Ortszeit
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Der Zwischen-Generation der Kriegskinder aber bleibt die Rückkehr an ihre "einzigartige Geburtsstätte" nicht erspart; auch die schönen, großen Fluchten (Italien, Ägypten, Japan) und die Träume der großen Liebe bewahren sie nicht vor Abstürzen und Obsessionen, die immer mit der 'alten' Angst zu tun haben, alles sei augenblicklich dem endgültigen Verschwinden preisgegeben.
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Book preview
Ortszeit - Götz Grossklaus
Götz Grossklaus
ORTSZEIT
Bibliografische Information
Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
E-Book-Herstellung
: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86205-943-0 (
E-Book
)
© IUDICIUM Verlag GmbH München 2005
Alle Rechte vorbehalten
INHALT
COVER
TITEL
IMPRESSUM
I. DAS GEDÄCHTNIS DES HAUSES
II. DAS ZIMMER DER GEHÄNGTEN
III. EIN MORGEN AN DER SEE
IV. DIE ZEIT DES ROCHENS
V. TRISTEZZA
VI. DIE MANGA-PRINZESSIN
DAS GEDÄCHTNIS DES HAUSES
I.
A
ls hätte das Haus mitten in einem riesigen Garten gestanden – weit und breit nichts außer diesem weißen, übergroßen Haus mit Balkonen, Veranden und Erkern, umstanden von dichten Büschen und haushohen Hecken – geschützt hinter diesem undurchdringlichen Schutzwall: verborgen; als hätte sich draußen jenseits der Zäune bedrohliches Niemandsland befunden; als hätte sich aber hinter dem Haus auf einer endlos abschüssigen Wiese ein Wald hinuntergezogen in ein abgründiges, modriges Tal – ein Wald voller Birnbäume, Apfelbäume, Pflaumenbäume und Mirabellenbäume; als hätten in den Himmel ragende Holunderbüsche die Eingangspforte umrahmt; als hätte es einer Tagesreise bedurft, um von einem Ende zum anderen Ende des Gartens zu gelangen – als hätten sich jenseits dieses Gartens nur tote Geröll- und Schuttfelder ausgedehnt bis an den Horizont einer bösen und unheimlichen Landschaft – so ruhte auf dem Grund seines Gedächtnisses ein altes Bild des Hauses.
Das Haus des Großvaters, das Haus seiner Kindheit, erschien ihm jetzt gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen der Zeit: die Bilder entstammten unterschiedlichen Zeiträumen des Vergangenen und fielen doch jetzt in seiner augenblicklichen Erinnerung in einem Raumbild des Hauses palimpsestartig zusammen. Jede Erinnerung aber trug die Spuren aller vorangehenden Erinnerungen, so dass es ihm vorkam, als habe das immer wieder aufscheinende Bild des Hauses an Dichte und Gegenwärtigkeit gerade dadurch gewonnen, weil es so oft in ihm wachgerufen worden war in den Jahren, die ihn immer weiter entfernt hatten von dem Ort seiner Kindheit: zeitlich wie räumlich. Die Erinnerungen entschädigten ihn für den Verlust, indem sie den Bildraum des Hauses ständig erweiterten – immer neue, schon vergessene Winkel, Seitenräume, Kammern und Verschläge im Inneren und irgendwelche abseitige Nischen und Höhlungen an den Rändern und Grenzen des Gartens im Außenfeld des Grundstückes ausleuchteten und wie im Zoom heranholten – schließlich überhaupt der ganzen Szene das Ansehen einer Simulation verliehen, die virtuell zu begehen war.
Auch seine Träume bewegten sich in diesem simulativen Raum; immer war er sich traumhaft bewusst, an welchem Ort im Haus er sich gerade befand oder an welcher Stelle des Gartens. So trugen auch die Träume dazu bei, die topographische Vertrautheit mit der erinnerten Örtlichkeit zu bewahren. In einem ständig sich wiederholenden Traum erlebte er seine Rückkehr an den verlorenen Ort seiner Kindheit, der nach der Grenzziehung durch Deutschland für eine lange Zeit unerreichbar blieb. Der Traum führte ihn auf vertrauten Wegen wieder zum Haus des Großvaters – am Ende die kleine, nicht gepflasterte Sackgasse hinauf, die in einen etwas verwilderten Vorplatz mit einem großen Holunderbusch mündete; und immer wieder stand er dann dort im Traum vor der Pforte, die er öffnete; er trat über die Schwelle, um dann die steinerne Treppe durch den abfallenden Vorgarten hinabzusteigen zum Haus, das hier am Hang lag. Dieser Traum einer Wiederkehr erteilte ihm in der Regelmäßigkeit seines Erscheinens einen unabweisbaren Befehl, dem er irgendwann nachzukommen hatte. Gerade in der Wiederholung bekam die Traumszene für ihn den nötigenden Charakter eines Rituals, das ihm vorschrieb, jene Schwelle zu überschreiten, die sich als Pforte, Treppe und Stufe zu erkennen gab und zwischen außen und innen vermittelte. Der Außenraum des Vorplatzes, der Straße, der Stadt – der Welt – hatte an der Pforte seine Grenze. Zwischen Pforte und Haustür erstreckte sich ein Schwellenraum, der weder der äußeren noch der inneren Welt zuzugehören schien. In diesem Traum kam er jedes Mal von außen: von weit her zurück an diese Pforte, um über die Zeitschwelle die Gegenwart zu verlassen, nach innen; und eintreten zu können in das Haus der Vergangenheit. Aber sobald er wach war und sich an den Traum zu erinnern versuchte, erschien vor seinem inneren Auge dieser Raum zwischen Pforte und Tür als magische Schwelle ganz konkreter Übergänge und Bewegungen – und zwar in umgekehrter Richtung: von innen nach außen – so wie er sich sah, herausgetreten aus dem schützenden Haus mit Vespertasche, Schulranzen und Schultüte, noch auf den Stufen der Steintreppe, aber noch nicht draußen angekommen: auf der Straße jenseits des Hauses, des Gartens und des Gartenzauns. Jedoch was in diesem Augenblick als inneres Bild dieses magischen Ortes – als Erinnerung an eine bestimmte Szene dieses Tages seiner Einschulung im April 1940 in ihm auftauchte, konnte nichts anderes sein als die Erinnerung an eine bestimmte Fotografie, die seine Mutter an jenem Tag von ihm gemacht hatte und die er sich so oft angeschaut hatte. Mit einem gewissen Gespür dafür, dass es sich um eine Initiation handelte, hatte sie ihn an dieser Schwelle zwischen innen und außen – zwischen Haus und Welt platziert – in Pose gestellt und im Foto gebannt an diese Raumstelle, an die er vierzig Jahre später in Befolgung des Traumbefehls zurückkehrte. Die Erinnerung an diese Rückkehr hatte inzwischen ihrerseits eine neue Spur gelegt, mit der er rechnen musste. Die Spuren aller Ankünfte und aller Abschiede, die für ihn in jenen Jahren der Kindheit eine besondere Bedeutung erlangt hatten, hafteten im wahrsten Sinne des Wortes an dieser Schwelle. Der ihm schon fremd gewordene Vater erschien plötzlich an der Pforte, kam die Steintreppe herunter in der ihm unbekannten Uniform eines Marineoffiziers, kam für ihn von weit her, von draußen, aus einer Weltgegend, in der ein Krieg herrschte, von dem er sich noch keine Vorstellungen machen konnte. Dieser Fremde durcheilte diesen für ihn so bedeutsamen Raum zwischen Pforte und Haustür, diese Zone, in der die Entscheidung für Abkehr oder Zuwendung fiel, ohne ihm Zeit zu lassen – wie ein Eindringling, der die Gesetze der Schwelle missachtete. Das Kind hatte sich nie Rechenschaft darüber ablegen können, ob diese Ankünfte des fremden Vaters in irgendeiner Verbindung standen mit einem immer wiederkehrenden kindlichen Angsttraum, der diesen Schwellenraum zwischen Straße, Pforte, Treppe und Haustür zum Schauplatz hatte. Er befand sich innen, im Haus, es war Nacht; von draußen hörte er das bedrohliche Geräusch einer von der unteren Straße sich dem Haus nähernden Horde von Banditen oder Soldaten; sehen konnte er nichts; nur der anschwellende Lärm von Motoren, von Bulldog-Traktoren, von Stimmengewirr, von klirrenden Gerätschaften setzte ihn zunehmend in Angst und Panik; er versuchte, die Haustür von innen zu verbarrikadieren; doch die Eindringlinge hatten inzwischen die Grundstücksgrenze schon überschritten, hatten Pforte und Treppe passiert und sammelten sich unter dem Vorbau, der das letzte Wegstück bis zur Haustür überdachte. Jetzt begannen sie mit Stangen, Brecheisen und Äxten die Haustür zu bearbeiten, um die letzte Grenzbefestigung auf der Scheidelinie zwischen innen und außen zu zertrümmern; er fürchtete, dass seine Barrikade dem Ansturm der Fremden nicht standhalten werde – er hörte mit Schrecken die krachenden Schläge – und das war immer auch der Augenblick des Erwachens.
Der Ort der Ankünfte und Abschiede, die Schwelle für den Hereinkommenden, Nachhausekommenden und für den Hinausgehenden behielt für ihn lange Zeit dieses Doppelgesicht einer angstbesetzten Grenze und gleichzeitig eines angstmindernden, vertrauten Terrains, das auf das schutzgewährende Haus zuführte. Für eine lange Zeit nahm das Kind so auch die Eingangspforte und die Steintreppe hinunter durch den kleinen Vorgarten als Schwelle wahr, die die Fremde der Außenwelt von der Eigen- und Innenwelt des Hauses schied. Die Schwelle blieb der Ort, an dem sich das Fremde, das Neue, das Erregende zeigte: nicht nur der fremde Vater auf Urlaub, auch die soldatischen Onkel im Offiziers-Ornat, die mit schweren wehrmachtsgrauen Limousinen vorfuhren – oder viel später die müden und beschwerten Flüchtlinge aus Schlesien, die mit ihrer Habe vor der Tür standen und Einlass begehrten. Einmal jedoch – in jenem Winter 1946, der ihm vor allem atmosphärisch als eine immerwährende, dunkel-bewölkte, bleiern-nasse und kalte Tauwetterzeit im Nebel und Nieselregen in Erinnerung ist, wurde der Grenzverkehr von innen nach außen und von außen nach innen schon an der Pforte gewaltsam unterbrochen; ein Schild wurde dort angebracht, das unter dem Bild eines Totenkopfes die Aufschrift trug: Achtung! Typhus! Keiner durfte das Haus verlassen, keiner die Pforte passieren. Im Haus lag die an Typhus erkrankte Tante; die Aus- und Eingänge blieben versperrt, und er sah sich zum ersten Mal angstvoll eingeschlossen in den Innenraum des Hauses, von dem jetzt Gefahr ausging.
Auf vielen Fotografien aber, aus den ersten Kriegsjahren, in denen das Leben in der kleinen Stadt am Harz, im Haus des Großvaters eigentlich noch unberührt von dem Geschehen in weiter Ferne dahinlief, ist die Eingangspforte zu sehen – als ein besonders freundlicher Ort – eingerahmt von Büschen und Sträuchern, von Forsythien und Rhododendron und vor allem von einem, im Frühling weiß leuchtenden Schneeballbäumchen – ein Ort des Empfangs oder des Aufbruchs, an dem die Besucher kurz verweilen, die Kinder aufgestellt werden, und der Großvater mit seinem Hund steht, noch oberhalb der Treppe, die zwischen einem kleinen Steingarten rechts und links hinunterführt zum Haus, das im Hintergrund des Bildes erscheint. Es sind diese Bilder, die ihm beim Betrachten im Album noch etwas von dieser vorläufigen und trügerischen Stimmung des Friedens wiederzugeben scheinen, die sich zumindest in seiner Erinnerung immer wieder mit diesen ersten Jahren in W. und dem Hause des Großvaters nach der Ankunft im Herbst 1939 verband.
Das gilt besonders für die Fotografien, die hinter dem Haus im Schatten des großen Pflaumenbaums gleich unterhalb der efeubewachsenen Veranda entstanden sind: Bilder einer sommerlichen Kaffeetafel; die Großmutter, die Mutter in hellen Sommerkleidern an einem offenbar heißen Nachmittag, die Kinder auf dem Schoß haltend, im Hintergrund Büsche und Bäume des verwilderten Nachbarsgarten und seitlich der Kiesgrund des Veranda-Vorplatzes mit der Buchsbaumeinfassung. Die Bilder lösten in ihm jedes Mal Kaskaden von Assoziationen aus, die die längst vergangene Szene in jähen Verdichtungen wieder wach rief, so dass in seinem Inneren ein fast vollständiges sinnliches Bild des Gewesenen entstand. Er hörte das besondere knirschende Geräusch von Schritten auf dem Gartenkies, so wie er es in der Kindheit so oft gehört hatte; und roch den besonderen, leicht modrig feuchten Duft des Buchsbaums, so wie er ihn in der Kindheit gerochen hatte. Er fühlte die angenehme Kühle im Schatten des Baumes und der Veranda an der nördlichen Rückseite des Hauses an diesem heißen Sommer-Nachmittag – vielleicht des Jahres 1940 – und empfand den unnatürlichen Frieden, den die Szene ausstrahlte.
Immer scheint die Zeit in den Fotografien angehalten und gestaut, und die Bilder in den Alben kehren immer wieder an jene besonderen Schauplätze im Raumfeld des Hauses zurück, an denen die Menschen ohnehin für eine kurze Frist in einer verlangsamten oder stillgestellten Zeit verweilen. So verharren sie auf der Schwelle, an der Eingangspforte zum Haus oder sie überlassen sich an Sommertagen auf der Terrasse hinter dem Haus einem Zeittakt, der