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Zeit der Diebe
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Zeit der Diebe

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About this ebook

Bianca, die alle nur Boi nennen, durchstreift mit ein paar Jungs das Potsdam der Nachwendezeit. Was die Clique um sie und ihren Bruder Sinon in Fabrikruinen und leeren Häusern findet, wird zu Geld gemacht. Bald helfen die Jugendlichen dem Zufall nach. Aus Entwurzelten werden professionelle Diebe. Als die Bande eines Nachts in einen Laden einsteigt, führt sie das in den Dunstkreis von Mord.
LanguageDeutsch
Release dateSep 22, 2016
ISBN9783897419889
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    Zeit der Diebe - Eike Bornemann

    handelt.

    1. Kapitel

    Die Diebe bilden eine besondere Klasse der Gesellschaft: Sie tragen zur Entwicklung der sozialen Ordnung bei, sie sind das Öl ihres Getriebes. Wie die Luft dringen die Diebe überall unbemerkt ein: Sie bilden inmitten der Nation ein Volk für sich.

    – CODE DES GENS HONNÊTES

    Wenn dich damals dein Weg in die Innenstadt und in die nördliche Vorstadt geführt hätte, wärst du auf Straßenzüge gestoßen, die aussahen, als hätten die Bewohner sie nach einer Katastrophe verlassen. Die Türen und Fenster in den unteren Stockwerken waren mit Sperrholzplatten vernagelt. In den oberen Etagen bewegte der Wind schmutzige Gardinen hinter zerbrochenem Glas. Aus einer Dachtraufe wuchs eine junge Birke. Zwischen kaputten Gehwegplatten wucherte Gras. An einer Hauswand hatte jemand die Botschaft »Hier beginnt der soziale Aufstieg« hinterlassen, und es war dieselbe Handschrift, die an der Wand des Maschinenhauses der ausgebrannten Fabrik verkündete: »Lang lebe der Fortschritt!«

    Es gab keinen Fortschritt, aber es hatte ein Fortschreiten gegeben. Von Jahr zu Jahr waren die abendlichen Lichter in den Fenstern, war das Flackern von Fernsehern hinter den Vorhängen weniger geworden. 1989 wohnten in Potsdam noch fast 143.000 Menschen. Ein Jahr später war bereits die 140.000-Marke deutlich unterschritten, und 1995 waren es weniger als 136.000. Das in der nördlichen Vorstadt gelegene Militärstädtchen hatte da schon Ähnlichkeit mit Aufnahmen des evakuierten Pribjat nach der Katastrophe von Tschernobyl.

    Im Sommer hielten wir hier unsere Rennen ab. Auf Feuerstühlen rasten wir unter dem dunkelblauen Schild des Abendhimmels die Straße entlang, bremsten, nahmen – gefährlich geneigt, dass die Fußstützen über den Asphalt schlitterten – die Kurve, drehten wieder auf, bis wir den verwilderten Sportplatz erreichten, wo sich zwischen den Kieferstämmen gegen den Abendhimmel die Silhouetten der verlassenen Kasernen abzeichneten, kehrten am Schulgebäude um und rasten die Straße zurück, wo sich Laubschatten unter dem Licht der Straßenlaternen bewegten und den Beginn der Zivilisation markierten.

    Niemand störte uns. Es war eine Gegend, über der virtuell ganz groß und fett das Wort Abgeschrieben stand. Jeder Location Scout, der nach Drehorten für einen Endzeitfilm sucht, hätte bei dem Anblick glänzende Augen bekommen.

    Es war nicht ungefährlich, in den verlassenen Häusern herumzustöbern. Zwar gab es keine Fallgruben wie bei Indianer Jones, dafür aber jede Menge rostiger Stahlträger, Glasscherben und herausstehender Nägel, dazu Asbestplatten, lose Fassadenteile, kaputte Geländer, durchgefaulte Balken und unverschlossene Aufzugschächte, in die man stürzen konnte. Es gab Schimmel und Tierscheiße und Kadaver samt den dazugehörenden Krankheitserregern.

    Anfangs waren wir noch zu siebt gewesen. Sieben halbwüchsige Herumtreiber, die gemeinsam auf den Dorffesten stänkerten, auf Motorrädern ins Naturschutzgebiet zum Grillen fuhren (was verboten war, aber wir taten es trotzdem), zum Schwimmen (was an den meisten Stellen, die wir aufsuchten, ebenso verboten war) oder sich einfach zusammen langweilten (was erlaubt war). Mit jedem Jahr war unsere Gruppe weiter zusammengeschrumpft. Zuerst war Ronnys Familie weggezogen, dann Micha, dann meine beste Freundin Caro, die in Bremen eine Ausbildung auf einem Kreuzfahrtschiff begonnen hatte.

    Im ersten Jahr trafen bei mir Briefe ein, abgestempelt an Orten, die ich erst im Atlas nachschlagen musste. Manchmal waren Neid und Eifersucht in mir so stark, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitete. Ich hatte zu viele Folgen von Das Traumschiff gesehen. Vielleicht konnte ich in meinen Antworten meine Gefühle nicht immer verbergen, denn Caros Briefe wurden bald seltener und irgendwann waren es nur noch Postkarten mit kurzen, nichtssagenden Sätzen. Bis auch die Abstände zwischen den eintreffenden Postkarten immer größer wurden. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen. Zu sehr waren unsere beiden Schiffe auseinandergedriftet. Meines war gestrandet. In jenem Jahr bestand unsere Clique noch aus vier Schiffbrüchigen.

    In den Romanen von Stephen King hatten solche Sommer, in denen der Erzähler ein Jugendabenteuer Revue passieren lässt, immer heiß und staubig zu sein, der Himmel blau und die Luft erfüllt vom Geruch von heißem Teer und feuchtem Staub nach einem plötzlichen Gewitterregen.

    Der Sommer, von dem ich spreche, roch dagegen durchgehend nach Regen. Es fing im Frühjahr an und regnete dann fast ununterbrochen bis in den August hinein, von ein paar Tagen Anfang Juni abgesehen, in denen es kurz aufklarte und vorsichtige Hoffnung auf einen Sommer, wie er sein sollte, aufkeimte. Doch Ende Juni war das zarte Pflänzchen des Optimismus bereits in Regen und Schlamm ertränkt. Im August hatten wir noch immer unsere vornehme Frühlingsblässe. Die Gastwirte starrten trübsinnig auf ihre zusammengeschobenen Stühle und Tische unter Markisen, von denen Perlenschnüre von Wasser auf die Gehwege herabrannen. Der Wetterbericht, in dem ein Atlantiktief das nächste jagte, konnte selbst den hartnäckigsten Optimisten in einen tiefen Brunnen der Depression stürzen lassen. Wenn der Regen mal Pause machte, war der Himmel ein grauer Schild; blauschwarze Wolkenfetzen jagten unterhalb der Wolkendecke dahin. Die Zeppelinstraße war über weite Strecken überflutet, und jeder Autofahrer, der nicht aufpasste und meterhohe Fontänen in die vorbeihastenden Fußgänger peitschte, geriet in Gefahr, gelyncht zu werden.

    Wir hatten uns triefnass in eine verlassene Montagehalle im Nordwesten der Stadt zurückgezogen, die ihrer markanten Kuppel wegen von den Anwohnern »der Zirkus« genannt wurde. Gonzo hatte eine große Blechkiste, in der Kugellager, Schrauben und Muttern vor sich hin rosteten, zur Hälfte ausgeräumt und mit Brettern aufgefüllt. Wir brauchten fast eine halbe Tankfüllung, ehe das Holz endlich brannte und uns Gelegenheit bot, Schuhe und Socken zu trocknen. Es war genauso unromantisch, wie es sich anhört. Die Bretter waren bemalt oder lackiert gewesen, die verbrennenden Chemikalien und das Fett aus den Kugellagern entwickelten einen beißenden Qualm, der sich in unseren Sachen festsetzte, sodass du am Abend rochest, als hättest du auf einer Müllkippe kampiert. Aber wie heißt es so schön: Erfroren sind schon viele, erstunken ist noch keiner.

    »Wo bleibt er nur? Mir wachsen schon Schwimmhäute zwischen den Fingern.« Gonzo fuhr mit der Hand in einen seiner Schuhe, um zu prüfen, ob die Sohle schon halbwegs trocken war.

    »Der sitzt irgendwo im Trockenen, wenn er schlau ist.« Chris sah nicht einmal von seinem Skizzenbuch auf, das er ständig mit sich führte und selten aus der Hand gab. Fragmente seines jüngsten Werkes leuchteten gespenstisch aus den Tiefen der Halle zu uns herüber: die mit farbiger Kreide gemalte Silhouette einer ruinenhaften Stadt unter einem dunkelblauen Abendhimmel an der Wand schräg gegenüber, ein riesiges grünlich phosphoreszierendes Mädchengesicht daneben, das so plastisch wirkte, dass es aus der Wand herauszuragen schien (und von dem Gonzo behauptete, dass es mir ähnelte).

    Chris war selten zufrieden mit dem, was er malte, und so waren einige Wandbilder von ihm immer wieder übertüncht worden. Die Reihenfolge seiner besseren Versuche spiegelte zugleich seine künstlerische Entwicklung wider. Das meinte jedenfalls Sinon, der in Chris’ jüngsten Werken einen Einfluss des späten Dali erkannt haben wollte.

    Mich ließ die angewandte Kunstgeschichte kalt. Ich interessierte mich nicht für Chris’ »surrealistische Phase« oder sonst was. Ich fand die meisten seiner Malereien einfach nur schön. Und verstörend. Sie zeigten Beobachtungsgabe, eine sichere Hand, aber mehr noch etwas anderes, etwas, was tief in Chris drin war und was er mit niemandem teilte.

    Als ihn mal ein Lehrer vor der gesamten Klasse herunterputzte, weil Chris nicht mal die einfachsten Sätze fehlerfrei vorlesen konnte, redete Chris den ganzen Tag nicht mehr, egal wie oft er aufgerufen wurde. Am nächsten Morgen schmückte eine Karikatur des Lehrers die Tafel, wie er unserem Direktor den Allerwertesten leckte – lebensecht plastisch wiedergegeben und anatomisch korrekt bis ins Detail. Als der Lehrer das Gemälde in einem Wutanfall abwischen wollte, musste er feststellen, dass die Kreidezeichnung auf der Tafel mit Haarlack fixiert war. Chris kam nur deshalb um eine Bestrafung herum, weil seine rechte Hand bis hoch zu den Fingerspitzen eingegipst war. Er hatte sich das Handgelenk nachweislich im Sportunterricht gebrochen. Dass er mit seiner Linken so sicher zeichnen konnte wie mit der Rechten, wussten nur wenige.

    »Er hat gesagt, dass er herkommt, also wird er kommen«, stellte ich kurz und bündig fest.

    Es war Mitte der Neunziger, und das bedeutet: kein Smartphone, kein WhatsApp, kein Was-auch-immer. Wenn du eine Verabredung klargemacht hattest, dann tatest du gut daran, halbwegs pünktlich zu sein, wenn du vor deinen Freunden nicht als unzuverlässiger Arsch dastehen wolltest.

    »Und wenn sie ihn geschnappt haben?«

    »Ach wo, den doch nicht! Der redet sich doch überall raus.«

    Ich übertrieb nicht. Sinon war der geborene Geschichtenerzähler. Er konnte lügen, dass sich die Balken bogen, und das mit einem Ausdruck lammfrommer Unschuld im Gesicht. In seinen Erzählungen vermischte er Gehörtes und Gelesenes mit Erlebtem, und so gut wie nie widersprach er sich in dem, was er einem auftischte, war es nun ausgedacht oder wahr. Als ich noch auf die Oberschule gegangen war, hatte ich mal auf dem Flur ein Gespräch zwischen zwei Lehrern belauscht, in dem einer zum anderen meinte: »Wenn dir der Bengel einen guten Morgen wünscht, tust du gut daran, zur Sicherheit aus dem Fenster zu schauen, ob es draußen wirklich hell ist.« Es war ziemlich klar, wen sie meinten.

    Mein Bruder hieß nicht wirklich Sinon. Ich meine, wer heißt heutzutage schon Sinon? Nicht mal damals, als ich jung war, lief man bei uns im Osten mit so einem Namen herum. Die Jungen aus meinem Jahrgang hießen Rico, Ronny, André, Mark, Leon, die Mädchen Jaqueline, Janine, Angelique oder auf was für exotische Ideen unsere Eltern sonst noch kamen. Hauptsache, es klang ausländisch, nach großer weiter Welt. Aber ein Name wie aus einem alten griechischen Heldenepos – das ging ihnen wohl doch etwas zu weit. Was Französisches, Italienisches oder meinetwegen auch Russisches reichte.

    Mein Spitzname während der Schulzeit war Boi – und bevor du jetzt lange rätselst: Er steht für die Anfangsbuchstaben meines Namens. Wenn man seit der Geburt mit den Vornamen Bianca und Olinda herumlaufen muss, ist man froh über jeden Spitznamen, der einigermaßen was hermacht. Es hätte mich wesentlich schlechter treffen können.

    Dagegen hatte sich Sinon seinen Spitznamen durch eine solide Leistung auf der Schule verdient. Als er mal zu spät zum Unterricht gekommen war, hatte er dem Geschichtslehrer eine derart absurde und haarsträubende Geschichte als Ausrede aufgetischt, dass der ihn beeindruckt sich setzen ließ, ohne die Fehlzeit ins Klassenbuch einzutragen. Von da an hatte mein Bruder seinen Spitznamen weg: Sinon – nach dem sprachgewandten Hirten, der die Trojaner dazu überredete, das hölzerne Pferd der Griechen in die Stadt zu ziehen. Bald nannte ihn jeder so, und irgendwann war es uns geläufiger als sein echter Name.

    Ich widmete mich wieder dem ausgebauten Vergaser meiner Simson. Das Moped war seit dem Kauf mein ständiges Sorgenkind. Die unzähligen Reparaturen hatten aus mir zwangsläufig eine routinierte Mechanikerin gemacht. Die Schule, auf die ich gegangen war, trug nicht umsonst die Bezeichnung Polytechnische. Trotzdem hatte ich bei allem Fachwissen, das ich mir über meinen Basteleien angeeignet hatte, noch nicht herausfinden können, warum das verflixte Ding immer wieder den Geist aufgab.

    Ich sah nur kurz hoch, als sich Gonzo bückte, um ein verbogenes Blechschild aufzuheben und säubernd mit dem Ärmel darüber zu wischen. »Erfolg fängt mit Wollen an«, las er halblaut vor.

    »Klingt wie von ’nem chinesischen Glückskeks«, spottete ich.

    »Hier hinten liegt ein ganzer Haufen davon. Hört euch das an!« Gonzo verstellte seine Stimme zu der höhnischen Parodie eines gelangweilten Schuljungen, der ein Gedicht aufzusagen hat: »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied! … Arbeite mit, plane mit, regiere mit! … Meine Hand für mein Produkt. – Oder der hier; der gefällt mir ganz besonders gut: Pack mit an, und die Arbeit ist getan

    »Das Zeug hing drüben im Werk über den Arbeitsplätzen«, erklärte Chris. »Sollte die Arbeitsmoral stärken und die Produktivität erhöhen oder so. Mein alter Herr hat es mir erzählt. Wenn er mal in Laune ist, redet er stundenlang davon, wie jeden Mittwochmorgen die Muppet Show abging.«

    »Muppet Show?«

    »So haben das die Arbeiter genannt. Das war nach der Abwicklung, schon unterm neuen Chef. Er und der Prokurist gehen also jeden Mittwochmorgen von Platz zu Platz und lassen dabei launische Kommentare vom Stapel wie diese beiden alten Knilche, Waldorf und – wie hieß er doch gleich …«

    »Statler.«

    »Genau. – Na, was haben Sie denn heute geschafft? Glauben Sie, dass Sie noch eins draufsetzen könnten? Sie wissen ja, dass 140.000 Leute auf Ihren Arbeitsplatz warten

    »Was für ein Arsch!« Gonzo studierte die in den Putz eingeritzten oder mit Kreide aufgemalten Sprüche und Obszönitäten, die frühere Besucher der Halle hinterlassen hatten. »Kann mir nicht im Traum vorstellen, dass jemand scharf auf die Tretmühle hier war.«

    »Tja, das waren sie aber«, sagte Chris mit Nachdruck.

    »Hat dein Alter nicht immer mal was mitgehen lassen, um’s zu verhökern?«, erkundigte sich Gonzo lauernd.

    Chris kratzte sich mit seinem Buntstift hinter dem Ohr. »Da war er nicht der Einzige. War ja schließlich Volkseigentum, also war’s in gewisser Weise auch seines.«

    »So kann man’s natürlich auch sehen«, spottete Gonzo. »Kein Wunder, dass das Werk dichtmachen musste bei dem ganzen Schwund. Muss ja der reinste Selbstbedienungsladen gewesen sein.« Er stupste das Blechschild mit dem nackten Zeh an. »Meine Hand für mein Produkt. – So mancher hat’s wohl zu wörtlich genommen.«

    »Nach der Wende, unter dem neuen Chef, hat’s das nicht mehr gegeben«, sagte Chris. »Wozu auch? Gab ja dann alles zu kaufen.« Er klappte das Skizzenbuch zu und steckte es in seine Jackentasche zurück. »Mein Alter hat gern hier gearbeitet, verstehste? Selbst nachdem Schicht im Schacht war, ist er immer noch um sechs aufgestanden, hat sich rasiert und angezogen, mit uns gefrühstückt und seine Stullen geschmiert wie jeden Werktag.«

    »Wahrscheinlich ist er in die Kneipe, als du zur Schule bist, und hat sich bis zur Oberkante volllaufen lassen.«

    Chris schüttelte den Kopf. »Damals war’s noch nicht so schlimm wie heute. Er ist runter in die Werft und hat bis zum Abend an seinem Boot ’rumgeschraubt, wenn du’s genau wissen willst.«

    »Ich will’s nicht wissen«, winkte Gonzo mürrisch ab.

    Arbeitsplatz und Karriere waren seit unserem Abschlussjahr ständige Reizthemen bei uns – nun, bei unseren Eltern sowieso. In den ersten Jahren nach der Wende waren wir alle noch voller Zuversicht gewesen. Keine Mangelwirtschaft mehr, kein Fünfjahresplan, keine Gängelung, kein Auto, auf das man nach der Bestellung zehn Jahre warten musste. Stattdessen volle Schaufenster. Und Reisefreiheit! Das vor allem! Endlich die Orte mit eigenen Augen sehen, die wir bisher nur aus den Büchern kannten! Die Welt stand uns offen, die große weite Welt! Wir waren jung, dynamisch, belastbar, flexibel und gut ausgebildet – ein echter Aktivposten eben, eine Investition und Bereicherung für jedes Unternehmen. Ein bisschen in die Hände gespuckt, und mit etwas Fleiß und gutem Willen würde es schon klappen.

    Die Warnungen, mit denen der Geografielehrer uns beim Abschluss entließ (»Glaubt bloß nicht, dass nun alles besser wird in der neuen Gesellschaft. Ab jetzt heißt es: Haste was, dann biste was!«), schrieben wir in den Wind. Was wollten uns diese Besserwisser schon erzählen! Jahrelang hatten sie uns eingetrichtert, dass – so unabwendbar wie der Wechsel der Jahreszeiten – auf den »faulenden Kapitalismus« der Sozialismus als Übergang und danach die »lichten Höhen« der klassenlosen Gesellschaft folgen müssten.

    Sie hatten sich geirrt. Und wie sie sich geirrt hatten. Da fragt man sich doch, in was sie sonst noch alles falsch lagen.

    Die Tinte auf dem Einigungsvertrag war noch nicht trocken, da fanden sich die ersten 2000 Arbeiter des Maschinenbau-Werkes auf der Straße wieder. Das DEFA-Studio steuerte noch mal 1.600 zur Statistik bei, die 120 Arbeitslosen des Datenverarbeitungszentrums fielen da schon gar nicht mehr ins Gewicht. Die Mühlenwerke wurden geschlossen, der Schlachthof verödete, die Obstplantagen nördlich der Stadt verwilderten. Bei unseren Eltern kehrte Ernüchterung ein, die sich bald in ernste Sauertöpferei verwandelte. 1989 waren sie auf die Straßen gegangen, um für mehr Freiheit zu demonstrieren, und hatten dann später die Parteien gewählt, die »Keine sozialistischen Experimente mehr!« versprachen, sondern das Schlaraffenland der D-Mark. Und nun hockten sie zu Hause oder bei ihren Umschulungen und schauten aus der Wäsche wie Goethes Zauberlehrling auf die Geister, die er gerufen hatte.

    Wir flohen vor dem miesen Karma unserer Elternhäuser auf die Straße. Der Verfall, die Verwilderung zogen uns an, ohne dass wir einen genauen Grund dafür hätten nennen können.

    Wir waren nicht die Einzigen, die ein Faible für das Morbide hatten. In der Gegend liefen Gestalten rum, die sich mit Vorliebe dunkel kleideten, die Haare schwarz färbten, die Gesichter kalkweiß schminkten, düstere Musik hörten, die Nächte auf Friedhöfen verbrachten und vermutlich tagsüber zu Hause zum Schlafen kopfüber in ihren Kleiderschränken hingen. Wenn sie überhaupt mal schliefen, was für uns nicht so ganz geklärt war. Wir nannten sie Grufties, zeigten mit dem Finger auf sie und lachten sie aus, aber unser Lachen hatte dabei etwas Gekünsteltes. Es war, als würdest du Witze über den offenen Hosenstall deines Lehrers machen und dabei den Soßenfleck auf der eigenen Bluse nicht mitbekommen. Allzu fremd waren wir uns nicht.

    Allerdings brauchte ich keine Friedhöfe und Grüfte. Mich zogen verlassene Häuser und stillgelegte Fabriken an. Für unsere Eltern hatte es nichts Wichtigeres gegeben als ihren Arbeitsplatz, ihre Aufgabe. Das Recht auf einen Arbeitsplatz hatte in der Verfassung des Landes gestanden, das es nicht mehr gab. Nun streiften wir durch die Ruinen von Atlantis, die uns daran erinnerten, dass nichts Bestand hatte von dem, was wir taten und was wir schufen. Nichts würde von uns bleiben, nichts von unseren Werken, nichts von den guten, nichts von den schlechten Taten. Der Anblick des Verfalls um uns herum befreite mich von der Last jeglicher Anforderungen.

    Die ehemaligen Bewohner hatten nicht immer alles mitnehmen können oder wollen, und so gab es in den verlassenen Häusern eigentlich immer etwas zu entdecken: ein zerschlissenes Plüschsofa vor einem zerbrochenen Fenster, durch das breite Bahnen von Sonnenlicht fielen, kaputtes Spielzeug, Schallplatten, Bücher, ein Röhrenradio und ganze Stapel alter Hefte (MOSAIK, FRÖSI und natürlich DAS MAGAZIN mit den Nacktbildern). Unser gruseligster Fund waren verrostete Zangen im OP-Saal der alten Lungenklinik, und einmal warf Gonzo aus Übermut einen Wandschrank um, hinter dem sich ein Hohlraum auftat, in dem wir einen Stapel alter Fotoplatten fanden – richtige Fotoplatten! Sie mussten seit Urzeiten da gelegen haben. Wahrscheinlich hatten nicht mal die vorherigen Bewohner von dem Versteck gewusst.

    All das gehörte uns. Wir hatten ein Anrecht darauf, so wie die Einheimischen, die die Gräber der Pharaonen plünderten.

    Also konnten wir das Zeug auch verkaufen.

    Gonzo kam zum Thema. »Übrigens, von den Piepen, die wir vom Alberich für die Bronzesachen gekriegt haben, ist auch nichts mehr übrig.«

    »Hättest deinen Anteil eben nicht für die Ticke ausgeben sollen«, zog ich ihn auf.

    »Mensch, das war ’ne gute Uhr!«, verteidigte er sich. »Eine richtig gute, antike Taschenuhr war das! So eine wollt’ ich schon immer haben.«

    »Ja genau«, stichelte ich. »So antik, dass sie nach nicht mal zwei Wochen den Geist aufgegeben hat.«

    »Wozu brauchst du auch so eine?«, wollte Chris wissen.

    »Weil sie mich in der Werkstatt keine Armbanduhr tragen lassen«, knurrte Gonzo. »Arbeitsschutz und so. Fast alle dort stecken ihre Uhr in die Hosentasche oder schnallen sie unter der Kombi an den Gürtel. Aber eine Taschenuhr – so ’n Ding mit Kette und Karabinerhaken, das hat mal richtig Klasse!«

    »Der Händler hat dich böse verarscht, glaub mir«, sagte ich. »Wenn das Ding antik war, fress’ ich ’n Besen. Nichts ist so peinlich wie ein Dieb, der sich bescheißen lässt.«

    »Der Alberich is’n Geizhals!«, meckerte Gonzo weiter, vermutlich um von seiner zweifelhaften Erwerbung abzulenken. »Uns lächerliche zehn Prozent für die Kupferplatten und die Figur zu geben!«

    »Was willste machen? So ist nun mal der Preis.«

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