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Und weil die Stunde kommt
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Und weil die Stunde kommt

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About this ebook

In einem geheimen Camp, im unzugänglichen Norden Pakistans, trifft der deutsche Journalist Paul, der in muslimischen Kreisen unter dem Namen »Safiy al Din« bekannt ist, auf den zwölfjährigen Jungen Haydar. Der wird vermeintlich zu einem Mudschahidin, in Wirklichkeit aber zu einem Söldner ausgebildet. Zaim, Chef des Camps, fand Haydar als dreijährigen Jungen, nachdem dessen Familie von sowjetischen Soldaten im Afghanistankrieg ausgelöscht wurden war. Paul erhält Zaims Erlaubnis, mehr über den Jungen erfahren zu dürfen. Zu diesem Zweck bleibt der Deutsche im Camp und nimmt an der Ausbildung teil, bis er in die Kreise jener eindringt, die von der westlichen Welt als »Al-Qaida« bezeichnet werden und selbst in höchste Gefahr gerät. Haydar rettet Pauls Leben, beiden flüchten aus dem Lager.Autor Tino Hemmann beweist mit diesem Buch einmal mehr, dass die pauschale Verurteilung anders Denkender falsch ist. Er versetzt den Leser in die islamische Menschenwelt, berichtet ohne Tabu von Kriegen, die nicht nur die Menschen dieser arabischen Welt bedrohen.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 1, 2013
ISBN9783867039635
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    Und weil die Stunde kommt - Tino Hemmann

    (Mittelwert)

    Zwei Prologe

    Und weil die Stunde kommt – daran ist kein Zweifel – und weil Allah alle erwecken wird, die in den Gräbern sind.

    Und unter den Menschen ist manch einer, der über Allah streitet ohne Wissen oder Führung oder ein erleuchtendes Buch, sich hochmütig abwendend, dass er wegführe von Allahs Pfad. Ihm ist Schande bestimmt hienieden; und am Tage der Auferstehung werden Wir ihn die Strafe des Verbrennens kosten lassen:

    „Das geschieht um dessentwillen, was deine Hände vorausgeschickt haben; denn Allah ist nicht ungerecht gegen die Diener." ¹


    ¹ Koran, Sure 22, Verse 7 bis 10

    Ein Zeitungsartikel dieser Tage

    Bomben-Attentat

    auf Lufthansa-Maschine vereitelt!

    Berlin/Delhi/Islamabad (eig.) Das Szenario: Über der Münchener Metropole explodiert ein Flugzeug der Lufthansa-Flotte. Die Boeing 737 befindet sich gerade im Landeanflug am Terminal 2 „Franz Josef Strauß". Es ist 13.50 Uhr. Brennende Wrackteile stürzen auf dicht bewohnte Gebiete.

    Zum Glück kommt alles ganz anders: Die Lufthansa-Maschine, die 9:15 Uhr Ortszeit vom internationalen Airport Indira Gandhi in Neu Delhi starten soll, hat ohnehin bereits Verspätung. Gegen 9 Uhr meldet ein unbekannter Anrufer den indischen Behörden, dass auf ein deutsches Flugzeug ein Attentat geplant ist. Die indischen Flughafenbehörden stoppen die Abfertigung aller Maschinen und beginnen die Suche nach brisanten Gepäckstücken. Auch die Boeing 737, die für den Flug LH763 vorgesehen war, wird evakuiert und akribisch durchsucht. Unter einem Sitz in der ersten Reihe findet man die außergewöhnliche Bombe. Genaue Angaben zu deren Beschaffenheit wurden von den indischen Behörden nicht gemacht. Ein Sprecher äußerte sich, dass diese Bombe „scharf und mit einem Zeitzünder versehen" war. Die Auswirkungen wären katastrophal gewesen.

    Noch hat sich niemand zu diesem Anschlag auf die zivile Luftfahrt bekannt. Spuren fand man bisher nicht, niemand hatte beobachtet, wer die Bombe an Bord gebracht haben könnte. Dem Flughafenpersonal ist es ein Rätsel, wie die Bombe durch die Handgepäckkontrolle gelangen konnte.

    An Bord der Maschine befanden sich 132 Passagiere und 6 Besatzungsmitglieder. Unter den Passagieren waren 24 Deutsche und drei Kinder. Die betroffenen Reisegäste wurden zwischenzeitlich mit einem anderen Flugzeug nach Deutschland gebracht.

    In Berlin traf am gleichen Nachmittag eine Expertenkommission zusammen. In einem ersten Statement versicherte der Regierungssprecher, dass es sich bei diesem Anschlag eindeutig um die Handschrift der El Kaida handle. Einen Zusammenhang mit dem Einsatz deutscher Marine-Schiffe vor dem Libanon und der Verlängerung des Isaf-Mandats in Afghanistan sehe er nicht.

    In einer Depesche aus dem Weißen Haus in Washington erklärte US-Präsident George W. Bush: „Der internationale Terrorismus hat wieder einmal bewiesen, dass die demokratische Welt in großer Gefahr ist. Auf feigste Art und Weise wollte man Deutschland mitten ins Herz treffen. Wir sollten nicht zögern, die Terroristen der El Kaida und ihren Anführer Bin Laden unschädlich zu machen. Koste es, was es wolle!"

    Der pakistanische Geheimdienst vermeldete am gleichen Tag, dass es gelungen sei, ein Camp der El Kaida im unzugänglichen Norden Pakistans auszulöschen: „Wir haben eine Zelle der El Kaida beseitigt und erhoffen uns durch die Festnahme einiger Terroristen neue Hinweise über den derzeitigen Aufenthaltsort Bin Ladens", erklärte ein Sprecher der pakistanischen Regierung. Nach pakistanischen Angaben kamen bei der Aktion 64 Terroristen und 7 pakistanische Soldaten ums Leben.

    In Deutschland wurden die Kontrollen auf den Flughäfen verschärft.

    „Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dürfen wir nicht den Kopf verlieren", äußerte sich eine von diesem neuerlichen Zwischenfall sichtlich betroffene Bundeskanzlerin am frühen Abend.

    ...

    Die Hand

    „Sag deinen Namen."

    „Meinen Namen?"

    „Ja. Sag mir deinen Namen."

    „Ich habe keinen Namen."

    „Du hast keinen Namen? Jeder Mensch hat einen Namen. Wie nennt man dich?"

    „Ich bin kein Mensch. Ich habe keinen Namen. Als Mensch wurde ich geboren, vielleicht gab man mir einen Namen. Ich habe ihn vergessen."

    „Vergessen? Man vergisst den eigenen Namen nicht. Was ist passiert, dass du deinen Namen angeblich vergessen konntest?"

    „Es ist passiert, und ich habe ihn vergessen. Warum fragst du? – Ich musste meinen Namen vergessen. Mein Vater gab mir einen Namen. Nur er hat das Recht, mich so zu nennen. Und nun habe ich meinen Namen vergessen. Ich bin kein Kind mehr. Früher war ich ein Kind. Dann ist es geschehen, und ich habe meinen Namen vergessen."

    „Was ist mit deiner Familie geschehen? Wie wirst du gerufen? Wenn jemand etwas von dir will, wie nennt er dich? Wie sagt man zu dir?"

    „Man sagt zu mir Haydar."

    „Haydar? Dann hast du also doch einen Namen. Haydar ist dein Name. Du hast ihn nicht vergessen."

    „Haydar ist nicht mein Name. Haydar ist die Bezeichnung eines Tieres."

    „Ein Tier? Welches Tier lieh dir seinen Namen, mein Freund?"

    „Der Löwe lieh mir seinen Namen."

    „Der Löwe? Du siehst nicht aus wie ein Löwe, Haydar. Nein, du siehst nicht wirklich so aus." Der Journalist lächelt.

    „Es ist aber so, protestiert der Junge. „Ein Löwe gab mir seinen Namen. Man nennt mich Haydar.

    „Du denkst also, du bist kein Mensch? Bist du es nicht wert, ein Mensch zu sein?"

    „Nein. – Ich war ein Mensch. Früher war ich ein kleines Kind. Dann erst wurde ich Haydar."

    „Was ist geschehen, dass du kein Mensch mehr sein solltest?"

    „Es ist geschehen."

    „Was, mein Junge? Was ist geschehen mit dir, dass du kein Mensch mehr sein solltest?"

    Haydar erhebt sich vom Stuhl. Seine dunklen Augen weichen dem Journalisten aus. Er will schreien, doch hält er inne. Die Hand des Journalisten liegt auf seiner Schulter.

    „Setz dich, bitte setz dich, Haydar. Bitte setz dich. Ich wollte dir nicht wehtun."

    Der Junge nimmt zögernd Platz. Er starrt auf den Lehmboden. Die Hände zittern.

    „Du siehst nicht aus wie ein Löwe, Haydar. Ein Löwe ist kräftig. Ein Löwe brüllt, um seine Feinde zu beeindrucken. Ein Löwe hat eine kräftige Mähne und große Zähne. Du dagegen bist klein und mager, nie habe ich dich brüllen hören!"

    Haydar blickt auf. „Nicht ich habe mich Haydar genannt! Ich habe keinen darum gebeten, mich Haydar zu nennen. Ich wäre auch glücklich, wenn ich keinen Namen besäße."

    „Glücklich? Der Journalist lacht gekünstelt. „Was weißt du über das Glück? Hat es dich je in diesem Lager gefunden? Seit vier Wochen begleite ich Zaim. Ich sah dich nie lachen. – Du willst nicht darüber reden. Du musst nicht darüber reden. Nein, Haydar, wirklich nicht. Obwohl es mich interessieren würde. Es würde mich sehr interessieren. – Sag mir bitte, wie alt bist du, Haydar?

    „Ich kenne keine Zahlen."

    „An wie viele Winter erinnerst du dich?"

    Haydar zögert. „Wahrscheinlich bin ich vierzehn oder fünfzehn, sagt er. „Ich kann mich nur an einen einzigen Winter erinnern, fügt er kurz darauf hinzu.

    „Nur an einen Winter? – Du kennst ja doch die Zahlen."

    „Ja, ich kenne die Zahlen."

    „Was war in jenem Winter, dass du dich nur an diesen einen erinnern kannst?"

    Haydar schweigt zunächst.

    „‘Du musst nicht darüber reden, Haydar.’ – Das hast du gesagt!", sagt er schließlich.

    „Entschuldige, entschuldige, mein Junge, ich wusste nicht, dass es in jenem Winter passierte. Nein, du musst nicht darüber reden. Obwohl es mich wirklich interessieren würde."

    Eine kurze Pause entsteht.

    „Hast du Freunde, Haydar? Du bist ein Kind. Du musst Freunde haben. Hast du Freunde? Hier im Lager oder draußen, hast du Freunde?"

    „Ein Löwe hat keine Freunde. Du weißt das."

    „Nicht einen einzigen Freund? Vielleicht hast du eine Freundin? Auch Löwen haben Frauen. Sonst würde es wahrscheinlich keine Löwenkinder geben."

    „Ich bin kein Mensch, ich bin kein Kind. Es ist geschehen. Es gibt keine Freunde. – Du hörst mir nicht zu. Nie hörst du mir zu!"

    „Darum also nennt man dich Haydar? Weil du ein Einzelgänger bist? Noch dazu einer, der sich im Selbstmitleid gefällt. Ja, du bist ein kleines stures Kind, das sich im Selbstmitleid gefällt. Der Journalist greift nach der rechten Hand des Jungen. Er streicht mit seinem Daumen sanft über Haydars Handrücken. „Sieh her, Haydar. Dies ist die Hand eines Kindes. Sie ist verletzlich und klein. Keineswegs ist das die Pranke eines Löwen. Es ist deine Hand. Du bist ein Kind. Verstehst du mich? Du bist noch ein Kind. – Wann hast du zuletzt gespielt? Wann hast du zuletzt mit anderen Kindern gespielt?

    „Ich bin kein Kind! Haydars Stimme überschlägt sich. „Ich spiele nicht. Ich habe aufgehört zu spielen. Es gibt keinen Grund, dass ich spielen sollte.

    Der Journalist hält noch immer die Hand des Jungen und drückt sie. Dann ergreift er derb das Handgelenk und hebt die Hand vor dessen Augen. „Haydar! Ist das deine Hand?, fragt er laut, sehr laut. „Beantworte meine Frage! Ist das deine Hand? – Ist diese Hand Haydars Hand?

    Haydar nickt zögernd.

    „Gut. Es ist also deine Hand. Es ist Haydars Hand. – Sieht diese Hand wie die Pranke eines gefährlichen Löwen aus?"

    „Nein."

    „Wie sieht die Hand aus?"

    „Die Hand sieht wie eine Hand aus."

    „Ich stimme dir zu, Haydar. Die Hand sieht wie eine Hand aus. – Sieht die Hand grob und groß wie die Hand eines Mannes aus?"

    „Nein."

    „Diese Hand, die nicht die Pranke eines Löwen ist, die deine Hand ist, diese Hand ist die Hand eines Kindes. – Stimmst du mir zu?"

    Haydar blickt dem Journalisten unentwegt in die Augen.

    „Ja. Der Junge schluckt. „Sieht die Pfote eines Löwenkindes wie die Pranke eines großen Löwen aus?, fragt er.

    „Eine Kinderhand bleibt eine Kinderhand! Auch wenn sie eine Waffe so schnell montieren kann, wie es die Hand eines erwachsenen Mannes tut. Und wenn diese Hand deine Hand ist und diese Hand wie die Hand eines Kindes aussieht, dann bist du ein Kind! Auch ein Löwenkind ist ein Kind! Du bist ein Kind, Haydar! Denn die Hand gehört zu dir. Sie ist ein Teil von dir. So, wie die andere Hand ein Teil von dir ist, wie dein Kopf, deine Beine, deine Arme, dein Herz, deine Lunge zu dir gehören. Du bist ein Kind. Du bist ein Junge, der nicht erwachsen ist. – Jedes Kind hat das Recht zu spielen. Wann hast du zuletzt gespielt? Wann war es, Haydar? Wann hast du zuletzt gespielt wie ein Kind?"

    Der Junge zieht die Hand zurück. Er schweigt. Er schweigt lange.

    Der Journalist betrachtet die Tränen in Haydars Augen, trinkt hastig Wasser aus einem Blechnapf. „Gut. Du willst mir nicht antworten. Ich zwinge dich nicht, auch wenn mich die Antwort sehr interessiert. Ich zwinge dich nicht. – Stell du mir eine Frage, Haydar", sagt der Mann nach einer kurzen Pause.

    „Eine Frage?"

    „Ja. Stell du mir eine Frage. Du antwortest auf meine Fragen nicht, also drehen wir den Spieß um. Stell du mir eine Frage. Irgendeine Frage, Haydar. Was möchtest du wissen über mich? Stell eine Frage!"

    Der Junge betrachtet zunächst seine Hand. Er blickt auf. „Eine Frage?"

    Der Journalist stellt den Becher auf den Tisch zurück. „Ja. Eine Frage. Er ist ungeduldig. „Es muss doch irgendetwas geben, das du wissen möchtest. Es muss doch irgendeine Frage geben, die du mir stellen möchtest!

    Haydar zögert. Dann stellt er die Frage: „Glaubst du an den EINZIGEN?"

    Der Journalist lächelt und dreht sich um. Nur für einen Moment. „Genau diese Frage habe ich erwartet, Haydar. Er lacht. „Ja, genau diese Frage. Und doch weiß ich nicht, wie ich sie dir beantworten soll. Sage ich ja, so ist es eine halbe Lüge. Sage ich nein ... – Wirst du mich dann töten? Wirst du mich töten, Haydar, wenn ich nein sage?

    Der Junge verzieht sein Gesicht. „Ich darf dich nicht töten. Du weißt, Zaim hat es verboten. Zaim sagt, auch wenn du zum Dār al-Harb¹ gehören könntest, er verbietet es, dich zu töten. Er sagt, er denkt, du bist nicht aus dem Dār al-Harb. Er sagt, er denkt, du bist zwischen den Welten."

    „Das sagt Zaim?" Wieder lächelt der Journalist. „Zaim ist ein kluger Mann. Zaim hat Recht. Zwischen den Welten lebe ich, zwischen den ganzen schrecklichen, verdammten Welten. Ich bin in allen Welten zu Hause. Im Dār al-Harb und im Dār al-Islam. Doch niemals im Dār al-Kufr²! Behaupte das niemals, Haydar! – Ich respektiere jeden Glauben. Weißt du, was es heißt, zu respektieren?"

    Der Junge schüttelt den Kopf.

    „Wenn du ein Ziel genau dort triffst, wo es von dir verlangt wird, und die erwachsenen Soldaten staunen darüber und klopfen auf deine Schulter, und sie sagen, dass du gut geschossen hast, dann ist es Respekt, den sie vor dir haben. Sie respektieren dich. – Weißt du jetzt was es heißt zu respektieren?"

    „Ja. – Es gibt in diesem Camp aber keinen Respekt. Es gibt nur Mut. Es gibt nur Folgsamkeit."

    Der Journalist erhebt sich. „Nein, Haydar, du irrst. Du irrst dich gewaltig! Er zeichnet mit seinem Arm einen Kreis. „Hier, in diesem Zelt, hier gibt es Respekt. Großen Respekt.

    Haydar schaut sich um im Zelt. „Hier? In diesem Zelt? Wo ist dein Respekt? Ich sehe deinen Respekt nicht."

    „Hier! Der Journalist klopft auf seine Brust. „Hier drin ist der Respekt. Du kannst ihn nicht sehen. Du kannst ihn nur fühlen. Es ist mein Respekt gegenüber dir. Ich respektiere dich, weil du als Kind jeden Tag überlebst, jeden Tag, den du hier verbringst, hier in diesem Camp. Weil du überstanden hast, was dir widerfahren ist. Es ist mein Respekt. Ich achte dich. Ich rede mit dir. Er setzt sich wieder. „Nein, ich glaube nicht nur an den EINZIGEN. Ich glaube nicht nur an Allah. Aber ich respektiere alle, die an Allah glauben. Beim Salãt knie ich mich nieder, reinige mich mit Wasser oder dem Sand und dem Dreck, der unter mir liegt. Ich respektiere die Sitten der Moslems. – Ich beuge mich gen Mekka, wo ich die Kaaba³ vermute, und bitte darum, dass ich bis zum nächsten Gebet leben darf. Das ist Respekt vor dem Glauben der Muslime. Ich habe Mohammed gesehen. Mehr als nur einmal sah ich ihn. Und ich habe gelernt, an die Vorsehung zu glauben."

    „Du hast Mohammed gesehen?, fragt der Junge erstaunt. „Wann hast du ihn gesehen?

    „Oh, ich habe Mohammed oft gesehen. Ja, oft. In Palästina, als ich ein Interview mit einem offiziellen Vertreter der Hamâs führte, als eine israelische Rakete explodierte und meinen Gesprächspartner zerriss, als es mich gegen eine Hauswand schleuderte, als ich aufstand, nachdem ich erwacht war, als das fremde Blut abgewaschen war und ich feststellte, dass ich nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, dass stattdessen aber Kinder, die zwanzig Meter entfernt spielten, nur spielten, von Splittern durchlöchert wurden, da begann ich an die Vorsehung zu glauben. Und ich habe sehr geflucht, weil ich überlebte und die armen Kinder nicht. Ich habe geflucht, weil die Frauen das Leben ihrer Kinder beweinten und nicht meins. – Willst du noch mehr Beispiele? Willst du noch mehr Beispiele hören, Haydar, wann ich Mohammed gesehen habe? Ich erzähle dir noch eines: Drüben, in Afghanistan, ich begleite eine Gruppe deutscher Soldaten. Wir bringen mit einem Jeep Schuhe hinauf in die Berge. Schuhe für Kinder. Ich wollte nur ein paar Fotos machen. Von lachenden Kindern, deren Füße bei minus zwanzig Grad endlich in warmen deutschen Schuhen stecken durften. Eine russische Mine zerbarst unter den Reifen unseres Jeeps. Zwei meiner Begleiter waren sofort tot, der dritte starb im Krankenhaus, junge Männer, die sich verpflichtet hatten, gottverdammte Schuhe zu diesen armen Kindern zu bringen! Ich lag auf dem Boden, auf mir türmten sich blutige Kinderschuhe. Zwei Wochen später ging es mir wieder gut. Und etwas mehr glaubte ich an die Vorsehung. Paul holt tief Luft. „Du kennst den Koran?

    Haydar nickt.

    „Sure 2, Vers 256. Was steht da?"

    Haydars Gesicht rötet sich.

    „Vers 256. Zaims Worte stehen dort geschrieben: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Zaims Worte sind es. Merke dir das: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Es steht im Koran, doch niemand will es gelesen und verstanden haben! – Wichtig ist, dass man glaubt. Wer den Glauben verloren hat, wird vom Hass verzehrt. Es soll kein Zwang sein im Glauben. Gewiss, Wahrheit ist nunmehr deutlich unterscheidbar von Irrtum; wer also sich von dem Verführer nicht leiten lässt und an Allah glaubt, der hat sicherlich eine starke Handhabe ergriffen, die kein Brechen kennt; und Allah ist allhörend, allwissend. Ja, Haydar, das steht im Koran geschrieben."

    Haydar schaut Paul grimmig an. „Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem aus sich selbst Seienden und Allerhaltenden. Schlummer ergreift Ihn nicht, noch Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden ist. Wer ist es, der bei Ihm fürbitten will, es sei denn mit Seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen ist und was hinter ihnen; und sie begreifen nichts von Seinem Wissen, außer was Ihm gefällt. Sein Thron umfasst den Himmel und die Erde; und ihre Erhaltung beschwert Ihn nicht; und Er ist der Erhabene, der Große.⁴ Auch das steht im Koran! – Es gibt keinen Gott außer ihm!" Haydar lässt Paul staunen.

    „So ähnlich steht es auch in der Bibel. Nur von Allah ist im Neuen Testament nicht die Rede, sagt er. „Sonst ist es fast die gleiche Schrift. Bei uns heißt es Journalist und bei euch Sahaafi. Gemeint ist das Gleiche, eine Bezeichnung für den Job, den ich mache. Bei euch heißt es Allah und bei uns Gott. Es sind die Gleichen, verstehst du? Es sind die, an die man glaubt. Es sind die, zu denen man betet. Es sind die, die man bittet, dass alles besser wird. Eines Tages. – Ist deine Frage jetzt beantwortet, Haydar?

    „Ja. Das ist sie. Die Antwort kommt zögernd. „Und doch – es kann nicht ein und denselben Gott für euch und für uns geben.

    Paul schüttelt den Kopf. „Wer ist euch? Wer ist uns? Warum nicht? Wir alle sind Menschen! Wir alle wurden von unserem Vater gezeugt und von unserer Mutter geboren. Wer gibt dir das Recht zu behaupten, es gäbe uns und euch? Wer gibt dir das Recht dazu? – Vergiss es nicht: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Im Koran steht es so geschrieben. Paul dreht sich weg. Er redet mit der Zeltwand. „Wirst du mich töten, wenn Zaim sagt, dass du mich töten kannst?

    „Ja", antwortet Haydar prompt.

    Der Journalist dreht sich zurück zu dem Jungen und blinzelt mit den Augen.

    Haydar schaut ihn ernst an.

    „Gut. Dann tu es. Bitte, tu es. Töte mich, wenn du es willst. Aber warte damit, bis Zaim es dir erlaubt. – Nun stell mir eine weitere Frage. Zaim hat es dir noch nicht erlaubt, mich zu töten."

    „Eine weitere Frage?"

    „Ja, Haydar. Noch eine Frage. Das ganze Leben besteht aus Fragen. Sei froh, wenn sie dir beantwortet werden. Stell mir eine weitere Frage."

    „Ich weiß nicht ..."

    „Stell mir die Frage, die ich dir zuerst gestellt habe."

    „Die erste Frage?

    „Ja. Stell mir diese Frage."

    „Deine erste Frage ... Du hast mich nach meinem Namen gefragt. – Wie also ist dein Name?"

    Der Journalist lacht übertrieben auf, erhebt sich und umarmt Haydar. „Endlich! Endlich stellst du mir die Frage nach meinem Namen. Ich fühle, dass eine Freundschaft entsteht. Endlich! Wie ich darauf gewartet habe, Haydar. Endlich fragst du nach meinem Namen!"

    „Warum bist du so glücklich, nur weil ich dich nach deinem Namen frage, zudem du mich darum gebeten hast?", fragt der Junge erstaunt.

    „Warum ich so glücklich bin? Beantworte ich die Frage, so wirst du mich bei meinem Namen nennen. Immer und immer wieder. Du wirst anderen von mir erzählen. Du wirst dich daran erinnern, so, wie ich mich an dich erinnern werde. Ich werde sagen: Haydar, das war der Junge, den ich in einem geheimen Camp in den nördlichen Bergen Pakistans kennen lernte. Ich habe viel Respekt vor diesem Jungen. Er war noch ein Kind, doch er lebte und kämpfte wie ein erwachsener Soldat. Sein Name war Haydar, Haydar heißt Löwe. Haydar war ein Löwenkind. Das werde ich über dich sagen. – Wissen Freunde deinen Namen, machen sie dich unsterblich."

    „So etwas wirst du tatsächlich über mich sagen?"

    „Ja. Das werde ich über dich sagen, Haydar."

    „Wie ist nun dein Name?"

    Der Journalist lacht, als wäre er selbst ein Kind. „Ich habe mehr als nur einen Namen."

    „Du hast mehrere Namen?"

    „Menschen gaben

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