Das große Spiel
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Céline Minard
Céline Minard, 1969 in Rouen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Paris. Ihre Bücher wurden mit wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Franz-Hessel-Preis für So Long Luise (2011) und mit dem Prix Virilo (2013) und dem Prix du Livre Inter (2014) für faillir être flingué.
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Das große Spiel - Céline Minard
Die fünf Männer sind wieder abgeflogen, bevor die Sonne hinterm Berg verschwinden würde. Der Pilot meidet Nachtflüge, wenn es geht, das achtmalige Hin und Her mit den minutenlangen Schwebeflügen haben seine Aufmerksamkeit für heute genug in Anspruch genommen, er möchte sich nun verständlicherweise im Tal entspannen. Die vier Techniker sind in einem geradezu euphorischen Zustand gewesen, wie sie einem nur die Müdigkeit nach getaner Arbeit verschafft, sie wollten nur noch eins: wieder hinunterfliegen, sich ein wenig ausruhen und nach Hause gehen. Persönlich war ich nicht gerade darauf erpicht, ihnen meine Gastfreundschaft anzubieten, vielleicht haben sie es gespürt. Und wenn schon.
Ich habe dem Piloten die letzte Zahlungsrate (in bar) übergeben und mein Projekt abgeschlossen, das keines mehr ist, seitdem sie mir bei seiner Umsetzung geholfen haben.
Sie brauchen nicht zurückzukehren, um die Fotovoltaikpaneele mit den Akkus zu verbinden, das mache ich selbst, für den gesamten Bau sowie für das Sanitärmodul, das ein paar Dutzend Meter tiefer liegt.
Als das Geräusch des Hubschraubers von der Ferne verschluckt wurde, konnte ich die Dichte der Luft spüren und jene Lebensröhre betrachten, in die ich mich nun zurückziehen würde, um dort meine Tage zu verbringen, mein Tagwerk zu verrichten.
Halb stützt sie sich auf einen Granitvorsprung, halb ragt sie ins Leere. Sie gleicht einem Flugzeugrumpf, der zwischen Abgrund und Fels schwebt. Aber ich weiß: Sie ist fest an ihre Stahlschiene gezurrt, die wiederum auf zwei Metern Breite im Stein verankert und verbolzt ist.
Sie ist meine Tonne. Die Tonne, in der ich leben werde und deren Gehäuse aus glasfaserverstärktem Kunststoff und Hart-PVC gefertigt wurde. Die Tür, die drei Seitenfenster und das Panorama-Rundfenster mit Blick in die Schlucht sind die fünf Öffnungen, durch die ich die Außenwelt beobachten und atmen kann, wenn ich mich im Innern aufhalte. Begraben im Schnee, geflutet von Sonne, vom Regen gepeitscht, im Nebel erstickt. Der restliche Bau ist mit Isoliermaterial ausgekleidet, das meine eigene Wärme zurückstrahlt. Zusammen mit der Wärme, die meine mit den Fotovoltaikplatten verbundenen Akkus ab morgen produzieren werden, ist es möglich, eine konstante Temperatur von zwanzig bis einundzwanzig Grad zu halten. Sofern es mir gelingt, jeden Tag ein Drittel der Paneele vom Schnee zu befreien, müsste dies meinen Berechnungen zufolge ausreichen, um einen sechsmonatigen Winter bei einer Durchschnittstemperatur von minus vierzig Grad zu überstehen. Was in dieser Region und in dieser Höhe deutlich unter der Norm läge.
Die Kochplatte ist geeignet, täglich zwei bis drei Stunden in Betrieb zu sein. Da sie mit der Anlage zum Schmelzen und Abkochen des Schnees gekoppelt ist, wird sie voraussichtlich zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der produzierten Energie verbrauchen. Bei den in der Außenwand integrierten Lampen handelt es sich ausnahmslos um LEDs. Eine Batterie sorgt dafür, dass immer ein Computer oder ein Mobiltelefon aufgeladen werden können.
Für den Notfall.
Die Bücherregale, die Liege, die Sitze und den Tisch habe ich entworfen. Alle Elemente sind direkt in das Gehäuse eingelassen. Der Tisch kann zusammengeklappt und auf einer Schiene durch den ganzen Raum geschoben werden. Die Sitze rechts und links vom Rundfenster sind beweglich. Die Liege ist hingegen fest. Auch das Regal, zumindest teilweise. Ein siebzig Zentimeter hoher, unverbundener Würfel dient wahlweise als Beistelltisch oder Hocker, er enthält ein rundes Kissen mit Kapok-Füllung und einen acht Millimeter dicken Teppich. Für die Kleidung sind zwei Einbauschränke vorgesehen, das Geschirr wird unter die Spüle geräumt. Der Karabiner und die Munition befinden sich in einer Ablage über der Tür. Die Ski stellt man in eine senkrecht aufgestellte Box über einem Fach im Eingangsbereich, das Platz für drei Paar Schuhe bietet. Ein Ständer wird mein Cello in Empfang nehmen, sobald ich den Kasten ins Tal zurückgeschickt habe. Es ist aus Buchenholz, genau wie der Stachelhalter, und harmoniert mit der feuer- und wasserresistenten Eichenfurnier-Verschalung der Innenwände und Einbaumöbel. Die Türen sind wie auf einem Schiff gestaltet, man muss den Fuß heben, um hindurchzugehen.
Ein hübsches Refugium.
Heute hat der letzte nötige Rundflug für meine Niederlassung stattgefunden.
Ich habe begonnen, meine Hefte zu füllen.
Noch befinde ich mich im Training, ich trainiere. Ich muss mich beschäftigen, die Schmerzpunkte definieren und behandeln.
Ich muss herausfinden, ob Not ein Umstand ist, ein Körper- oder ein Seelenzustand.
Man kann bei einem nächtlichen Gewitter an einer Felswand in dreitausendvierhundert Meter Höhe hängen, ohne in Not zu sein. Man kann sich bei demselben nächtlichen Gewitter auch in seinem warmen, sturmumtosten Bett befinden, und sich elend fühlen. Man kann durstig, müde, verletzt und doch nicht in Not sein.
Es genügt zu wissen, dass das Getränk, die Nahrung, die Ruhe, die Hilfe in greifbarer Nähe sind. Erreichbar sind. Und zwar mühelos.
Erschöpfung ist nicht dasselbe wie Not, doch sie ist häufig mit ihr verbunden.
Es genügt, einem Bergsteiger, der seit zwei Tagen, kurz vor der Unterkühlung, ohne Wasser oder Nahrung auf einem Bergvorsprung feststeckt, etwas zu essen zu geben, um die Not verschwinden zu lassen.
Der Körper kommt wieder zu Kräften, der Geist fasst wieder Mut, die Umwelt ist kein Hindernis mehr. Weder Sarg noch Bedrohung.
Ebenso würde es genügen, ihn an einen anderen Ort zu bringen (ihn mit einem Hubschrauber vom Bergvorsprung zu holen), damit die Not verschwindet. Lange bevor er rehydriert und genährt ist.
So wie auch ein Wort genügen würde, das imstande wäre, seine mentalen Vorstellungen – von der Vergangenheit, der Gegenwart, der unmittelbaren Zukunft, seinem Platz in der Welt – zu verändern, damit die Not verschwindet.
Die einzige Grenze ist der Tod.
Man könnte auch sagen: Der Geist kommt wieder zu Kräften, der Körper fasst wieder Mut, die Umwelt ist kein Hindernis mehr. Weder Sackgasse noch Feind.
Und doch kann die geografische Lage für sich genommen schon ein Anlass für eine Notlage sein.
Man kann sich im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte befinden, an einer Felswand in dreitausendvierhundert Meter Höhe positiv gesinnt sein und riskieren, jeden Augenblick vom Blitz getroffen zu werden, weil das nächtliche Gewitter beschlossen hat, sich just an jener Felswand zu entfesseln, an die man sich krallt. Man kann sich in Gefahr befinden, ohne in Not zu geraten. Doch unter welchen Bedingungen? Wenn man die Gefahr beherrscht, wenn man das Risiko, das man eingegangen ist, vorhergesehen hat? Wir können weder den Blitz beherrschen noch entscheiden, an welcher Stelle er in den nächsten Sekunden einschlagen wird, doch wir sind nicht in Not, solange wir nicht die Entscheidungen und das Handeln infrage stellen, die uns an diesen Moment großer Gefahr geführt haben. Reue gebiert Not. »Ich hätte das nicht tun sollen« ist der Auslöser und Grund für die Not. Diese vollständige Möglichkeitsform, diese abgeschlossene Zeit, die nicht einmal vergangen ist, ist die Grundlage und vielleicht auch der Schöpfer der Not. Die Gelegenheit, bei der sie sich entfalten kann.
Man müsste untersuchen, welche Beziehungen diese grammatische Form mit dem Schuldgefühl pflegt und wie sie sie eingeht. Ein verbaler Modus kann die Ausschüttung von Glukokortikoiden hemmen. Und unsere Stimmung beeinflussen.
Die Möglichkeitsform bettet die Illusion der Zukunft in die Vergangenheit ein. Sie schlägt eine Bresche in die Zwänge irreversibler Tatsachen und lässt dort Spukgestalten aufscheinen, wo faktisch bereits etwas stattgefunden hat. Ohne die Möglichkeitsform gäbe es keine Not. Wohl Hunger, Erschöpfung, Schmerz und Tod, doch keine Not.
Oder sehe ich das falsch?
Die Zeitungen hatten bereits kurze Artikel über den Kauf dieses Stücks Land veröffentlicht, wobei sich bis zum Abschluss der Transaktion – bis die Eigentumsurkunde auf meinen Name ausgestellt war und der ehemalige Eigentümer dies unter die Leute gebracht hatte – keiner darum scherte, zu erfahren, wem es gehörte. Denn es produzierte nichts, weder Güter noch Dienstleistungen. Einige Lokaljournalisten hatten (sehr lückenhafte) Recherchen an- und Hypothesen aufgestellt, welches Schicksal ich dieser zweihundert Hektar großen Insel aus Fels, Wald und Wiese inmitten eines Bergmassivs von dreiundzwanzig Quadratkilometern bereithielt. Kahlschläge, Bohrungen, ein Luxushotel und ein ÖkoLabor waren ihrer Fantasie entsprungen, genug, um diese Projekte zu disqualifizieren. Da es keine glaubwürdigen Hinweise oder Auskünfte gab, hatte das Interesse der Chefredakteure und Leser im Laufe der Wochen rapide abgenommen. Bis das Gerücht einer ungewöhnlichen Baustelle zu ihnen drang.
Das Unternehmen, an das ich mich für den Bau meiner Wohnkapsel gewandt hatte, konnte auf eine derart groß angelegte Werbemaßnahme nicht verzichten, und so zirkulierten, mit meinem Einverständnis, einige Grundrisse des Baus, der schon bald als Ufo bezeichnet werden sollte. Da alle rechtlichen Vorkehrungen lange im Voraus getroffen worden waren, konnte niemand – kein Umweltschutzverein, keine örtliche Behörde, keine reale oder juristische Person, kein Staat – die Bauarbeiten verzögern, geschweige denn die Errichtung des Hauses verhindern. Die Bilder vom Hubschraubertransport und vom Aufbau der Raummodule stammen von mir. Ebenso ein dreiminütiger selbst geschnittener und vertonter HD-Film, den ich dem Unternehmen für ihre Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt habe. Die Zeitungen haben ihren Schlagzeilen daraufhin ein Fragezeichen angefügt: »Wann kommt endlich die Steuer für Umweltverschandelung?«, »Hubschraubertransport für autonomes Haus – ein Öko-Paradox?«, »Architektur und Geld, ein teuflischer Mix?«.
Ich bin kein Millionär. Und gäbe auch nichts dafür. Die Frageform ist nur dann erträglich, wenn man sie auf sich selbst anwendet. Man muss sich jeden Morgen aufs Neue bewusst machen, dass man Undankbaren, Neidern und Schwachsinnigen so lange begegnet, wie man auf andere Menschen trifft.
Jeden Morgen muss man sich fragen: Wer bin ich? Ein Körper? Ein Vermögen? Ein Ruf? Nichts von alledem. Welchen Weg zum Glück sollte ich versäumt haben?
Zum See bin ich nicht hinauf-, sondern hinabgestiegen. Über den normalen Pfad, sprich eine sechshundert Meter lange Furche im Fels, die zu einer Wiese hinabführt. Demnächst werde ich dort ein Seil spannen, um alternative Wege gehen zu können. Je mehr Möglichkeiten es gibt, von zu Hause aufzubrechen und dorthin zurückzukehren, desto besser.
Hinter den letzten Felsblöcken senkt sich eine Alpenwiese glatt und eben hinunter bis zum Saum eines Kiefernhains, an dem sie auf struppiges, mit Rhododendren überwachsenes Heideland trifft. Ich bin dem Sturzbach abwechselnd zu Fuß und mit dem Blick gefolgt, um bis zu seiner Mündung an der Kiesgrube diesseits des Seeufers zu gelangen. Im eisigen, kristallklaren Wasser kann man zwischen den Steinen marodierende Forellen sehen. Ein dicker grauer Baumstamm liegt quer auf dem Überlauf des Sturzbachs, der sich brodelnd in das ruhige Wasser des Kessels ergießt. Er ist breit genug, dass man mit einer Angel und einer Büchse voller Motten darauf Platz nehmen kann, ohne entdeckt zu werden. Die Fische mögen diese Wasserzufuhr, weil sie ihnen ein breiteres Nahrungsangebot verschafft als der Seegrund. Ich werde wiederkommen. Am linken Ufer setzt sich die Kiesgrube noch auf hundert Metern fort. Auf der einen Seite gleitet die scharfe Klinge des Wassers über sie hinweg und auf der anderen Seite erhebt sich der Kiefernhain, in dessen Unterholz es bei jedem Schritt knackst und gluckst. Dann steigt sie schroff bis zu den Flanken des Bergkessels an und verliert sich in den Felsen.
Auf diesen wackeligen Gesteinsbrocken zu laufen, die weder groß genug sind, um darauf Halt zu finden, noch klein genug, um nicht der Rede wert zu sein, ist ziemlich anstrengend. Dennoch bin ich den gesamten Felskessel abgelaufen und habe den ersten Riegel in Augenschein genommen, der meinen Raum, meine Zuflucht nach unten hin abschließt. Ein kräftiger kalter Wind weht vom Tal herauf, aber er legt sich, sobald man den Kiefernhain betritt.
Beim Aufstieg, zur Rechten der Sturzbach, bin ich auf eine Höhle gestoßen, die in einer zwanzig Zentimeter tiefen Schlucht von einem Rinnsal gespeist wird. Sie ist von einem dichten Kresseteppich überwuchert, sodass man die Wasseroberfläche nicht sieht. Ich habe ein paar Büschel ausgerissen und den Grund abgesucht, um die Ausmaße des Beckens zu erkunden. Perfekt. Es wird mich nur zwei bis drei Stunden Mühe kosten, um daraus ein ideales Haltebecken zu machen. Da der Fischfang keine exakte Wissenschaft ist, wird mir dieser Wasserkäfig eine jederzeit verfügbare Proteinreserve garantieren. Der Durchmesser des Engpasses wird entsprechend meines Keschers berechnet werden müssen. Ich habe einen auf zwei Meter entrindeten Stock hineingesteckt, um die Stelle wiederzufinden, und bin den kürzesten Weg wieder zurückgegangen, den Pfad hinauf bis zu der Wiese, die ich von meiner Basis aus überblicken kann.
In sehr weiter Ferne habe ich die roten Farbmotive gesehen, die auf meine Zuflucht hinweisen, sowie den Reflex seines Ochsenauges. Ein kristalliner Lichtreflex inmitten einer grauen Steinwüste.
Unter dem Bauch des Rumpfes habe ich beschlossen, einen ziemlich langen Umweg zu gehen, und bin den Felsriegel auf der linken Seite entlanggegangen. Jedoch nicht weit genug, um einen Durchgang oder eine leicht zugängliche Spalte zu finden, die mir einen dritten Weg zu meiner Zuflucht eröffnen würde.
Auf einem Talweg zu gehen ist für jeden machbar, der seine Beine benutzen kann. Auf einem Bergweg zu gehen nicht weniger. Bis zum Grad T2, bei dem die Absturzgefahr zwar nicht ausgeschlossen, aber irreal ist, kann jeder x-Beliebige auf einem Bergweg voranschreiten. Die darauffolgenden Grade sind jedoch anspruchsvoller, hier und da fehlende Wegführung, häufig ausgesetzte Grashänge mit heiklen Abschnitten und Geröll. Man muss die Hände