kommt nicht weit. Man kann sie leicht an der Leine nehmen, herumschleudern und in den Kanal werfen.«

    Holy küsste ihre Nacktkatze auf den Mund. Mike nahm jetzt seine Füllfeder und blätterte die Ansichtskarten durch. Acht Stück. In einer zerschlissenen Hülle, mit dem Geruch längst vergangener Zeiten. Ursprünglich mochten es 12 gewesen sein, aber nach so vielen Jahren waren eben einige verloren gegangen. Was konnte einer Biologieprofessorin mehr gefallen als historisch bedeutsame Kupferstiche von Insekten? Die Bilder waren eindrucksvoller als Fotografien, weil nur das Wesentliche gezeichnet und ausgemalt worden war, dazu in einem unwirklichen Licht, das die Tiere höchst lebendig werden ließ. Großartig. Inge liebte Ansichtskarten. Sie hatte ihn dringend gebeten, ihr unbedingt Grüße von Zuhause zu schicken, gegen etwaige Anflüge von Heimweh. Voriges Jahr waren es Ansichtskarten von Wien gewesen, versandt in die Anlegehäfen ihrer Mittelmeerkreuzfahrt. Von seinen Bekannten hatte niemand verstanden, wie man einer Reisenden die Sehenswürdigkeiten ihrer Heimatstadt nachschicken konnte. Du und deine Schwester, hieß es dann immer, aber bis heute wusste er nicht, was sie damit wirklich meinten.

    Inge hatte alles bestens vorbereitet. Nicht nur die Adressen der Hauptpostämter ihrer Städte in diesem Jahr, sondern selbstverständlich die ganze Reise um die halbe Welt, von England über Amerika nach Australien, wie es in der letzten Zeit so oft aus dem sonst eher schmallippigen Mund Inges gekommen war, in dieser Angelegenheit aber immer mit einem Lächeln. Eine Umrundung der ganzen Erde kam erst in ihrer Pension infrage, jetzt musste sie sich mit den Schulferien begnügen.

    Alle ihre Kollegen wussten von ihrem Unternehmen, sie hatten sie beraten, gewarnt, mitgezittert, weil man ja bei einem solchen Abenteuer nicht sicher sein konnte, dass man einander wiedersehen würde. Am letzten Sonntag war die Maschine dann von Schwechat nach London geflogen, am Montag die »Sea Symphony« in Dover ausgelaufen. Mike war glücklich. Seit drei Tagen. Auch wenn er niemandem erzählen durfte, warum.

    Er entschied sich für die Ansichtskarte mit dem Kupferstich eines Schmetterlings. Der Schwalbenschwanz mit den ausgebreiteten Flügeln ließ wahrscheinlich nicht nur ihn an den Abflug seiner Schwester denken, er hoffte, dass dieses Bild viele Leute zu sehen bekamen. Darum würde er die Karte auch nicht in einen Briefkasten werfen, sondern in seinem Büro einer der jungen Damen übergeben, die für den Postauslauf zuständig waren. So machte man es, so schuf man sich Vertrauen. Und Zuneigung. Von allen Seiten.

    To Mrs. Ingeborg Hauser

    Poste Restante

    Íslandspóstur – Post office

    5, 101 Reykjavik

    Iceland

    Wien, 13. Juli

    Liebste Inge!

    Wenn Du diese Zeilen liest, bist Du schon 10 Tage auf hoher See, haben Deine neugierigen Augen schon Norwegen gesehen und jetzt Island. Du atmest kühle Luft, wir gehen hier an der brütenden Hitze zugrunde. Wenige Anrufe, aber alle freuen sich für Dich, Du hast Deine nächste Zeit verdient. Zu Hause ist alles in Ordnung, Dein Michael hält die Stellung, jetzt aber sitzt er auf der großen Stiege am Donaukanal und genießt seine knappe Mittagspause. Mit Dir! Ich hoffe, Dir gefällt mein Schmetterling, Papillio machaon, ich habe es eben erst auf der Karte gelesen, Du hast es schon immer gewusst. Ich denke an Dein Gesicht bei unserem Abschied, so traurig. Aber sorge Dich nicht, Du bist frei! Bis zum nächsten Mal, wenn Du mich wieder in den Händen hältst, ich meine natürlich meine Karte, wenn alles gut geht, wird sie Dich in Halifax erreichen. Ahoi!

    Dein Mike

    Mike ließ seine Adresse weg, falls die Karte seine Schwester nicht erreichte, wollte er sie nicht zurückgeschickt bekommen, er hatte keine Lust, seine Zeilen dann nochmals zu sehen und womöglich auch noch mit einem schlechten Gewissen zu lesen, weil das Ganze nicht geklappt hatte, der kleine Bruder wieder einmal an einer Hausaufgabe gescheitert war. Die letzte Viertelstunde hatte ihn genug Anstrengung gekostet, aber ihm auch unglaubliches Vergnügen bereitet. Jedes Wort. Auf die heimliche Weise. Am besten gefielen ihm die vielen »Du«, »Dir«, »Dich« und »Dein«. Wenn das nicht Liebe war!


    Mike bemerkte, dass Holy herangekommen war und ihm jetzt über die Schulter schaute.

    »Sammelst du Schmetterlinge?«

    Er blickte auf die Ansichtskarte in seiner Hand.

    »Nur ein Gruß, nichts als liebe Grüße. Ich hasse Schmetterlinge, sie machen mich nervös.«

    »Darf ich?«

    Mike reichte ihr die Karte. Etwas Besseres konnte ihm nicht passieren. Holy würde die Erste sein, die bezeugen konnte, wie sehr er seine Schwester mochte. Die Erste von vielen. Holy las andächtig, wurde immer ernster.

    »Mike, wie heißt du noch?«

    »Hauser. Michael Hauser. Du willst immer alles genau wissen.«

    »Du liebst deine Frau sehr. Warum reist sie ohne dich? Bei eurem Abschied war sie traurig.«

    »Inge ist meine Schwester. Biologin. Sie unterrichtet Biologie.«

    »Dann mag sie Tiere. Auch meine Halloween. Wann kommt sie zurück?«

    Mike schwieg.

    »Mike, gib zu, du hast Angst, dass ihr etwas passiert. Ich kenne das von Halloween, und deine Schwester ist so weit weg.«

    »Sie ist größer als ich, ich meine älter. Wie alt bist du?«

    »Sechzehn. Aber mit Tieren kenne ich mich aus.«

    Holy überreichte Mike die Ansichtskarte.

    »Ich muss jetzt gehen. Ahoi!«

    Er sah, wie sie die Krallenzange in ihre Gürteltasche steckte, die Katze in den Arm nahm und die Stufen zum Uferweg hinaufstieg. Gerne hätte er ihr mit dem Seemannsgruß geantwortet, aber der war für Inge bestimmt, für seine um elf Jahre ältere Schwester. Mike fiel ein, dass er nächste Woche Geburtstag hatte.

    Er bemerkte jetzt auf einmal, dass der Gesang der Heuschrecke fehlte, dieses oft endlose Rufen aus dem Baum hinter ihm. Mike brauchte zwar keine Tiere, um glücklich zu sein, aber diese eigenartige Leere beunruhigte ihn. Trotzdem erschien ihm auch heute der Donaukanal nicht langweilig, hier war das Abenteuer. Vielleicht war es für ihn an der Zeit, am richtigen Leben teilzunehmen. Nicht nur zuzusehen wie gestern, als einer jungen Frau das Fahrrad gestohlen wurde, während sie, in einem Buch lesend und auf einer Decke liegend, am Ufer des Kanals ein Sonnenbad nahm. Er hätte sie warnen müssen, den Dieb verscheuchen. »Was machen Sie da?«, mehr wäre nicht notwendig gewesen.

    Doch Mike hatte die Augen geschlossen und sich vorgestellt, wie er mit einem Beil den Schädel des Fahrraddiebs spaltete. Lächerlich. Kinderfantasien. Mike hörte sogar jetzt noch Inges Gelächter, wenn er ihr als Vierjähriger wieder einmal Geschichten erzählt hatte, die grausamer waren als ihre Märchen. »Mike, deine Träume! Hör auf damit!« Dabei waren ihm diese Bilder nicht im Schlaf gekommen, die abgeschnittenen und aufgespießten Köpfe hatte er sich alle ausgedacht. Später wurden ihm diese Einfälle von Inge ausgetrieben, glaubte sie. Mike ließ sie bei dieser Annahme. Er hatte nur aufgehört, ihr davon zu erzählen.

    Es war höchste Zeit, am richtigen Leben teilzunehmen, und nicht, wie jetzt schon wieder, einfach sitzen zu bleiben und nicht hinüberzulaufen zum Kinderwagen, der oben auf dem leicht abschüssigen Uferweg hinter dem Rücken einer jungen Mutter jederzeit zu rollen anfangen konnte, dann weiter, immer weiter, heran an die große Stiege, herab über die breiten Stufen, wie in einem russischen Film, der mit dieser Szene Weltruhm erlangt hatte. Was dort dann passiert war, wusste Mike nicht mehr, aber dieser rosafarbene Wagen mit dem gelben Sonnenschutzdach würde in den schnellen Fluten in wenigen Augenblicken versinken, das Kind ertrinken, seine kleine Leiche erst unten im Freudenauer Hafen oder beim Praterspitz gefunden werden.

    Mike sprang auf, stieß im Laufen auf dem Uferweg fast mit einem Radfahrer zusammen, hörte seine Flüche, aber das war ihm egal, denn nun konnte nichts mehr passieren, der Kinderwagen würde auf ihn zurollen, auf ihn, den Retter. Trotzdem streckte er die Arme aus, legte die Hände auf das Sonnenschutzdach des Kinderwagens, denn was hatte er davon, wenn nur er wusste, wer den Tod aufgehalten hatte.

    »Was wollen Sie, sind Sie verrückt?!«

    Mike wollte schon »Rabenmutter« zu der Frau mit den weit aufgerissenen Augen sagen, hatte es noch unterdrückt, aber stattdessen entkam ihm unwillkürlich ein noch viel schlimmeres Wort, das er jetzt aus ihrem Mund wieder zu hören bekam.

    »Schlampe? Ich bin eine Schlampe? Verschwinde, Dreckskerl, Kinderschänder, Mörder.«

    Mike ließ los, wandte sich ab, dachte, so leicht wird man nicht zum Mörder, so leicht nicht. Um zu beweisen, dass er keine Lust hatte, Kinder umzubringen, lief er nicht wie ein Verbrecher davon, sondern ging langsam und gelassen zurück zur großen Stiege, die er jetzt verfluchte, weil der Wagen nicht über sie in den Kanal gerollt war. Aber vielleicht ging doch noch alles gut aus, und der Unfall geschah morgen, übermorgen, der Sommer hatte ja eben erst begonnen. Dann würde die Rabenmutter und Schlampe seinen Auftritt begreifen, seine helfenden Hände küssen, ihn um Verzeihung bitten, es bitter bereuen, ihn einen Dreckskerl genannt zu haben.

    Mike war froh, dass die Mittagspause in wenigen Minuten zu Ende war und er alles erledigt hatte, die Ansichtskarte für Inge, die Komplimente für Holy, die Teilnahme am Leben. Er sah, wie die Frau mit Kind sich entfernte, immer weiter, wie sie immer kleiner wurde, bedeutungsloser. Wenn er Glück hatte, konnte es doch noch ein Sommer werden, der auszuhalten war. Er musste sich an seine Freiheit erst gewöhnen, etwas aus ihr machen, sich jeden Tag vorsagen, Inge ist nicht hier, sie ist weg, ganz weit weg.

    Eigentlich ging es ihm so gut wie noch nie. Er hatte einen Job, genug Geld, ein Haus, ein besonderes Haus, ein Haus, das ganz allein ihm gehörte, in dem er alles anstellen konnte, Orgien feiern oder endlich wieder ohne vorwurfsvolle Blicke und herausgeschrienen Hass sein geliebtes Schlagzeug spielen, nicht nur im Keller, endlich auch in seinem Zimmer, sogar im Garten. Und er hatte den Donaukanal. Allein hier war alles möglich. Kein langweiliger Sommer. Man musste nur Augen und Ohren offenhalten, werden wie die anderen, mitschwimmen, Neues wagen.

    Mike blickte auf die endlose Reihe der besprühten Wände. Ein bodennahes Feuerwerk von Farben, Mustern, Botschaften, Gesichtern, ein Wildwuchs von Lebenskraft und Lebenslust auf beiden Seiten des Kanals, bis hinunter zum Wasser, aber auch so hoch, dass Leitern im Spiel gewesen sein mussten, wenn die Graffiti-Künstler nicht geflogen waren. Warum nicht auch Mike? Fürs Erste würde ihm eine kleine Fläche zwischen zwei Pieces genügen, die kaum benützten Wände hinter den Müllcontainern der Strand-Discos und Beach-Cafés oder die Rückseite eines Brückenpfeilers. Er würde sich auch nicht ins Dickicht der Sträucher ducken müssen, weil Inge ein Fenster aufriss und ihn einen Schmierfink genannt hatte. Wenn einer in diesem Sommer ein Fenster aufmachte, dann war er es. Und schon heute Abend würden die Türen nicht leise geschlossen, sondern zugeknallt, danach das Schlagzeugsolo aus »Rat Salad« von Black Sabbath aus dem Album »Paranoid«, ein Wegweiser für Heavy Metal, ohne diese wahnsinnige Musik hätte Mike nicht überlebt.

    Mike atmete leicht, obwohl die tropische Luft zum Ersticken war, die Ansichtskarten in seiner Jackentasche erwärmten sein Herz. Reykjavik, dann Halifax in Kanada, und damit war Inges Endlosreise erst am Anfang. Was konnte es Schöneres geben? Nitros Meisterwerke. Sie stachen hervor, eine andere Welt. Kein Wunder, denn Galaxien waren nun einmal außerirdisch. Aber auch ihr Schöpfer. Zumindest musste er einen großen Geist haben, eine Weite, wahrscheinlich auch eine besondere Seele. Manche Spaziergänger entlang des Donaukanals blieben lange vor seinen Werken sitzen, den Blick wie hypnotisiert auf die Milchstraße gerichtet. Mike hatte sogar Mädchen gesehen, die Sterne in der Größe von Stecknadelköpfen berührten. Holy war noch weiter gegangen, sie hatte sie geküsst, mit einem Ring aus Titan in ihrer Unterlippe und der haarlosen Katze an der Leine.

    Bekämpft wurde Nitro, weil er in der letzten Zeit angefangen hatte, die legalen Wände des Donaukanals zu verlassen. Eine Galaxie war an einem Morgen in der Küche eines Nobelhotels entdeckt worden, eine andere prangte seit Tagen von der Fassade des ersten Stockwerks eines Versicherungsgebäudes. Man wusste bis heute nicht, wie Nitro so hoch hinaufgekommen war, unbemerkt, wahrscheinlich in den frühen, noch finsteren Morgenstunden. Auch dadurch zeichnete sich Nitro aus, er kam nicht, er verschwand nicht, er war nie da, er warf aber immer wieder Werke an die Wände, die den anderen Sprayern nie eingefallen wären, sogar das Handwerk hätte ihnen dazu gefehlt.

    Auch Mike hatte sich schon seit geraumer Zeit vorgenommen, entweder als Graffiti-Künstler ein ganz Großer zu werden, oder es bleiben zu lassen. Mittelmaß gab es neben den vielen fantastischen Kreationen auch hier genug. Die kleinsten Geister vergingen sich sogar an den Blättern der Sträucher. Einer dieser Barbaren hatte nicht einmal vor Mikes Baum Halt gemacht, der ihm Schatten

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