Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden: Hitlerjugend/Bund Deutscher Mädchen und Freie Deutsche Jugend im Vergleich
By Anne Neunzig
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Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden - Anne Neunzig
Anne Neunzig
Staatsjugendorganisationen –
Ein Traum der Herrschenden
Hitlerjugend/Bund Deutscher Mädchen
und Freie Deutsche Jugend im Vergleich
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
ISBN 9783954885916
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
1. Herausbildung der Jugendverbände vor 1933
1.1 Jugendverbände im Kaiserreich
1.2 Jugendverbände in der Weimarer Republik
2. Abriss über die historische Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend - im Zeitstrahl
3. Die Staatsparteidoktrin des 'Dritten Reiches'
3.1 Die Ideologie des Staatssystems
3.2 Die Grundsätze der Anthropologie
3.3 Bild der Frauen im Nationalsozialismus
3.4 Bild der Männer im Nationalsozialismus
3.5 Bild der Mädchen im Nationalsozialismus
3.6 Bild der Jungen im Nationalsozialismus
4. Struktureller Aufbau der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädchen
4.1 Aufbau und Gliederung
4.2 Die Hierarchie, Struktur und das Führungsprinzip der Gesamt-Hitlerjugend als zentralistisches Prinzip des Machtsystems
5. Erziehung in der Staatsjugendorganisation
5.1 Erziehungsziele im 'Dritten Reich'
5.2 Erziehungsziele im Bund Deutscher Mädchen
5.3 Erziehungsziele in der Hitlerjugend
5.4 Weltanschauliche Schulung und Heimabende
5.5 Kulturarbeit
Kurzer Exkurs: Kunst im Nationalsozialismus
5.6 Feste und Feierlichkeiten
5.7 Fahrten und Lager
5.8 Körperliche Ertüchtigung/Sport
5.9 Die Funktion der Medien
5.10 Sonder- und kriegsunterstützende Dienste in der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen
5.11 Bundestracht/Uniformierung und Symbolik
5.12 Die Leitung der Jugendgruppen durch die HJ- und BDM-Führer/innen
5.13 Totalitätsanspruch
6. Reichsarbeitsdienst und Landjahr
6.1 Der Reichsarbeitsdienst
6.2 Das Landjahr, Pflichtjahr und der Landdienst
7. Widerstand und oppositionelle Jugendgruppen im National sozialismus
7.1 Gesellschaftliche Tendenzen bezüglich der Entwicklung und Entstehung des Jugendwiderstands
7.2 Arten des Widerstandes
7.3 Staatliche Reaktionen auf die Jugendopposition
7.4 Sozialistische und kommunistische Arbeiterjugendverbände
7.5 Konfessionell gebundene Jugendgruppen
7.6 Bündische Jugend
7.7 Wilde Jugendgruppen
7.8 Edelweißpiraten
7.9 Swing-Jugend
7.10 Weiße Rose
8. Das Ende der Hitlerjugend gemeinsam mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft
9. Abriss der historischen Entwicklung der Freien Deutschen Jugend - im Zeitstrahl
10. Die Staatsparteidoktrin der DDR
10.1 Die Ideologie des Staatssystems
10.2 Die Anthropologie des Marxismus-Leninismus
10.3 Frauen- und Männerbild in Sozialismus
10.4 Bild des Kindes im Marxismus- Leninismus in der DDR
11. Struktureller Aufbau der Freien Deutschen Jugend
11.1 Aufbau und Gliederung
11.2 Die Hierarchie und Struktur der Freien Deutschen Jugend
12. Erziehung in der Freien Deutschen Jugend
12.1 Die Erziehungsziele der DDR und ihre Umsetzung in der Staatsjugendorganisation
12.2 Die FDJ in Schulen, Universitäten und Betrieben
12.3 Jugendbrigaden und Jugendobjekte
12.4 Die FDJ im Freizeitbereich
12.5 Sportbereich
12.6 Feriengestaltung und Touristik
12.7 Die Jugendweihe als Akt ritueller Bindung
12.8 Kultureller Bereich
Kurzer Exkurs zum 11. Plenum des ZK der SED
12.9 Feste und Feierlichkeiten
12.10 Die Funktion der Medien
12.11 Uniformierung und Symbolik
12.12 Militarisierung in der FDJ
12.13 Die Leitung der Jugendgruppen der FDJ durch Funktionäre
12.14 Der Totalitätsanspruch
13. DDR-Jugend auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben
13.1 Einführende Betrachtung
13.2 Der Werwolf
13.3 Der Demokratie Verpflichtete
13.4 Junge Gemeinden
13.5 Jazz
13.6 Rock’n’Roll und Beat
13.7 Die Tramper und Blueser
13.8 Disco und Punk
13.9 Punk et cetera
13.10 Proteste gegen die Niederschlagung des 'Prager Frühlings' 1968
13.11 Boheme & Diktatur
13.12 Von Hausbesetzern zu Landkommunarden
13.13 Die Krishnas als Beispiel religiösen Suchens außerhalb der europäischen Kulturen – und andere Gruppen
13.14 Wehrdienstverweigerer
13.15 Die staatlich unabhängige Friedensbewegung
14. Das Ende der staatlichen Illusionen, der Weg zu einem Anfang
15. Gegenüberstellung der Staatsjugendorganisationen beider Regime
15.1 Die Schwierigkeiten einer Gegenüberstellung
15.2 Die Bedeutung der Staatsjugendorganisation in den jeweiligen Systemen
15.3 Staatsparteidoktrin (Ideologie und Anthropologie)
15.4 Organisationsstruktur
15.5 Erziehungsziele
15.6 Erziehungsarbeit
15.7 Leitung der Jugendorganisationen
15.8 Totalitätsanspruch
15.9 Jugendlicher Widerstand und/oder die Suche nach einem jugendlichen Eigenleben
Nachwort
Quellenverzeichnis
Literatur
Internetquellen
Personenregister
Über die Autorin
Danksagung
Anmerkungen
Vorwort
Gegenstand vorliegender Arbeit ist die vergleichende Darstellung der Erziehungsmodelle in den Staatsjugendorganisationen des 'Dritten Reiches' und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ¹ . Dabei wird dem Aspekt der Vermittlung der jeweiligen Staatsideologie an die heranwachsenden Generationen besonderer Raum zugestanden, bildeten doch die politischen Doktrinen der staatsführenden Parteien die Grundlagen für Erziehungsprogramme und Statuten beider Jugendorganisationen. Eine Erziehung im humanistischen Sinne, mit dem Ziel einer freien individuellen Persönlichkeitsentfaltung eines jeden Menschen, war in beiden Systemen nicht erwünscht. Ohne Rücksicht auf Individualität wurden die Kinder und Jugendlichen durch eine staatlich gelenkte Fremdbestimmung weitgehend zu Objekten ihres eigenen Entwicklungsverlaufs degradiert. Durch diese Indoktrination der Heranwachsenden sollte langfristig der totalitäre Herrschaftsanspruch beider Systeme und ihrer führenden Parteien gesichert werden. Im Folgenden wird darum der Frage nachgegangen, ob es trotz stark differierender Ideologien im Nationalsozialismus und Sozialismus Übereinstimmungen in den Strukturen und Programmen beider Jugendorganisationen gab und ob es einem von beiden Systemen effektiver gelang, ihre Jugend zur Staatskonformität zu erziehen.
Aufgrund der recht umfangreichen Thematik erfolgt in vorliegender Untersuchung eine Eingrenzung auf bestimmte Altersgruppen. Für die Hitlerjugend ² und den Bund Deutscher Mädchen liegt der Schwerpunkt auf den 14 bis 18
-Jährigen
. Da die Mitgliedschaft der FDJ im Allgemeinen erst im Alter von 25 Jahren endete, wird in jenem Bereich die untersuchte Altersgruppe weiter gefasst. Allerdings muss erwähnt werden, dass ohnehin ein Großteil der jungen Erwachsenen bereits früher aus dieser Organisation austrat.
Des Weiteren beschränkt sich die Abhandlung zur HJ und zum BDM im Großteil auf die Zeit zwischen 1933 und 1941, da sich die Praxisarbeit innerhalb der Verbände während des II. Weltkriegs gravierend änderte und eine gesonderte Darstellung benötigte.
Bestimmte Themenbereiche, wie die der oppositionellen Jugendgruppen, die sich in beiden Systemen illegal als Gegenpositionen zur Staatsjugendorganisation formierten und eigene Interessen vertraten, wie auch die Suche vieler Jugendlicher nach einem selbstbestimmten Leben, werden in dieser Arbeit in einem gesonderten Kapitel betrachtet, können jedoch in diesem Rahmen nur angerissen, nicht aber in ihrer ganzen Dimension abgehandelt werden.
Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum Forschungsstand. Sowohl in der älteren, als auch der jüngeren Literatur sind die jeweiligen Jugendorganisationen unter dem Anspruch der Objektivität oft verallgemeinernd und idealisiert dargestellt. Die Wirklichkeit aber, die strukturellen und regionalen Unterschieden unterworfen war, im zeitlichen Wandel starke Veränderungen erfuhr und subjektiv von den einzelnen Betroffenen wahrgenommen wurde, wich in vielerlei Hinsicht davon ab. Es werden darum in einzelnen Fällen Berichte von Zeitzeugen und Auszüge aus Interviews eingeflochten, um die Vielschichtigkeit der Thematik andeuten zu können.
Das vorliegende Buch entstand auf der Grundlage der im Jahr 2011 gefertigten Diplomarbeit „'Jugend für den Staat erzogen' - Erziehung in den Staatsjugendorganisationen des 'Dritten Reiches' und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Hinblick auf die Umsetzung der jeweiligen Staatsparteidoktrin" an der Universität zu Köln, unter der Betreuung von Prof. Dr. Hans-Joachim Roth.
Abkürzungsverzeichnis
1. Herausbildung der Jugendverbände vor 1933
1.1 Jugendverbände im Kaiserreich
Die historische Entwicklung der Jugendverbände und Jugendbewegung reicht weit in die Geschichte des 19. Jahrhunderts zurück und damit in eine Zeit, als auf Grund veränderter Arbeits- und Lebensbedingungen erstmals überhaupt die Lebensphasen von 'Kindheit' und 'Jugend' ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt waren. 1839 wurde per Gesetz in Preußen die Arbeitszeit für Jugendliche unter 16 Jahren auf 10 Stunden begrenzt, Kinderarbeit unter 9 Jahren gänzlich verboten. Damit erhielten Kinder und Jugendliche erstmals einen gewissen Freiraum, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur verstärkten pädagogischen Wahrnehmung dieser entscheidenden Lebensphase führte und „[…] entsprechende Institutionalisierungsformen nach sich zog." ³
Neben der amtlichen 'Jugendpflege', deren Anliegen darin bestand, die Jugend zu „einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten" ⁴ Generation zu erziehen, entwickelten sich in kurzer Zeit im Wilhelminischen Kaiserreich eine Vielzahl an Jugendverbänden, die sich in drei Bereiche unterscheiden lassen: christlich geprägte Vereinigungen, bürgerlich-nationale Jugendgruppen und Arbeiterjugendvereine. ⁵ Daneben entwickelte sich als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung des beginnenden 20. Jahrhunderts, die einherging mit einer rasanten Verstädterung und „Modernisierung des Lebens" ⁶ , eine eigenständige Jugendbewegung. Besonders in bürgerlichen Kreisen lehnten sich die Jugendlichen vermehrt gegen Gehorsam und Drill und somit gegen verkrusteten autoritäre Strukturen in Elternhaus und Schule auf und nutzen die Chancen der Umbruchszeit für das Aufbrechen überkommener Erziehungsmethoden. Studenten und Gymnasiasten fanden in Gruppen zusammen und wanderten gemeinsam an den Wochenenden in die Natur hinaus. Das romantisierende Naturerlebnis, die Rückkehr zum einfachen, asketischen Leben unterwegs auf dem Lande, orientiert an den Wanderungen zunftständiger Handwerksburschen, stand dabei bewusst einer zunehmenden Einbindung des Menschen in das Räderwerk einer die Umwelt dominierenden Industrialisierung entgegen.
Aus dieser anfänglich sporadischen Wanderbewegung gründete sich 1901 in Berlin – Steglitz der erste Wandervogelverein, der sich vor dem ersten Weltkrieg in ganz Deutschland ausbreitete und in viele verschiedene Gruppierungen aufsplitterte. ⁷ Ab 1907 etablierten sich neben dem Wandervogel weitere, meist studentische Gruppierungen wie die Studentischen Akademischen Freischaren und die Akademische Freideutsche Jugend. ⁸
Ein Novum dieser studentischen Jugendbewegungen war ihr struktureller Aufbau aus eigenen Reihen. Die einzelnen Gruppierungen kamen meistens ohne erwachsene Leitungspersonen aus und blieben weitgehend unpolitisch. Auf dem 'Ersten Freideutschen Jugendtag' – einem Treffen verschiedener Bünde am Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913 - wollten die verschiedenen Gruppierungen eine gemeinsame „Plattform und organisatorische Formen der Zusammenarbeit" ⁹ schaffen. Doch diese Pläne gelangten durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges nicht mehr zur Umsetzung.
Unter den offiziellen Verbänden stellten in der Vorkriegszeit die christlichen Vereinigungen, schon auf Grund ihrer hohen Mitgliederzahlen, die gewichtigsten Bündnisse dar. 1912 existierten „katholische Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Burschenvereine und Jungfrauen-Kongregationen" ¹⁰ , daneben Evangelische Jünglingsvereine sowie Christliche Vereine junger Männer. In den folgenden Jahren entstanden auch christliche Vereinigungen, die unabhängiger von kirchlichen Institutionen arbeiteten als die erwähnten.
Im bürgerlich-nationalen Spektrum lag ein deutlicher Schwerpunkt auf der körperlichen Ertüchtigung der jungen, wehrfähigen männlichen Jugend, so dass sich hier zahlreiche wehrsportliche Gruppierungen zusammenfanden, die ab 1899 durch den „Ausschuss zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung" ¹¹ vertreten wurden. Zu den vom „wilhelminischen Militarismus" ¹² geprägten Verbänden gehörten die Deutsche Turnerschaft, die Berliner Jugendwehr und das Deutsche Späherkorps. Auch die in Deutschland nach Baden Powells Vorbild 1911 gegründeten Pfadfinderbünde wurden oft von Offizieren geleitet.
Neben diesen wehrsportlichen Gruppierungen zählten aber auch autonome, sogenannte 'wilde' Jugendvereine zu den bürgerlichen Jugendgruppen, ebenso Vereine mit nationaler und patriotischer oder sozialer Gesinnung, wie beispielsweise der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der Deutsche Verband der Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit. ¹³
Ab 1903 etablierten sich in Deutschland erstmals Arbeiterjugendvereine. 1906 gründete sich der Verband junger Arbeiter Deutschlands. ¹⁴ Weitere proletarische Jugendvereine entstanden mit dem Vorsatz des „Arbeitsschutz[es] und [der] Weiterbildung" ¹⁵ ihrer Mitglieder. Anfangs distanziert, begannen die Sozialdemokraten um 1908 ihr Interesse an den proletarischen Jugendorganisationen zu bekunden, die sich infolge dessen größtenteils auflösten und mit den Parteien kooperierten. Während die bürgerlichen Jugendorganisationen vom Staat finanziell unterstützt wurden, erhielten die proletarischen Vereine keine diesbezüglichen Subventionen.
1.2 Jugendverbände in der Weimarer Republik
In der Weimarer Republik hielt der Jugendmythos Einzug in die Gesellschaft. Durch ihren neuen sozialen Status nach dem Krieg erhielt die junge Generation die „rechtlichen und materiellen Möglichkeiten, ihre Interessen und Bedürfnisse öffentlich zu definieren und Organisationsformen dafür zu suchen" ¹⁶ . Der Jugendpflege-Erlass des Jahres 1919 anerkannte alle Jugendverbände gleichwertig und rief sie zur Zusammenarbeit auf. ¹⁷ „Niemals zuvor (und auch später nie wieder, wenn man von der Zwangsmitgliedschaft der Hitler-Jugend absieht) konnten Jugendverbände einen so hohen Organisationsgrad der Jugendlichen verbuchen wie in der Weimarer Zeit: Fast die Hälfte aller Jugendlichen (ca. 40 %) waren Mitglieder einer Jugendorganisation." ¹⁸
Zeitgleich prägte aber gerade in jenen Jahren zunehmend eine große Unsicherheit und Aussichtslosigkeit die heranwachsende Generation, was auf eine rapide Zunahme der Arbeitslosigkeit zurückzuführen war. ¹⁹
Infolge der politischen Polarisierung dieser Zeit zerbrach um 1923 der Freideutsche Bund. Er hatte sich vor dem ersten Weltkrieg gegründet und bestand aus ehemaligen Mitgliedern der Wandervogelbewegung und anderer Jugendbünde. ²⁰ Auch der Wandervogel hatte in seiner ursprünglichen Form keinen weiteren Bestand. Es etablierten sich in der Folgezeit vermehrt bündische Jugendgruppen, die sich an bestimmten völkischen Werten und Normen orientierten. Wie schon zu Beginn der Jugendbewegung waren ihre Mitglieder größtenteils Gymnasiasten und Studenten. Die Mitgliederzahlen schwankten zwischen 12 bis 60.000 Jugendlichen. ²¹ Bünde, die schon vor dem ersten Weltkrieg bestanden, hatten meistens jugendliche Führer oder kamen ohne Führungsposition aus. Die in der Weimarer Republik neu etablierten Bünde standen hingegen oftmals unter der Führung ehemaliger Wandervogelmitglieder, wodurch sich schnell ein Führer-Gefolgschafts-Gefälle ergab. Viele hatten eine antidemokratische Grundhaltung, basierend auf dem Wunsch nach einer „ständig organisierten Volksgemeinschaft ²² . Auch eine als rechtsradikal zuzuordnende Einstellung war bei vielen der Bünde zu finden, so bei den 1924 gegründeten Artamanen, „[…] eine Bewegung junger Männer und Frauen, die sich entschlossen, eine vaterländische Pflicht zu erfüllen […] nach den Grundsätzen von 'Blut und Boden'.
²³ Ihnen war später das Interesse der Nationalsozialisten sicher.
Neben den vielen bestehenden Jugendverbänden, die bereits seit dem Kaiserreich existierten, entstanden in der Weimarer Republik erstmals auch innerhalb der Parteien Jugendgruppen. Dabei ging es vorrangig um eine Rekrutierung des Nachwuchses, zugleich aber auch um den frühestmöglichen Aufbau einer festen Wählerschaft. Zu den neu gegründeten Gruppierungen zählten unter anderem „die Hindenburgjugend der BVP […], Bismarckbund der DNVP […], kommunistischer Jugendverband […], Hitlerjugend […], Windhorstbünde des Zentrums […]" ²⁴ sowie die Jungsozialisten. Gerade gegen Ende der Weimarer Republik kam es zu einer „massenhaften Politisierung" ²⁵ der Jugend, mit einer starken Polarisierung nach 'rechts' oder 'links'. Viele der Jugendvereine der Weimarer Republik befanden sich im 'Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände', der 1926 ins Leben gerufen wurde.
Die Etablierung einer neuen nationalistisch geprägten Ideologie im 'Dritten Reich', gekoppelt an totalitäre staatliche Strukturen, bereitete der pluralistischen Entwicklung der Jugendverbände ein abruptes Ende. Das Menschenbild der Nationalsozialisten samt deren Bildungsideologie und ihr absoluter Herrschaftsanspruch ließen sich nicht mit den vielfältigen Anschauungen innerhalb der Jugendbewegung vereinbaren. Fortan wurde Konformität propagiert und die bloße Erfüllung ideologischer Vorgaben eingefordert.
2. Abriss über die historische Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend - im Zeitstrahl
1922/1923
Ein erster Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend wird 1922 in München unter dem Namen Jugendbund der NSDAP ins Leben gerufen. Bereits im folgenden Jahr steigt die Zahl der Ortsgruppen stark an, sodass Adolf Hitler (1889 - 1945), Adolf Lenk (1903 - 1987) mit dem Aufbau einer Reichsorganisation beauftragt. ²⁶ Der missglückte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 08./09. November des Jahres 1923 und die nachfolgende Auflösung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) beenden zunächst diesen Prozess. Der Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend kommt in seiner Entwicklung nicht über das Anfangsstadium hinaus. ²⁷
1925
Nach der erneuten Gründung der NSDAP, infolge der Entlassung Hitlers aus der Festungshaft am 27. Februar, formieren sich die Jugendgruppen neu. Die Initiative dazu geht von einzelnen Parteimitgliedern wie Kurt Gruber (1904 - 1943) aus. Gruber führte nach dem Verbot eine kleine Ortsgruppe des Jugendbunds illegal in Plauen/Vogtland weiter, ²⁸ Gerhard Roßbach (1893 - 1967) leitet den Wehrjugendverband Schill. Es folgen interne Machtkämpfe.
1926
Gruber setzt sich durch und vereinigt einige Gruppen zur Großdeutschen Jugendbewegung. ²⁹ Auf dem Parteitag der NSDAP im Juni in Weimar erfolgt deren offizielle Anerkennung als Jugendgruppe der NSDAP und die offizielle Umbenennung in Hitlerjugend, Bund deutscher Arbeiterjugend (HJ). Das parteiamtliche Gründungsdatum wird auf den 04. Juli festgelegt. Gruber wird zum Reichsführer der Organisation ernannt und als Referent für Jugendfragen in die Reichsleitung der Partei berufen. ³⁰
Offiziell wird die HJ der obersten
SA-Führung
unterstellt. Die Mitgliedschaft der männlichen Jugend in der HJ erstreckt sich vom 14. - 18. Lebensjahr. Der daran anschließende Übertritt in die NSDAP, ab 1927 in die SA, wird obligatorisch.
Die Mitgliederzahl der HJ bleibt in diesem wie auch in den kommenden Jahren noch relativ gering gegenüber den ca. 3,6 Millionen Jugendlichen in den politischen, religiösen, bündischen und anderen, im Reichsauschuss der deutschen Jugendverbände zusammengefassten Jugendgruppen. ³¹
1927
Beginn des innerorganisatorischen Aufbaus der HJ, Gründung erster Schülergruppen der NSDAP.
1928/1929
Neben bereits existierenden Jungmädelgruppen des Deutschen Frauenordens entstehen erste Schwesternschaften der HJ als Organisationsform für Mädchen. ³²
1929
Zusammenfassung der Schülergruppen zum
NS-Schülerbund
unter der Reichsleitung von Theodor Adrian von Renteln (1897 - 1946). ³³ 4. Reichsparteitag vom 01. - 04. August 1929 in Nürnberg. Vorbeimarsch zahlreicher Hitlerjungen an Adolf Hitler.
1930
Im Juni 1930 gründet sich der Bund Deutscher Mädchen (BDM), gefolgt vom Deutschen Jungvolk (JV) im August.
1931
Im März wird das Jungvolk als Unterorganisation in die Gesamt-HJ eingegliedert. ³⁴
Kurt Gruber tritt, wohl gezwungenermaßen, von seinem Posten als Reichsführer der Gesamt-HJ zurück. Er wird in den Jugendausschuss der Reichsleitung der NSDAP berufen. Für kurze Zeit übernimmt Theodor Adrian von Renteln die Position des Reichsführers der Gesamt-HJ. ³⁵
Am 30. Oktober wird Baldur von Schirach (1907 - 1974) auf den neu geschaffenen Posten des Reichsjugendführers der NDSAP berufen. ³⁶ In seinen Zuständigkeitsbereich fallen fortan die Gesamt-Hitlerjugend, der
NS-Schülerbund
sowie der
NS-Studentenbund
.
Der Sitz der Gesamt-HJ wird von Plauen nach München verlegt. ³⁷ Neue Richtlinien unterstellen den BDM auf der Ebene der Gaugliederung der HJ, gewähren jedoch auf den Gliederungsebenen der Bezirks- und Ortsgruppen relative Selbstständigkeit. ³⁸
1932
Elisabeth Greiff-Walden wird am 15. März 1932 Referentin für Mädelfragen in der Reichsleitung der HJ. ³⁹
Verbot der SA, SS und der Gesamt-Hitlerjugend am 13. April. Trotzdem arbeiten alle Organisationsformen illegal weiter und es entsteht die „Nationalsozialistische Jugendbewegung, die NAJB. Ohne Uniform, ohne Abzeichen" ⁴⁰ .
Laut Schirach steigt in der Verbotszeit die Mitgliederzahl auf 35.000 an. Mit Aufhebung des Verbotes der SA im Juni 1932 wird Baldur von Schirach durch Hitler zum Reichsleiter der NSDAP ernannt und erhält nach dem Rücktritt von Rentelns die Gesamtleitung der
NS-Jugendarbeit
übertragen. ⁴¹ Im Juli wird der BDM zur offiziellen Mädchenorganisation der NSDAP erklärt, infolge dessen deren andere Mädchenorganisationen aufgelöst oder vom BDM übernommen werden. Referentin für Mädelfragen in der
NS-Jugendbewegung
in München wird Lydia Gottschewski (1906 - 1989). ⁴² Es kommt zur Gründung von
NS-Jugendbetriebszellen
unter der Leitung von Artur Axmann (1913 - 1996).
Das Jahr prägen intensive Zentralisierungsarbeiten und politische Propagandaaktionen der Gesamt-HJ. Es gibt „zahllose Kundgebungen, Märsche, […] Straßendemonstrationen, Versammlungskampagnen usw." ⁴³
1933
Als Adolf Hitler am 30. Januar zum Reichskanzler ernannt wird und die NSDAP die Macht übernimmt, hat die Gesamt-Hitlerjugend ca. eine Million Mitglieder.
Am 28. Februar erlässt Paul von Hindenburg (1847 - 1934) die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Damit ist u. a. die juristische Grundlage für eine zentralisierte Gleichschaltung sowie Auflösung aller politischen, kirchlichen und bündischen Jugendorganisationen gelegt. ⁴⁴ Die Gesamt-Hitlerjugend ist zu jenem Zeitpunkt noch nicht die größte und einflussreichste Jugendorganisation, gewinnt aber durch die neuen innerstaatlichen Machtstrukturen an enormen Einfluss. ⁴⁵ „Wie die NSDAP nunmehr die einzige Partei ist, so muß die HJ die einzige Jugendorganisation sein." ⁴⁶ Im April des Jahres 1933 okkupiert Schirach die Geschäftsstelle des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände ⁴⁷ und übernimmt deren Vorsitz. Kurz nach der Übernahme beginnt er, die jüdischen und die parteigebundenen Jugendorganisationen aus dem Verband auszuschließen bzw. wie im Falle der rechtsorientierten Jugendorganisationen in die Gesamt-Hitlerjugend zu integrieren. Die
NS-Jugendbetriebszellen
und der Reichsverband der deutschen Jugendherbergen werden der HJ eingegliedert. ⁴⁸
Am 8. April Zusammenschluss der bündischen Jugendorganisationen zum Großdeutschen Jugendbund, zwecks Abwehr der zunehmenden Macht der Gesamt-HJ. Nach der Ernennung Schirachs am 17. Juni zum Jugendführer des Deutschen Reiches, beginnt er sofort mit der Zerschlagung des Großdeutschen Jugendbunds. Viele der Bünde lösen sich in den folgenden Tagen und Wochen selbst auf, integrieren sich in die Gesamt-HJ oder werden durch die Gesamt-HJ verboten. ⁴⁹
Die Eingliederungskampagne in die HJ betrifft auch die konfessionellen Jugendgruppen. Trotz des Reichskonkordats vom 20. Juli mit dem Vatikan, das den katholischen Verbänden eine eingeschränkte Jugendarbeit zugesteht, wird noch im gleichen Monat die parallele Mitgliedschaft in der Gesamt-HJ und in einer kirchlichen Jugendorganisation verboten. ⁵⁰
Die evangelischen Jugendorganisationen werden durch ein Abkommen zwischen Schirach und dem Reichsbischof Ludwig Müller (1883 - 1945) Ende 1933 in die Gesamt-HJ eingegliedert.
Es folgt die Ausgliederung von HJ und BDM aus dem Verantwortungsbereich der SA.
Die gesamte Jugendorganisation wird Mitte des Jahres, veranlasst auch durch die vielen neuen Mitglieder, neu strukturiert. Ab jetzt sind innerhalb der Gesamt-Hitlerjugend die 10- bis
14-jährigen
Jungen dem Deutschen Jungvolk, die 14- bis
18-jährigen
Jungen der Hitlerjugend, die 10- bis
14-jährigen
Mädchen dem Jungmädelbund (JM) und die 14- bis
18-jährigen
Mädchen dem Bund deutscher Mädel zugeordnet. ⁵¹
Der BDM wird in seiner Arbeit unabhängiger, richtet sich nicht mehr alleinig an den Bedürfnissen der HJ aus. Er wird nun als „Kampf-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft" ⁵² beschrieben, die ihren Beitrag innerhalb der Gesellschaft zu leisten hat.
Im Sommer übernimmt Lydia Gottschewski als Bundesführerin die Leitung des BDM. Durch das Verbot der anderen Organisationen steigen die Mitgliedszahlen deutlich an.
1934 ('Jahr der Schulung und inneren Ausrichtung' ⁵³ )
Am 15. Juni Ernennung der Gauverbandsführerin Trude Mohr (Bürkner) (1902 - 1989) zur Reichsreferentin des BDM. ⁵⁴ Sie untersteht direkt der Reichsjugendführung (RJF).
Im selben Monat wird der Sonnabend als 'Staatsjugendtag' ausgerufen. Er ist ausschließlich dem HJ- und
BDM-Dienst
vorbehalten und stellt die Mitglieder der Jugendorganisation von der Schule frei.
Im Juli beginnt der
HJ-Streifendienst
seine Arbeit. Er übernimmt Polizeiaufgaben innerhalb der HJ und versucht oppositionelle Jugendgruppen auszumachen. ⁵⁵
Durch die Übernahme der 'Artamanen' wird auch der landwirtschaftliche Bereich in die Gesamt-HJ integriert und es entsteht der 'Landdienst'. Einführung eines 'Hauswirtschaftlichen Jahres' für
BDM-Mädchen
als Beitrag zum Aufbau des 'Dritten Reiches'. ⁵⁶
Artur Axmann ruft den Reichsberufswettkampf ins Leben, der zu einer bestehenden, faktisch verpflichtenden Instanz für Jungen und Mädchen wird. ⁵⁷ Die letzte bedeutende Maßnahme der HJ im Jahr 1934 ist ihre Abkopplung und Distanzierung von der SA, der sie laut Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 noch immer unterstellt ist. Fortan werden die
18-jährigen
Jungen nach ihrer Entlassung aus der HJ nicht mehr in die SA, sondern direkt in die NSDAP übernommen. ⁵⁸
1935 ('Jahr der Ertüchtigung')
Der Reichssportwettkampf findet zum ersten Mal statt. Seine Teilnehmerzahl steigt in den kommenden Jahren stark an.
Wiedereinführung der allgemeine Wehrpflicht und der Arbeitsdienstpflicht im Juni. Die vormilitärische Ausbildung in der HJ rückt in den Vordergrund. ⁵⁹ Es entstehen verschiedene Sondereinheiten der Hitlerjugend, wie beispielsweise die Marine-HJ, die Motor-HJ, die Fliegereinheiten und die Nachrichten-HJ.
1936 ('Jahr des deutschen Jungvolkes')
Ab diesem Jahr erfolgt die Aufnahme der Jungen und Mädchen in das Jungvolk und den Jungmädelbund mit wenigen Ausnahmen in geschlossenen Jahrgängen jeweils zum 20. April eines Jahres, dem Datum des Führergeburtstages. ⁶⁰
Im April Vereidigung von 190.000 Führern und Führerinnen der HJ und des BDM.
Abb. 1: Das Gesetz über die Hitlerjugend
Es folgt eine Neugliederung der Gesamt-HJ „nach Jahrgängen und Wohnbezirken" ⁶¹ . Zu dieser Zeit waren bereits sechs Millionen Jungen und Mädchen Mitglied der Hitlerjugend. ⁶²
Baldur von Schirach wird zum Staatssekretär berufen.
Ende des Jahres erlässt Adolf Hitler das Gesetz über die Hitler-Jugend. Die darin enthaltene 1. und 2. Durchführungsverordnung schreibt die Mitgliedschaft alle Kinder und Jugendlichen in der Gesamt-Hitlerjugend als Dienstpflicht fest. Mit diesem Gesetz endet die Entwicklung der Gesamt-Hitlerjugend, die „von einer 'Kampfjugend' über die 'Volksjugend' zu einer 'Staatsjugend' geworden war." ⁶³
1937 ('Jahr der Heimbeschaffung')
Das Jahr 1937 ist gekennzeichnet durch den Aufbau von HJ- und
BDM-Heimen
und Adolf-Hitler-Schulen, die als Vorschulen der
NS-Ordensburgen
dienen. Der Aufbau der Reichsführerschule in Potsdam und der Akademie der Jugendführung dienen dazu, die Ausbildung und Karriere zukünftiger Führer und Vorsitzenden der Hitlerjugend zu verbessern. ⁶⁴
In diesem und im folgenden Jahr werden die letzten, oft illegal bestehenden Jugendverbände ausgeschaltet.
Dr. Jutta Rüdiger (1910 - 2001) übernimmt im November das Amt von Trude Mohr. Sie trägt fortan die Bezeichnung Reichsreferentin für den BDM beim Reichsjugendführer. ⁶⁵
Verstärkte hauswirtschaftliche und kulturelle Tätigkeiten sollen den Vermännlichungstendenzen im BDM entgegenwirken.
1938 ('Jahr der Verständigung')