Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert
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In letzter Zeit scheint es, als verschwinde das Gemeinwohl als Leitprinzip unserer Gesellschaft. In einer Welt, in der Nationalismus stärker wird und auch die Gesellschaft in immer mehr Teile zerfällt, wird "Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert" zu einem brisanten Thema. Nicht nur sollte es wieder mehr in das Zentrum unserer Überlegungen rücken, wir sollten es auch neu überdenken. Gemeinwohl ist nicht einfach die Summe der Einzelinteressen, es ist ein Mehr und eine Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung. Nur so können wir all die Entwicklungen aufhalten, die aus einem "Wir" zunehmend ein "Ich" machen.
Die Beiträge des Bandes beleuchten das Gemeinwohl auf globaler und nationaler Ebene in seinen verschiedenen Facetten: die Beziehung von Gemeinwohl und Staat und die Rolle von Unternehmen bei der Schaffung von Gemeinwohl.
Mit Beiträgen u.a. von Udo Di Fabio, Clemens Fuest, Kai A. Konrad, Rudolf Mellinghoff, Timo Meynhardt, Stefan Oschmann, Christoph Paulus und Jörg Rocholl.
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Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert - Wallstein Verlag
Autoren
Einführung
Liebe Convoco-Freunde,
in letzter Zeit sieht es so aus, als verschwinde das Gemeinwohl als Leitprinzip unserer Gesellschaft.
In einer Welt, in der Nationalismus dominanter wird – denken wir an Donald Trumps America First-Agenda –, Protektionismus betrieben wird – »Une Europe qui protège«, wie es der französische Präsident Macron ankündigte – und auch die Gesellschaft in immer mehr Teile zerfällt, scheint die Auffassung, dass wir Überlegungen zum Gemeinwohl brauchen, immer schwächer zu werden. Immer öfter wird man mit dem Vorwurf konfrontiert, dass gerade in der westlichen Welt die Regierungen wie auch die Eliten aus Wirtschaft und Wissenschaft sich vom Volk, dem eigentlichen Souverän, entfernen.
Das Prinzip des Gemeinwohls ist essentiell für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, denn die Orientierung am Gemeinwohl kann die einzelnen Teile der Gesellschaft einander wieder näherbringen.
Common good auf Englisch, bonum commune auf Latein oder Gemeinwohl auf Deutsch, sie alle meinen das allgemeine Wohlbefinden einer Gesellschaft.
Dies setzt eine Gemeinschaft voraus, die das Gemeininteresse, nämlich die Interessen der Gemeinschaft als Ganzes, grundsätzlich über das Individualinteresse stellt. Für die Motivation, dies zu tun, ist es wichtig, dass der Einzelne sich der konkreten Gemeinschaft zugehörig fühlt.[1]
Unsere heutige Welt besteht aus von Menschen begründeten Gemeinschaften, angefangen bei der Familie, über den Staat bis hin zu globalen Organisationen. Gegenüber den Mitgliedern dieser Gemeinschaften, denen wir uns zugehörig fühlen, haben wir eine erhöhte Verantwortlichkeit. Wir haben aber auch moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen außerhalb dieser Gemeinschaften.
Meist bestimmt territoriales Denken unsere modernen politischen Gemeinschaften – das Gemeinwohl der Polis oder des Nationalstaates. Immer mehr erhält aber das Konzept des Gemeinwohls eine globale, postnationale Dimension.[2] In letzter Konsequenz ist bonum commune nicht von der universalen Idee des Guten zu trennen. Damit ist der Begriff »Gemeinwohl« letztendlich auf die Menschheit insgesamt ausgerichtet.
Heute gibt es ein konkretes Gemeinwohl auf globaler Ebene. Bei Themen wie Klima oder Gesundheit zum Beispiel ist es von vitalem Interesse, länderübergreifend zu denken und zu kooperieren. Wir dürfen unsere Verpflichtung, als globale Staatengemeinschaft zu handeln, nicht ignorieren. Es braucht ein Verständnis dafür, welche Probleme besser in Europa bzw. international zu handhaben sind als im Alleingang.
Nach Aristoteles ist der Mensch ein zoon politikon, ein »politisches Wesen«, das seine wahre Natur im gemeinschaftlichen Leben der Polis findet.
Dies hat tiefgreifende Konsequenzen. Die Art von Person, die ein Mensch wird, ist abhängig von den sozialen, kulturellen und institutionellen Umständen seines Lebens, nicht nur von seinem persönlichen Erfolg und Wohlstand. Darin wird erkennbar, wie wichtig das Gemeinwohl, das bonum commune, für den Einzelnen ist.
Gemeinwohl sollte als Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung angesehen werden und dieser dienen. Es ist kein Selbstzweck, der Einzelne kann sich des Gemeinwohls als gesellschaftlicher Ressource bedienen, auf die er sich verlassen kann.
Das Gemeinwohl beschreibt im Wesentlichen das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Dies geht zurück auf Platon und Aristoteles. Beide Philosophen waren sich einig, dass das Wohl des Individuums und das der Gesellschaft zusammenhängen, gelangten aber zu verschiedenen Ansätzen.
Nach Platon ist das Wohl der Gemeinschaft ein objektives, normatives Wertesystem, das den Bürgern eines Staates gemein ist. Das bonum commune ist in diesem Sinn als ethische Größe, als Leitlinie zu verstehen, die der Ausrichtung von Verhalten dient. Die Verfassung der Vereinigten Staaten und das deutsche Grundgesetz sind Beispiele solcher normativen Wertesysteme. Für Platon gehörte zum Gemeinwohl die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Nach diesem Verständnis müssen Machthaber ihre persönlichen Interessen und die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ihre Partikularinteressen hinter dem Wohl aller zurückstellen. Beide müssen sich dem guten und glücklichen Leben aller Bürger unterordnen. Ausdruck von Gerechtigkeit war für Platon allgemeine Gesetzgebung und die Gleichheit vor dem Gesetz.
Das andere Verständnis von Gemeinwohl ist empirischer Natur. Es geht auf Aristoteles’ Idee zurück, dass das Gemeinwohl sich aus sozialen Systemen und Institutionen ergibt, die so zusammenarbeiten, dass alle Menschen davon profitieren. Freiheit und Selbstverwaltung können hier durch die aktive Teilnahme Einzelner realisiert werden. Dieses Verständnis zeigt sich zum Beispiel im englischen Rechtssystem, dem »Common Law«.
Ein funktionierendes, modernes Gemeinwohl sollte vermutlich sowohl als Leitlinie dienen als auch praktische Verfahren bieten, mit Hilfe derer die Gesellschaft gedeihen kann.
Es gilt, beide Ansätze neu zu betrachten und das Gemeinwohl wieder in das Zentrum unseres Denkens zu stellen, denn heute scheint es, als wäre das, was wir einst als ›eine Gesellschaft‹ angesehen haben, sich seiner gemeinsamen Werte nicht mehr bewusst. Das ›Wir‹ ist dabei, verlorenzugehen.
Ein Garant dieser gesellschaftlichen Ressource Gemeinwohl ist der Staat. Er ist die einzige Instanz, die das Gemeinwohl legitim durchsetzen kann. Durch sein Bürgersein opfert der Einzelne dem Staat einen Teil seiner Freiheit. Dieser Verlust an Freiheit wird dadurch ausgeglichen, dass er sein Individualwohl aufgrund des Gemeinwohls besser gestalten kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer das Gemeinwohl definiert. In den parlamentarischen Demokratien wird verbindlich prozedural entschieden, was Gemeinwohl ist. Es ist der Gesetzgeber, der entscheidet, also letztlich die Mehrheit in einer Demokratie, aber natürlich gibt es neben der prozeduralen Mehrheitsentscheidung auch einen gesellschaftlichen Diskurs, der definiert, was Gemeinwohl ist. Hier fließen die öffentliche Meinung ein, die Erkenntnisse der Wissenschaft sowie Ethik und Religion. Die Verfassung als normative Grundstruktur bestimmt nicht allein, was Gemeinwohl ist, sie gibt vielmehr die Basis.[3]
Unsere Auslegung von Gemeinwohl findet auch in der Ordnungsidee der sozialen Marktwirtschaft mit dem Sozialstaatlichkeits- und Rechtsstaatlichkeitsprinzip Ausdruck. Die drei grundlegenden Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität prägen die soziale Marktwirtschaft.[4] Das heißt, dass bei der persönlichen Verwirklichung neben die Eigenverantwortung die Verantwortung für die Gemeinschaft, nämlich die Solidarität, tritt. Zu beachten hierbei ist, dass zuerst die Selbsthilfe des Einzelnen angesprochen ist, vor der Hilfe der Gemeinschaft. Das bedeutet Subsidiarität.
Wichtig ist, dass die Gesellschaft sich ihren Gemeinsinn, also ihr Engagement für das Wohl der Gemeinschaft, erhält. Schließlich war auch die Bildung von Gemeinschaften der Grund dafür, dass Menschen zu einer politischen Kraft wurden. Dieses horizontale Bewusstsein gestaltete sich in der Renaissance[5] und ist bis heute Grundlage unserer gesellschaftlichen Ordnungen. Wir sollten der Gesellschaft eine Richtung geben und das Gemeinwohl als Orientierungspunkt nehmen.
Besonders relevant ist dies angesichts der technologischen Entwicklungen, die in diesem Jahrhundert noch anstehen. Dass es zum Beispiel durch Künstliche Intelligenz und zunehmende Digitalisierung zu starken Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft kommen wird, steht fest. Wie diese aussehen werden, ist noch fraglich. Zu vermuten ist, dass sich Arbeit als identitätsstiftendes Merkmal für den Menschen so nicht mehr festmachen werden lässt.
Der Mensch ist dank seines Wunsches, nicht nur seiner Fähigkeit, zu kooperieren, in der Evolution an den Platz gekommen, an dem er heute steht. Auch innerhalb der Menschheitsgeschichte ist zu beobachten: je mehr die Menschen lernten, ihre Handlungen sowohl im Kleinen wie auch im Großen zu koordinieren, desto größer wurden ihre Erfolge. Die Fähigkeit, Gemeinschaften aufzubauen mit Arbeitsteilung und komplexen Strategien, hat die Stellung des Menschen als »Krone der Schöpfung« begründet.
Durch den Vormarsch der Künstlichen Intelligenz in Verbindung mit Algorithmen und Big Data läuft der Mensch nun Gefahr, diese Stellung zu verlieren. Wir sollten uns der zentralen Rolle der Gemeinschaft und ihrer Relevanz für das 21. Jahrhundert gewahr sein.
Corinne Michaela Flick, im Januar 2018
Anmerkungen
Thesen
Gemeinwohl ist eine notwendige Fiktion – gewissermaßen eine Orientierung auf das größere Ganze hin, welches erst dadurch Gestalt annimmt und in der Folge wiederum ordnungsstiftend wirkt. In einem Bild: Dem Gemeinwohlgedanken kommt die Funktion eines Polarsterns zu, der zwar niemals erreichbar ist, aber stets eine Richtung weisen kann. Angesichts der aktuellen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft kann man auch sagen: Wenn Komplexität die Herausforderung ist, dann ist Gemeinwohl die Antwort.
Timo Meynhardt
An der Diskussion über das Gemeinwohl fällt auf, dass fast alle Beteiligten glauben, es stünde fest, was das Gemeinwohl sei und wie man es bewahren oder fördern könne. In Wirklichkeit ist hier fast alles kontingent, das heißt, man könnte fast immer auch anders optieren, geradezu das Gegenteil behaupten.
Udo Di Fabio
Gemeinwohl ist heute das, was den Angehörigen einer Gemeinschaft Freiheit zur Ausbildung von Individualität zuspricht oder rechtsstaatlich gerade ermöglicht, die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen ohne Auslöschungskonkurrenz zu leben. Das heißt, das Gemeinwohl gilt der Herausbildung, der Erziehung und Förderung von Individualität.
Bazon Brock
So wenig es überzeugen kann, das »globale Gemeinwohl« an allen Fronten der Politik realisieren zu wollen, so wenig kann eine pauschale Renationalisierung der Interessen die realen Probleme der Welt lösen. Richtig erscheint es, je nach Sachthema unterschiedliche politische Bezugssysteme zu adressieren. Der Bürger wird es aushalten müssen, je nach Sachfrage als Deutscher, als Europäer oder als Weltbürger zu denken und zu agieren – sonst denkt er entweder zu klein oder zu groß.
Wolfgang Schön
Warum beziehen sich auch im Jahre 2017 unsere Gerechtigkeits- und Gemeinwohlvorstellungen so hartnäckig (und deshalb vielleicht auch mit Recht) auf die Ordnung zeitgleich und räumlich zusammenlebender Gruppen, von der Familie bis zur Nation, mit den Gegenüberstellungen von Inklusion und Exklusion, heute und morgen, Altruismus im Inneren, Egoismus nach außen?
Stefan Korioth
Der Gesetzgeber berücksichtigt Gemeinwohlinteressen im Steuerrecht auf vielfältige Weise. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Gemeinnützigkeitsrecht. Darüber hinaus erlaubt ihm aber auch das Grundgesetz, von der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzuweichen, wenn er damit Gemeinwohlbelange fördern will. Damit erweist sich das Steuerrecht als wichtiger Bestandteil einer Politik, die auf das allgemeine Wohl ausgerichtet ist.
Rudolf Mellinghoff
Gemeinwohl drückt sich in nichts mehr aus als in Zahlen und Finanzen eines Bundeshaushaltes – das gilt heute, aber auch noch im Jahr 2030.
Jens Spahn
Auch wenn alle eine vage, eher diffuse Vorstellung haben, was konkret und präzise Gemeinwohl bedeutet– noch dazu exakt im 21. Jahrhundert –, ist es ungleich einfacher, Dinge präzise zu benennen, die dem Gemeinwohl abträglich sind und diesem zuwiderlaufen. Eines dieser Dinge ist die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte nicht nur hierzulande, sondern nahezu auf der ganzen Welt.
Christoph G. Paulus
Unternehmen leisten am besten einen Beitrag zur Mehrung des Gemeinwohls, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren: Werte für den Einzelnen und die Gemeinschaft zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass in unserer arbeitsteiligen, marktwirtschaftlichen Ordnung Unternehmen grundsätzlich dann den größten Beitrag zum Gemeinwohl leisten, wenn sie sich voll und ganz ihrem Geschäft widmen.
Roland Berger
Der Unternehmer, der nur seinen Profit maximieren möchte, trägt gerade durch die einseitige Ausrichtung seines Handelns auf den eigenen Gewinn maximal zum Wohlstand der Gesellschaft bei. Wenn die Politik den richtigen ordnungspolitischen Rahmen schafft, dann entsteht kein Zielkonflikt zwischen der einseitigen Profitorientierung des Unternehmers und dem allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft.
Kai A. Konrad
Gesundheit ist ein Teil des Gemeinwohls. Damit wir aber die besten Voraussetzungen für Innovationen bieten, sind wir darauf angewiesen, dass medizinische Produkte und Dienstleistungen von privaten Akteuren entwickelt werden. Wir brauchen den privaten Sektor, um mit vereinten Kräften auf einen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung hinzuarbeiten.
Stefan Oschmann
Im Schnitt hat eine Gesellschaft von der Automatisierung immer profitiert, aber auch manches Mal zu Lasten der Erwerbstätigen, deren Arbeitsplätze verloren gingen. Es ist nun Aufgabe der Gesellschaft, die Computerisierung in das Allgemeinwohl einzubinden, indem man sicherstellt, dass ihre positiven Errungenschaften vielen zugutekommen. Per se ist sie aber nicht Teil des Gemeinwohls.
Carl Benedikt Frey
Das Gemeinwohl wird nicht davon profitieren, wenn Menschen, denen eine Beschäftigung mit den neuen Technologien nicht zugetraut wird, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zur Tatenlosigkeit animiert werden. Umfangreiche Anstrengungen bei der Verbesserung von Bildungschancen werden für das Gemeinwohl dauerhaft sinnvoller sein und Teilhabe an wirtschaftlichem Fortschritt und sozialem Austausch ermöglichen.
Jörg Rocholl
Wenn man immer nur in der Furcht vor einer bevorstehenden entweder gutartigen oder bösartigen Singularität lebt, dann wird man nicht erkennen, dass unsere Gesellschaften jetzt schon durch die technologischen Entwicklungen in einer Weise umstrukturiert werden, die einen Post-Faschismus, Nativismus, Populismus, Arbeitslosigkeit und all diese Dinge ermöglichen.
Hito Steyerl
Das kritische Denken von Künstlern ist im Hinblick auf die Gefahren von Künstlicher Intelligenz äußerst nützlich, da Künstler unsere Aufmerksamkeit auf jene Fragen lenken, welche aus ihrer Perspektive wichtig erscheinen. Wenn Algorithmen durch künstlich erzeugte Bilder auf neue Weise sichtbar gemacht werden, können visuelle Kompetenz und Expertise von Künstlern kritisch genützt