Inszenierte Peoplefotografie: Modelle, Kostüme, Posen und Sets - Menschen konzeptuell in Szene gesetzt
By Jamari Lior
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About this ebook
Nach einer Kurzvorstellung beschreibt die Autorin den jeweils typischen Arbeitsprozess des Fotokünstlers. Sie führt vor, wie sie sich Anregungen holen, Ideen entwickeln, ein Team zusammenstellen und Requisiten beschaffen. Sie erfahren, worauf beim Fototermin geachtet wird und welche Grundidee das Shooting oder die Bildbearbeitung leitet. Textboxen geben Ihnen allgemeine Ratschläge für die praktische Arbeit an die Hand, die stilistischen Besonderheiten der Fotografen werden am Ende eines jeden Kapitels resümierend auf den Punkt gebracht. Die Kapiteleinführungen beleuchten die kulturanthropologische Seite der vorgestellten Stilrichtungen und erläutern, was jeweils ihren besonderen Reiz ausmacht.
Folgende Stilrichtungen werden von einem oder mehreren Fotokünstlern repräsentiert:
- Tableau Vivant - Die "alten Meister" unter den Fotografen
- Classical - Gestaltung mit Formen und Licht
- Painted Phantasies - Bunte Haut und Fotos
- Nostalgia - Vergangenes, Romantisches und Verklärtes
- Beauty & Fashion - Wie aus dem Modemagazin
- Dark Art - Düster, skurril und scary
- Burlesque - Zirkus der Sonderbarkeiten
- Fetisch - Mit Devianz und Disziplin
- Pure - Einfaches in komplizierten Zeiten
- Movie Art - Teaser fürs Kopfkino
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Book preview
Inszenierte Peoplefotografie - Jamari Lior
Einleitung
Was sagt uns dieses Foto?
»... Werke voller verschleierter und damit umso stärkerer Erotik«, schloss ein junger Kunstgeschichte-Professor seine Rede zu einer meiner Vernissagen ab. Die beiden Modelle, die mich zur Vernissage begleitet hatten, schauten verwirrt. Die ganze Rede hatte das Thema »Erotik« behandelt und der Professor sah unglaublich viel davon in meinen in dieser Ausstellung völlig aktfreien Fotos. Das war jedoch keineswegs meine Intention mit diesen Fotos gewesen – für mich ging es eher um Bilder, die auf den ersten Blick recht niedlich sind, vielleicht sogar als »kitschig« beschrieben werden könnten, auf den zweiten Blick aber oft einen sanft ironischen Twist beinhalten: Bilder wie »Die Vögel« (siehe S. vii), auf dem man ein harmonisch-romantisches Szenario entdecken, den Raum aber ebenso als surreal mit den vielen Gitterlinien der Fenster als Käfig begreifen kann. Trotz der Pastelltöne identifiziert man die Szene als leicht gruselig, wie es schon der Titel, die Anspielung auf den berühmten Hitchcock-Film, nahelegt.
Jedem Rezipienten sei es natürlich gestattet, seine Interpretation ins Bild zu legen – aber bei besagter Vernissage habe ich dann meine eigene zumindest auch in den Raum gestellt.
Erstaunlicherweise sind, wie mir in Gesprächen mit Kollegen oft aufgefallen ist, vielen Künstlern die eigenen Motive und Motivationen gar nicht bewusst. »Wozu auch«, mag man denken: »Wer selbst kreativ sein kann, muss keine Werke analysieren können.« Oder man sagt sich: »Wenn mein Bild gut ist, was kümmert mich das Warum?« Dies soll ein Plädoyer dafür sein, dass das Warum doch wichtig ist.
Die Bildanalyse, sei es von eigenen oder fremden Bildern, hilft dem Praktiker, eigene Stärken zu erkennen und auszuarbeiten, neue Ideen zu bekommen und die eigenen Bilder bei Kunden und Interessenten besser zu vermarkten. Sprechen Sie für Ihr Bild und lassen Sie es nicht für sich sprechen – denn möglicherweise findet es nicht die richtigen Worte für jeden und in jeder Situation!
Dem Kunstinteressierten hilft die Bildanalyse, spannende Werke zu identifizieren und die Bilderwelt um sich herum besser zu verstehen. Letztlich hat man dann mehr Genuss aus Bildern gezogen, wenn man nicht nur die Oberfläche würdigen, sondern tiefer in das Bild eindringen kann. Es ist vergleichbar mit Songs: Ich erinnere mich noch daran, wie mir als Jugendliche manch fremdsprachliche Lieder gefallen haben, deren Texte ich jedoch (noch) nicht verstehen konnte. Oft habe ich dann recherchiert, genauer hingehört und nach Übersetzungen und Originaltexten gesucht – mal mit dem Resultat, dass mich ein Song etwas enttäuscht hat, weil ich den Text langweilig fand und die Reime aufdringlich – und mal konnte ich den Song später umso mehr schätzen, weil ich ganz neue Botschaften entdeckte oder weil mir die Musikalischeren in meiner Familie Hinweise auf interessante Dur-Moll-Übergänge oder Taktarten gegeben hatten.
»Lipstick-Madonna« – der Schein ist die neue Religion. Doch wie das mit dem Glauben, der Unsicherheit so ist, schmerzt auch diese. Zudem haftet ihr etwas Heidnisches an, eine leichte Vampir-Assoziation ...
Bildanalyse für unsere Zwecke ist keineswegs schwierig oder langwierig – und eigentlich braucht es dafür auch kaum neue Begriffe. Ein paar kurze Grundlagen möchte ich aber doch einführen. Ein zentrales Begriffspaar geht zurück auf die Linguistik, in der man den Wortlaut und die Wortbedeutung unterscheiden kann. Ähnlich ist es auch in der visuellen Welt: Es gibt ein Bild, das Bezeichnende bzw. das Signifikant, und etwas, für das dieses Bild steht, das Bezeichnete bzw. das Signifikat. Das Bild einer stark tätowierten Frau kann z. B. Signifikant sein für Freigeist, das Bild eines klassischen Boudoirs kann für Nostalgie stehen.
Weiter lassen sich verschiedene Interpretationsebenen unterscheiden. Die erste Ebene eines Bildes erschließt sich meist sehr schnell, intuitiv und fast interkulturell – z. B. sieht man auf einem Bild eine Frau, dann noch einen blauen Umhang, ein Kind und um beide herum Wolken. Mit der Basis seiner kulturellen Prägung, aufgrund von Zeitgeist und individuellem Geschmack kann man festhalten, ob es sich um eine hübsche Frau handelt, ob sie freundlich wirkt oder nicht. Man kann den Umhang betrachten und darauf schließen, dass er, versehen mit besonderer Dekoration, Signifikant für Luxus sein könnte. Diese Ebene, die sich für einzelne Zeichen und deren Bedeutungen interessiert, nennt man Semantik.
Eine ausgewogene Harmonie zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die ihren Ausdruck auch in der geschlossenen Endform erlangt ... oder ein versteckt provokantes Bild, auf dem die typisch »westliche« Frau zwei dunkelhäutige Boytoys hält – ein Statement zur weiblichen Emanzipation –, oder die Studie einer zarte Frau, die doppelt beschützt werden muss ... oder doch einfach nur eine Formenstudie?
Auf einer zweiten Ebene kann man darüber hinausgehend ein tieferes Verständnis entwickeln: Aufgrund des Arrangements und eines – vermutlich auch vom Künstler angenommenen – kulturellen Vorwissens erkennt man, dass es sich um eine typische Darstellung der heiligen Maria handelt. Die Ebene, die die Zusammenstellung betrachtet, nennt man Syntax. Hier gibt es bestimmte Möglichkeiten ähnlich denen der Sprache: Man kann Elemente parallel arrangieren und damit inhaltlich parallel setzen, etwa ein Mädchen und eine Blume, oder in Opposition zueinander, etwa eine Blume und eine Müllhalde oder ein Schwarzweißbild und darüber eine knallpinke Schrift. Der Fokus des Rezipienten kann geleitet werden durch eine besondere Satzstellung oder Ausschmückung bzw. auf visueller Ebene durch eine Vignette, dunkler, heller oder unschärfer werdende Ränder oder eine besondere Farbigkeit wie beim Colorkey, wo ein wichtiges Element farbig, meist in Rot dargestellt wird und der Rest entsättigt oder schwarzweiß. Die Syntax betrachtet also die Beziehungen zwischen den Zeichen.
Die dritte Ebene ist die Pragmatik. Sie rückt die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichennutzer in den Mittelpunkt, indem sie fragt, wozu das Bild entstanden ist. Soll es provozierend wirken oder harmonisch? Ist es eine Parodie auf ein anderes Werk? Um dies zu beantworten, ist wiederum der kulturelle Kontext wichtig, oft aber auch die politische, religiöse etc. Haltung des Künstlers oder Auftraggebers – gleich ob es sich um ein werbetreibendes Unternehmen handelt oder, wie zumeist in früheren Jahrhunderten, um reiche adlige Auftraggeber oder um die Kirche.
Die Natur ist tot, das Kleid ein Skelett, doch das Model thront über all dem – ist es die Göttin des Todes? Oder die Vorbotin des Frühlings?
Wo entsteht letztlich das Bild? Es geschieht keinesfalls nur vor der Kamera oder am PC, sondern im Kopf des Rezipienten – und das können gute Fotografen bereits bei der Planung und Umsetzung ihrer Arbeit berücksichtigen.
© Dietmar Ritter
01
Tableau Vivant – Die »alten Meister« unter den Fotografen
Fotografie in den Fußstapfen der Malerei – hier sieht man inhaltlich verdichtete Werke, die sich in ihrer Ästhetik, den Requisiten, den Posings und dem Arrangement an den alten Meistern orientieren. Oft bringen sie aber auch Brüche in Form von Zeitsprüngen ein, von modernen Elementen, die dem Betrachter vor Augen führen, dass es sich um das Medium der Fotografie handelt.
»Tableau vivant« bedeutet »lebendes Bild«; es sind Produkte einer Synthese aus Malerei und Fotografie, die sich geschichtlich schon früh etabliert hat: Fotografen fanden Anregungen bei der Malerei, Maler arrangierten Posen und arbeiteten mithilfe von Fotos, wählten oft berühmte Daguerreotypien als Vorbild¹. Frühe fotografische Tableaus wirken entsprechend oft wie Gemälde, denen genaue Überlegungen bezüglich Bildaufbau, Posing, Requisite und Bildaussage zugrunde liegen. Diese enge Verwandtschaft liegt in zwei Faktoren begründet: Zunächst konnte die frühe Fotografie einfach nicht die Belichtungszeiten nutzen, die für spontanere Augenblicke nötig sind. Außerdem war nicht klar, wie man die damals neue Technik der Fotografie verorten sollte – war es nur Spielerei, war es Dokumentation oder sollte man die Fotografie in die Tradition der Kunst einordnen? Letzteres versuchte manch früher Fotograf zu etablieren, indem er mit einem aus der Malerei vertrauten Bildvokabular – bestimmten Symbolen, Haltungen, Lichtsetzungen etc. – arbeitete.
Auch bei heutigen fotografischen Tableaus wird – vom Künstler bewusst oder unbewusst eingesetzt – oft mit Formen und Symbolen gespielt, welche sich auf die »alten Meister« der Malerei beziehen, die sich im kollektiven Gedächtnis befinden, so etwa die Vermeer-Adaptionen bei Peter Kemp.
Im Folgenden sei ein kurzer Überblick über die für Tableaus typischerweise Pate stehenden Epochen gegeben:
In der Romanik, etwa von 950–1250, wurden meist Bibelszenen als Motive gewählt. Diese Darstellungen enthalten zahlreiche symbolische Anspielungen und sind dabei nicht sehr naturalistisch gestaltet. Individuelle Gesichtszüge spielten noch keine Rolle und entgegen den Gesetzen der Optik wird das besonders groß dargestellt, was als wichtig hervorgehoben werden soll. Auch in der darauffolgenden Gotik (1140—1500) herrschte noch immer die sogenannte Bedeutungsperspektive vor. Der inhaltliche Hauptfokus lag weiterhin auf der christlichen Religion.
In der Renaissance (1420–1600) begann man mit Ölfarben zu malen und die Perspektiven und Proportionen genauer zu erfassen, letztere mit Bezug auf die klassische antike Kunst. Die Personen werden vor allem in der Hochrenaissance meist idealisiert gezeigt.
Im Barock (ca. 1600–1720) sieht man häufig dynamischere Darstellungen. Die Ausstattung ist prächtig, die Figuren üppig und die Komposition lebt vom Spiel mit Licht und Schatten. Neben Portraits wurden auch Stillleben, Landschaftsbilder, Genre-Gemälde und Bilder mit historischen oder mythologischen Themen geschaffen. Typisch bei vielen dieser Spielarten ist der starke Einsatz von Metaphern, somit zählt das Barock zu einer der favorisierten Epochen für Tableaus.
Der Begriff »Rokoko«, der die Kunst von etwa 1730–1770/80 bezeichnet, leitet sich ab von Rocaille, einer asymmetrischen Muschelform, die als Ornamentmotiv beliebt war. Die im Barock noch wichtige Symmetrie wird im Rokoko in den Hintergrund gerückt. Rokoko-Gemälde wirken verspielt und leicht, oft geht es um erotische Themen.
Der Klassizismus (1770–1840) kann als gegenteilige Bewegung aufgefasst werden: Er wendet sich wieder einfachen Linienführungen zu und orientiert sich an antiken Vorbildern. Inhaltlich wählt er eher ernste Themen, oft mit patriotischen Aspekten.
Das Biedermeier (1815–1848), zurückgehend auf die literarische Figur des spießbürgerlichen Gottlieb Biedermaier, wird als deutsche Unterepoche betrachtet, welche Genre-, Landschafts- und Portraitthemen bietet und die Flucht ins private Idyll darstellt. Religiöse oder historische Motive fehlen weitgehend. Der Begriff Romantik (1800–1840) bezieht sich auf Schriften in romanischen Sprachen als Gegensatz zum zuvor typischen Latein. In den Volkssprachen wurden jetzt »Romane« geschrieben, Emotionen dabei zentral thematisiert. Man wandte sich ab von den klassischen Vorbildern und konzentrierte sich auch in der Malerei auf die Gefühle des Künstlers. Das individuelle Empfinden rückt in den Vordergrund. Die Maler verließen dafür das Atelier und malten auch unter freiem Himmel. Auch die viktorianische Kunst und die Präraffaeliten um 1840 beschäftigten