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Gegenblende: Journal 2017
Gegenblende: Journal 2017
Gegenblende: Journal 2017
Ebook175 pages2 hours

Gegenblende: Journal 2017

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About this ebook

In meinem Journal halte ich fest, was mir im Jahr wichtig war: Leseeindrücke. Berichte von Ausstellungen und Konzerten. Begegnungen. Naturschilderungen. Reiseberichte. Reflexionen. Erlebnisse der besonderen Art. Es handelt sich um Schreibversuche, Fingerübungen, Arbeitsnotizen, Materialsammlungen, kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.
LanguageDeutsch
Release dateJan 18, 2018
ISBN9783746023335
Gegenblende: Journal 2017
Author

Joke Frerichs

Joke Frerichs; Jahrgang 1945; 8 Jahre Volksschule; Lehre bei der Stadt Emden; Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg; Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik; Dr. rer. pol.; langjährige Berufstätigkeit im sozialwissenschaftlichen Feld; seit 2000 als freier Autor tätig. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten sozialwissenschaftlicher Fachliteratur und im literarischen Feld (Romane, Gedichte, Essays). Lebt und arbeitet in Köln und Wilhelmshaven.

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    Book preview

    Gegenblende - Joke Frerichs

    Haben einen sehr ruhigen Silvestertag verbracht; mit Wandern, Schachspiel, klassischer und Rockmusik, gutem Essen und Wein. Die Texte der neuen Bücher sind gelesen und teilweise korrigiert. Sie harren der weiteren Bearbeitung und Gestaltung.

    *

    Schicke meinen Essay Der Idealist und der Zweifler, der im Blog der Republik erschienen ist, an meinen alten Deutschlehrer vom Hessen-Kolleg Manfred Peter. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung eines Schulaufsatzes von 1967. Er antwortet mir wie folgt:

    Ich erinnere mich sehr gut an Ihren Aufsatz von damals und bewundere die weiterführende Reife, die diese initiale Idee gefunden hat.

    Es ist ein großartiger Text entstanden. Es geht wie alles in unserem Bewusstsein um die Gegenwart, die wir im Spiegel der Zeugnisse der Vergangenheit wahrnehmen. Es ist sicher richtig, dass weder Cervantes noch Shakespeare im Grunde wussten, was sie taten.

    Wissen kommt immer zu spät. Die handelnden Personen verlieren sich im alltäglichen Betrieb, doch ihre sensible Wahrnehmung erhellt, was ihnen widerfährt.

    Zu spät erst weise ist ein Satz aus dem Parzival von Wolfram von Eschenbach. Das ist eine schicksalhafte Sentenz. Das Wissen nützt leider sehr wenig. Die Windmühlen und die Wirrnisse eines sinnlosen Fechtens, sind stärker.

    Dennoch, es gewagt zu haben, nicht konform zu sein, das bleibt letztlich übrig.

    Reicht es aber für das eigene Standbild aus? Was überlebt uns?

    Herzlichen Gruß und gute Wünsche für ein Jahr, das mit Sicherheit einen Quijote und auch Hamlet besiegt zurücklassen wird.

    *

    Auch W. L. und V. B. äußern sich positiv zu dem Text. W. schreibt u.a.: Ich bin beeindruckt von Deiner Schaffenskraft. Ich brauchte allein zum Lesen der beiden Werke mehr Zeit, als Du offenbar mit einer profunden Besprechung. Sie hat mich so beeindruckt, dass ich den Entschluss gefasst habe, Hamlet und Don Quijote noch einmal zu lesen. Ich habe nicht im Ansatz geahnt, welcher Hintersinn sich in solchen Werken der Weltliteratur verbirgt.

    *

    Zum 31.12. hat unser Gemüsestand Kerschkamp aufgegeben. Über dreißig Jahre lang waren wir dort Kunden. Nahezu jeder Einkauf war mit Geplauder, Scherzen oder auch fachlichen Gesprächen verbunden. Hin und wieder holten wir aus der nahegelegenen Kneipe ein Kölsch und unterhielten uns weiter. Vor einigen Wochen schloss bereits der Fischstand, weil sich das Geschäft scheinbar nicht mehr lohnte; und jetzt auch noch der Gemüsestand. Damit geht ein Stück Alltagskultur verloren. Wir werden Ernst und seine Crew vermissen.

    *

    Stöbere in alten Bücherbeständen herum und stoße auf das von Franz Borkenau herausgegebene Marx-Buch. Es enthält Textausschnitte aus diversen Werken von Marx. Ich hatte mir das Buch 1967 gekauft, als ich noch am Hessen-Kolleg war. Zu dieser Zeit hatte ich noch keinen der blauen MEW-Bände. Die ersten drei kaufte ich mir 1968 in Prag in einem Kulturinstitut der DDR.

    Ich schlage zufällig die Textstelle über die ursprüngliche Akkumulation aus dem 1. Band des Kapitals auf und staune über die literarische Qualität der Marxschen Ausführungen. Dort heißt es u.a.:

    Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf den einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten… Sobald die Eigentumsfrage ins Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, den Standpunkt der Kinderfibel als den allen Altersklassen und Entwicklungsstufen allein gerechten festzuhalten. In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz: Gewalt, die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle, Recht und „Arbeit" waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel… In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.

    *

    Elias Weisgärber, mein Künstlerfreund aus Zimmerschied ruft an. Ich solle nicht vergessen, mir ein Bild von ihm auszusuchen. Anlass ist: ich hatte ihm kurz vor Heiligabend einen kleinen Geldbetrag zukommen lassen. Da es ihm schwerfällt, etwas ohne Gegenleistung anzunehmen, hatte ich eine schöne Geschichte dazu erfunden. Ich hätte unser gemeinsames Buch in einem Café in Köln ausgelegt und dies sei nun das Honorar für die verkauften Bücher. Er schaute mich ungläubig an (im wahrsten Sinne des Wortes ungläubig, denn er glaubte mir natürlich nicht) und meinte dann nur: Gut, gut, wenn es so etwas gibt. Aber du musst dir noch ein Bild von mir mitnehmen. Um ihn zu beruhigen, sagte ich zu, in den nächsten Tagen noch einmal vorbeizukommen.

    Elias ist ein Phänomen.¹ Er hat schwere Zeiten durchlebt (Krieg; Vertreibung); als Grafiker hat er wenig verdient und erhält jetzt eine entsprechend kleine Rente. Man kann sagen, er lebt in Armut; wäre da nicht sein kulturelles Kapital. Er hat früher u.a. Karikaturen für den Simplizissimus, den Spiegel und Konkret gezeichnet; nimmt bis heute an Kunstausstellungen teil und malt und zeichnet täglich zwei bis drei Stunden. In diesem Jahr wird er neunzig. Ist ungebrochen, wenn auch mitunter zornig und zunehmend sarkastisch. Die politischen Entwicklungen erzürnen ihn; das Vertrauen in die etablierten Parteien hat er restlos verloren. Zwar würde er niemals die AfD wählen – dann würde mir die Hand abfallen – aber er empört sich über Berichte, wonach Flüchtlinge sich mit mehreren Identitäten ausstatten und dann mehrfach abkassieren. Der Terrorist von Berlin habe Papiere mit zwölf verschiedenen Namen bei sich geführt. Er verstehe nicht, wie das möglich sein kann (ich übrigens auch nicht). Wie soll man sich verhalten? Noch vor einiger Zeit hätte ich von Einzelfällen gesprochen; nunmehr spüre ich – da ich ebenfalls fast täglich ähnliche Berichte lese – dass mir mehr und mehr die Argumente ausgehen. Vor allem aber verstehe ich, dass einer wie Elias, der sein Leben lang ums Überleben kämpfen musste, sich empört. Da bin ich ganz auf seiner Seite.

    *

    Klaus hat in Oldenburg Andreas getroffen, der meinen Roman Das Haus des Dichters gelesen hat, begeistert davon ist und ihn gleich noch einmal lesen will.

    Natürlich freut man sich über derartige Rückmeldungen, zumal sie äußerst spärlich sind. In diesem Fall freue ich mich ganz besonders, da A. einer der wenigen Literaturkenner ist, die einen Sinn für ästhetische Feinheiten haben. Das hat er im letzten Jahr auf der Garten-Lesung in Emden bewiesen, als er einen kleinen Text von Hesse vorlas. Das brachte mich überhaupt auf die Idee, ihm meinen Roman zu schicken. Und wie sich zeigt, habe ich mich nicht in ihm getäuscht.

    *

    Arbeite am Manuskript des gemeinsamen Buches von Klaus und mir. Gruppiere noch einiges um. Alles garniert mit Fotos von uns in verschiedenen Entwicklungsphasen; teilweise mit unseren Frauen. Es ist ein seltsames Gefühl, die alten Fotos anzuschauen und sich an die Situationen zu erinnern, in denen sie entstanden. Zumindest vereinzelt gelingt das.

    Die Zusammenarbeit läuft problemlos. Ole hat uns die Dropbox eingerichtet, so dass wir uns direkt die Texte zuschicken können. Nach meinem Gefühl ist das Buch weit gediehen.

    *

    Petra hat ihre Rezension des von Felix Klopotek herausgegebenen Sammelbandes über Zonen der Selbstoptimierung fertig. Sie hat viel Arbeit darin investiert, so dass wir auf die Idee kommen, aus ihren Aufzeichnungen einen Essay zu machen. Aber später. Erst einmal muss die Rezension im Blog erscheinen.

    *

    Das erste Buchmanuskript ist an BoD gegangen (14.1.): Mein Journal des Jahres 2016. Titel: Die Schatten werden länger. Das Buch enthält einige Schätze, die ich unbedingt für mich festhalten wollte. Die Versuche über Faulkner, Benn, Lange z.B. Auch die Passagen über meinen Roman; Petras Besprechung desselben; auch die von A. In der Buchform sind sie jetzt zugänglich und man muss sich nicht alles aus diversen Kontexten zusammensuchen.

    Heute beginnt Petra mit der Gestaltung des neuen Buches Kontinuitäten und Brüche. Versuch einer Selbstbeschreibung; meiner Anti-Intellektuellen-Autobiographie. An der zu arbeiten war stets mit ambivalenten Gefühlen verbunden: einerseits staune ich selbst über die Kontinuitäten in meinem Werdegang: im Hinblick auf Personen, mit denen ich teilweise über Jahrzehnte Kontakt gehalten habe und meine Beschäftigung mit Themen der Arbeitswelt, die mich immer wieder umgetrieben haben. Andrerseits wird mir klar, wie viele Risiken ich eingegangen bin, als ich z.B. zweimal meine Berufstätigkeiten an den Nagel gehängt und mich auf unsicheres Terrain begeben habe. Nur die Zeit im ISO habe ich über alle Maßen gedehnt; vielleicht aus Bequemlichkeit; aber auch, weil mir die Forschungsarbeit im Feld Betrieb zeitweilig Spaß gemacht hat. Aber spätestens 1989 – nach der großen Krise im Institut – hätte ich mich gegen das ISO entscheiden sollen. Dann wäre noch genug Zeit zum (literarischen) Schreiben geblieben. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre damals schon auf Dieter Wellershoff getroffen.

    *

    Lese den Sammelband Zonen der Selbstoptimierung. Es gibt darin einige sehr starke Beiträge: zum Leistungsbegriff; über marktkonforme Antikapitalisten; eine Kritik der kulinarischen Vernunft usw. Auch das Interview mit Klaus Theweleit, das Felix geführt hat, ist lesenswert. Dass es auch schwächere Beiträge gibt – es sind leider die der Frauen – tut dem Ganzen keinen Abbruch. Ein interessantes Buch zu einigen wichtigen Aspekten der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft.

    *

    Im Kölner Stadtanzeiger findet sich am 16.1. folgende Schlagzeile: Acht Superreiche besitzen so viel wie 3,6 Milliarden Menschen. Weiter heißt es in der Meldung: Die soziale Ungleichheit ist noch krasser als angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt die Nichtregierungsorganisation Oxfam in ihrem neuen Bericht zur weltweiten Verteilung. Acht Männer vereinen laut der Studie so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.

    Wenn dies das Resultat der uns als alternativlos dargestellten Globalisierung ist, dann ist Schlimmes für die Zukunft zu erwarten: noch mehr Flüchtlingsströme; eine noch größere Kluft zwischen Armen und Reichen und nicht zuletzt: ein weiteres Aufkommen populistischer Strömungen weltweit. Und es ist nicht zu sehen, dass dem wirksam entgegen gearbeitet wird. Bisher gibt es lediglich Appelle: von den G 20-Staaten, dem Papst und selbst vom Weltwirtschaftsforum in Davos. Aber gerade dort sitzen sie doch, die Reichen und Mächtigen dieser Welt. Glaubt wirklich jemand, dass von dort die Rettung naht?

    *

    Telefoniere am 20.1. mit Frauke und gratuliere ihr zum Geburtstag. Ich rede nur kurz mit ihr, da sie Besuch hat. Klaus schreibt mir später, dass sie wieder stark abgenommen hat. Sie ist jetzt 74 Jahre alt; ein magisches Datum in unserer Familie. In diesem Alter starben die Großeltern und die Eltern.

    *

    Donald Trump ist als Präsident der USA vereidigt worden und hält eine bizarre Inaugurationsrede. Darin beschimpft er die Reichen und die politische Elite, die teilweise anwesend ist. Vielleicht sollte er sich einmal sein eigenes Kabinett ansehen. Lauter Milliardäre und Generäle. Und die sollen sich jetzt um die Armen und Abgehängten im Lande kümmern? Er ist ein Lügner und Ignorant und strotzt nur so vor Inkompetenz. Er glaubt fest daran, durch Deals – wie im Geschäftsleben – regieren zu können. Hoffentlich endet das Ganze nicht in einem Alptraum.

    *

    A. war zu Besuch bei uns. Wie immer gibt es interessante Diskussionen; z.B. über meinen Intellektuellenstatus. Sie vertritt eine nachdenkenswerte These: nicht so sehr meine Herkunft, sondern dass ich mir ein theoretisches Rüstzeug zum Verständnis der Gesellschaft verschafft habe, ist für sie ausschlaggebend für die Frage, ob ich ein Intellektueller bin oder nicht. Wer praktische Erfahrungen macht, geht auf ganz andere Weise an die Dinge heran, meint sie.

    Da ist was dran. Ich wende ein, dass ich in meinem Buch versucht habe, darzustellen, dass meine Herkunft aus dem Arbeitermilieu und meine wissenschaftliche Praxis miteinander in Einklang standen und

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