Revolution 100 Years After: System, Geschichte, Struktur und Performanz einer politisch ökonomischen Theorie
By Anil Jain, Manuel Knoll, Dominic Lehmann and
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Anil Jain
studierte an der LMU München Politikwissenschaften, Psychologie und Soziologie und promovierte bei Ulrich Beck.
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Book preview
Revolution 100 Years After - Anil Jain
Zum Inhalt des Buches: Die historische Spannbreite der hier edierten Vorträge reicht von der Theorie der politischen Revolution bei Aristoteles bis hin zur Frage, unter welcher Perspektive man die G20-Krawalle 2017 in Hamburg als revolutionär betrachten kann. Die Autorinnen gehen keineswegs von einer gemeinsamen theoretischen Linie oder einem gemeinsamen politischen Standpunkt aus. Gemeinsam ist den Vorträgen aber die Neugier danach zu suchen, welche Rolle die Idee der Revolution heute noch spielt, die bis in die 1960er Jahre hinein viele faszinierte und beseelte, sei es bei revolutionär Engagierten oder anderweitig Aktiven. Dabei werden auch unterschiedliche Blickwinkel auf einige historische Ereignisse geworfen, die bis heute das Denken über Revolution prägen. Sowenig dürfen Überlegungen zu den neuesten technologischen Entwicklungen fehlen, die z.B. die Arabellion beflügelten. Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, wohin die revolutionäre Reise geht oder ob die Epoche der Revolution beendet ist.
Zur Entstehung des Buches: Die Texte sind die ausgearbeiteten Vorträge, die auf dem ersten wissenschaftlichen Symposion gehalten wurden, das im Anschluss an den Philosophischen Rau(s)chsalon (dazu siehe http://schönherr-mann.de/) unter derselben Themenstellung wie der vorliegende Buchtitel am 4. und 5. November 2017 im Geschwister-Scholl-Institut stattfand. Der Salon beschäftigte sich bereits in den Jahren 2013–2015 mit dem Thema Vergesst nicht . . . die Revolution! (unter demselben Titel erschienen die Texte hrsg. v. Schönherr-Mann/Jain/Beilhack, Edition fatal, München 2017). Das Symposion fand aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution statt.
Der Herausgeber Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für Politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München.
Dem Andenken an
Georges Danton
(in Georg Büchners Drama)
Inhalt
Vorwort
GRUNDLAGEN
Anil Jain: Widerspruch, Widerstreit, Widerstand. Fundamente revolutionärer Praxis
Manuel Knoll: Aristoteles als Begründer der Theorie politischer Revolutionen
Dominic Lehmann: Zum Ursprung und der Entwicklung des Revolutionsbegriffs in China
EREIGNISSE
Daniel Mirbeth: Ludwig XVI. und Nikolaus II. Sichtbares und unsichtbares Verschwinden der Monarchie
Mario Beilhack: Die Angst vor der Terreur Über das deutsche Unbehagen mit der Revolution
Valentina von Tulechov: Der moralische Minimalismus am Beispiel der Samtenen Revolution von 1989
Peter Seyferth: Waren die G20-Krawalle revolutionär? Die Rolle des Aufstandes für den Kampf um Herrschaftsfreiheit
ÜBERLEGUNGEN
Andrea Umhauer: (Un)Möglichkeiten von gewaltfreiem Widerstand
Michael Bräustetter & Maximilian Hartung: Disruptive Technologie & Politische Revolution
Markus Penz: Die Entschleunigung der Revolution
Michael Löhr: Revolution als medialer Sprung. Marshall McLuhan revisited
Hans-Martin Schönherr-Mann: Was heißt friedliche Revolution?
Autorinnennotizen
DANTON
(Georg Büchner, Dantons Tod)
Vorwort des Herausgebers
Das Symposion war nach gängiger Tagungserfahrung ein Experiment. Für die Referenten gab es keine zeitlichen Vorgaben, sowenig wie einen Zeitplan. Auch für die an jeden Vortrag anschließende Diskussion war kein Zeitraum festgelegt. Natürlich wurde nach jedem Vortrag eine Zigarettenpause eingelegt, die die in der israelischen Armee dafür üblichen sieben Minuten überschreiten durfte. Der Spielraum erstreckte sich zwischen Samstag 14–23h und Sonntag 12–22h. Das wurde am Ende nicht mal ausgeschöpft. Verglichen mit anderen Tagungen, bei denen ein Vortrag den nächsten jagen muss, weil so viele Vorträge untergebracht werden wollen, hatten wir eine großzügigen Zeitrahmen, der nicht nur den üblichen Tagungsstress verhinderte, sondern den Diskussionen genügend Raum bot, um Fragen auszudiskutieren. Jedenfalls in dieser Hinsicht darf man das Symposion als gelungen bezeichnen. Weitere Urteile sollte man als Veranstalter vermeiden.
Diese Form versuchte eine theoretische Einstellung widerzuspiegeln, die vielleicht von einigen der Beteiligten geteilt wird. So schreibt Paul Feyerabend: „Die Wissenschaft ist wesentlich ein anarchistisches Unternehmen: der theoretische Anarchismus ist menschenfreundlicher und eher geeignet, zum Fortschritt anzuregen als ‚Gesetz- und-Ordnungs‘-Konzeptionen."¹ Dann erschöpft sich der Sinn von Wissenschaft nicht darin, eine bestimmte Ausbildung von Studenten durchzuführen und sozialen Institutionen nützliche Dienste zu leisten. Vielmehr werden neue Ideen erfunden, die vor allem den Zeitgenossinnen helfen, über sich selbst unabhängig von Herkunft und Tradition nachzudenken, um ihr eigenes Leben auch davon abweichend gestalten zu können. Gleichzeitig tangiert und scheidet sich hier das Thema Revolution vom Tagungsgeschehen: Soll die Sozialwissenschaft der Menschheit helfen, dann darf sie das Individuum nicht auslassen – jedenfalls wenn die abendländische Menschheit dabei eine Rolle spielt!
So geht es im Rahmen der politischen Philosophie immer um theoretische Blickwinkel und Fragen. Diese dürfen aber den theoretischen Horizont durchaus hintergehen und sich empirisch aufladen. Beim Thema Revolution lässt sich das schon vom Ansatz her schwerlich vermeiden, ist aber gemäß meinem Verständnis immer schon ein Anliegen der politischen Philosophie: Das Politische an der Philosophie stellt den Bezug zwischen Theorie und Erfahrung her, weitet den Blick der Philosophie in den Raum der Erfahrungen hinein und leistet der Empirie Reflexionshilfen, die man gemäß eines berühmten Wortes von Kant im anderen Fall als blind bezeichnen könnte. Doch das wäre nicht mal so sehr das Problem, sondern vielleicht sogar ein Vorteil. Nur gibt es keine reine Empirie. Wer dergleichen versucht, der weiß in vielfältiger Hinsicht nicht, was er tut.
¹ Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang – Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie (1975), Frankfurt/M. 1976, 28
GRUNDLAGEN
Anil K. Jain
WIDERSPRUCH, WIDERSTREIT,
WIDERSTAND – FUNDAMENTE
REVOLUTIONÄRER PRAXIS
Die Praktik der Revolution strebt die radikale Umwälzung an. Sie will eine neue »Ordnung der Dinge« etablieren. Nicht jede dieser neuen Ordnungen erweist sich als erstrebenswert. Und viele fürchten (zurecht) die Unordnung, die im Zuge er Revolution (zunächst) »mit aller Gewalt« hereinbricht. Die Revolution ist nämlich der Zeitpunkt, an der dem Konflikt zwischen der alten Ordnung und der neuen Ordnung offen ausbricht. Um die Voraussetzung für das Zustandekommen der revolutionären Dynamik zu klären, ist es hilfreich allgemein nach den »Gründen« des Konflikts zu fragen. Ich möchte dies unternehmen, indem ich im folgenden drei für den Konflikt zentrale Begriffe näher in den Blick nehme: Widerspruch, Widerstreit und Widerstand. Eines haben diese drei Begriffe gemein: das »Wider«. In diesem Präfix kommt eine Gegen-Stellung zum Ausdruck, die auch den Kern des Konflikts ausmacht. Aber das althochdeutsche »wiedar«, von dem es sich ableitet, hatte noch eine andere, durchaus vielsagende Bedeutung: »weit(er) weg«. Und so führt uns die Spur der Sprache direkt zur eigentümlichen Bewegung des Konflikts. Denn der Konflikt meint seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach ein (gewaltvolles) »Zusammentreffen« von entgegengesetzten Kräften. Führt man weit auseinander liegende Positionen zusammen, so entsteht daraus ein Konflikt. Oder anders ausgedrückt: wird die Physik der Abstoßung missachtet, wird Differenz eliminiert, so wird eine Dynamik entfaltet, die sowohl das Potential der Zerstörung in sich trägt, wie auch schlummernde positive Energien freisetzen kann.
1. Widersprüche
Am Beginn jedes Konflikts steht der Widerspruch. Der Widerspruch soll hier allerdings – anders als der Begriff es eigentlich nahe legen würde – nicht diskursiv aufgefasst werden. Dies mag einen Widerspruch in sich darstellen. Aber Widersprüchlichkeit ist die »Natur« des Widerspruchs. Es macht keinen Sinn, dieser »Natur« zu widersprechen, den Widerspruch glatt zu bügeln, indem man ihn gemäß der »reinen« Begrifflichkeit auffasst. Im Gegenteil kann es überaus produktiv sein, den Widerspruch »materiell« zu entfalten und von seiner diskursiven »Anmutung« zu befreien.
Als Begriff aus dem Antiquariat der Philosophie ist der Widerspruch beziehungsweise sein Ausschluss eine der zentralen Grundlagen der klassischen Logik. Aristoteles nahm in seiner »Metaphysik« (1005b) wie selbstverständlich an, »es sei unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei«, und formulierte daraus ein Grundgesetz der Logik: den Satz vom Widerspruch. Man muss als Logiker an dieses Dogma glauben. Der Widerspruch bringt jedes logische Gebäude zum Einsturz. Er ist der Treibsand des Denkens.
Die großen Dialektiker der Neuzeit – Hegel und Marx – kapitulierten insofern noch bedingungsloser vor der drohenden Gefahr des Widerspruchs als die klassischen Logiker, als sie – dem Widerspruch anders nicht Herr werdend –, danach trachteten, ihn im Fortlauf der Geschichte zu eliminieren: In Hegels (1988 [1807] »synthetischer« Dialektik sollte der Widerspruch im Begriff »aufgehoben« werden. Marx wendet sich zwar vom Idealismus Hegels ab, doch auch im Dialektischen Materialismus heben sich die sozio-ökonomischen Widersprüche im historischen Endzustand des Kommunismus letztlich auf. Entscheidend jedoch ist, dass der Widerspruch im Marxismus eine klare materialistische Umdeutung erfährt. Der Widerspruch wird dem unklaren, dunklen Bereich des spekulativen Denkens entzogen und zur objektiven Tatsache erklärt. Diese Umdeutung hat einen großen heuristischen Vorteil: er kann nicht mehr nicht nur gedacht und demaskiert werden, sondern er wird in der Realität des Kapitalismus und in der Geschichte – als Klassenkampf – konkret erfahrbar und damit bekämpfbar. Wenn Marx (1956ff. [1859]: S. 9) bemerkt: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt«, so meint er damit, dass die Erfahrung des Widerspruchs keine andere Wahl lässt, als der Realität des Widerspruchs den Kampf anzusagen: Aus der Kontradiktion ist ein Konflikt entstanden.
Wenn ich allerdings (mit Marx) auf die materielle Ebene des Widerspruchs verweise und mich auf sie konzentriere, so will ich damit nicht den Widerspruch auf die sozio-ökonomische Ebene reduzieren. Vielmehr will ich herausstellen, dass der Widerspruch, wenn man das Feld formaler Logik verlässt, am besten als eine erfahrbare Realität verstanden werden kann. Eine Realität, die nicht eindeutig, glatt und ungetrübt ist, sondern geprägt durch Spannungen und Risse. In diese Realität »geworfen« zu sein, bedeutet eine Auslieferung an den Widerspruch. Und es bedeutet die Aufgabe, sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen.
Die erfahrbaren Widersprüche dieser Realität betreffen die Ökonomie, die Politik, die Gesellschaft und ihre Diskurse, das Ich – und alle möglichen weiteren Felder des »In-der-Welt-seins«. Und es handelt sich bei den erfahrbaren, »materiellen« Widersprüchen um Gegensätze, die nicht bloße Konstruktion sind (obwohl sie natürlich in ihrer Wahrnehmung immer sozial überformt sind), sondern auf eine »tatsächliche«, im Sein verankerte, Gegenstellung verweisen. Auch die Ambivalenz, d.h. ein Widerspruch, der nicht durch den Ausschluss der Gegensätze, sondern durch ihre Gleichzeitigkeit geprägt ist (und damit die klassische Definition sprengt), zählt zu dieser materiellen Form des Widerspruchs, der im Kontext des Konflikts als »Trigger« fungiert.
2. Die Dynamik des Widerspruch: Die Dialektik von Reflexion und Deflexion
Nicht jeder Widerspruch entfaltet jedoch eine konfliktvolle oder verändernde Dynamik. Fragen wir uns also: Wann wird der Widerspruch entfaltet? Und ist – im Sinne des produktiven Umgangs mit dem Konflikts, der aus dem Widerspruch entsteht – seine Entfaltung das Problem oder vielleicht im Gegenteil seine Überdeckung?
Als materielle Kategorie stellt der Widerspruch einen »gegenständlichen« Zwang dar: Der Widerspruch kann nicht einfach ignoriert werden. Es verhält sich ähnlich wie bei belastenden psychischen Ereignissen: seine Ausblendung und Verdrängung ist eine überaus anstrengende Arbeit und erfordert immense Kraftanstrengungen. Trotzdem ist die Ausblendung des Widerspruch in vielen Fällen eine überaus verführerische Option, denn sie erlaubt es scheinbar, so weiter zu machen, wie man es gewohnt ist. Widersprüche haben allerdings die unangenehme Eigenschaft sich zu steigern, wenn man versucht, sich ihnen zu entziehen, anstatt sich ihnen zu stellen. Und irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es unmöglich wird, den Widerspruch auszublenden. Ob man es will oder nicht: er ruft sich – verschärft – ins Bewusstsein. Deshalb wäre es klüger, dem Widerspruch von Beginn an seinen Raum zu geben und sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Die »Wahr«-nehmung des Widerspruchs ist eine »reflexive« Haltung. Reflexiv nicht etwa im Sinn einer bloß kognitiven Spiegelung, sondern durchaus praktisch verstanden als eine Anerkennung der Widersprüchlichkeit des Seins, die auf eine Synthese der Widersprüche verzichtet, sich auf diese einlässt und zugleich auf die Entfaltung seiner Potentiale hinwirkend, in das Sein »involviert« ist. Derartige reflexive Impulse lösen allerdings immer – zumindest in einem dialektischen Denkmodell – auch deflexive, d.h. ablenkende und verdrängende Gegenimpulse aus, weshalb wir sowohl theoretisch wie in der Realität zumeist eine Dialektik von Reflexion und Deflexion denken und beobachten können (vgl. Jain 2000a). Die Unsicherheit, die mit der reflexiven »Öffnung« zum Widerspruch entsteht, wirkt bedrohlich und wird abzuwehren versucht. Zudem stehen dem reflexiven Wandel die Interessen der vermeintlichen oder tatsächlichen Nutznießer des status quo gegenüber. Deflexion erfolgt aber zugleich niemals losgelöst von Reflexion, sie setzt vielmehr gerade (dialektisch) auf ihr auf, hat sie zur Voraussetzung. Eine Definition des Begriffs der Deflexion muss deshalb notwendig mit Bezug auf den Reflexionsbegriff erfolgen: Bedeutet Reflexion die gedankliche und praktische Spiegelung von Reflexivität, die Entfaltung und »Stellung« der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Seins, so meint Deflexion als dialektischer Gegenbegriff hierzu die Verspiegelung des Widersprüchlichen, die Abwehr, Verdrängung und Ablenkung (innerer wie äußerer) reflexiver Impulse und Ambivalenzen.
Dieses dialektische Wechselspiel ist, wie dargelegt, allerdings keineswegs unproblematisch. Insbesondere die (Teil-)Systeme der modernen Gesellschaft besitzen wirksame Deflexionsressourcen zur Abwehr reflexiven Hinterfragungen. Die systemisch bewirkte Überdeckung der Widersprüche steigert diese allerdings untergründig und ruft somit neue reflexive Herausforderungen auf den Plan – etwa in der Form der »Multitude«. Die Effekte sind nicht nur ein gesteigertes Konfliktpotential und hohe Kosten der Deflexion (die ihren Nutzen bei weitem übersteigen können), sondern auch eine Steigerung der Gefahr, im »katastrophalen« Abgrund des Widerspruchs – der Revolution – unterzugehen.
3. Widerstreite
Die Gefahren der Überdeckung des Widerspruchs sind offensichtlich. Aber auch die Lösung des Widerspruchs birgt nicht nur Risiken (des Misslingens), sondern bewirkt zwangsläufig auch eine Eliminierung der Differenz, die den Widerspruch ausmacht. Der Widerspruch bedarf darum der Artikulation, der Repräsentation und er muss – in einem gewissen Sinn – gewahrt werden. Die Artikulation und Repräsentation des Widerspruchs nenne ich Widerstreit. Ich bediene mich dabei also eines Begriffs, der mit der Übersetzung von Lyotards »Le Différend« eine gewisse Prominenz im Diskurs erlangt hat.
Lyotard (1989 [1983]) bemerkt zu seinem Begriff des Widerstreits: »Widerstreit [différend] möchte ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird […] Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die ›Beilegung‹ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere Seite erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.« (S. 27) Die Situation des Widerstreits ist für Lyotard ein moralisches Problem, denn da keine Diskursart (mit ihren Regelsystemen) per se eine übergeordnete Wahrheit oder Richtigkeit für sich beanspruchen kann, bedeutet dies, dass jede Praxis zwangsläufig zu Ungerechtigkeiten führt.
Ich aber möchte den Widerstreit anders als Lyotard verstanden wissen. Der Widerstreit ist ein Streit, ein artikulierter Dissens, in dem der Widerspruch aufscheint und damit repräsentiert wird. Man könnte auch sagen: Der Widerstreit macht das Wider »spruchreif«. Er ist die diskursive Manifestation des Widerspruchs. Der Widerstreit ist aber noch nicht zwangsläufig ein tatsächlicher Konflikt. Er holt den Widerspruch nur aus dem Unbewussten des Objekthaften in die Sphäre des Diskursiven. Dabei kann er in einer Personen oder in Gruppen von Personen repräsentiert sein. Entscheidend ist, dass er eine Stimme gefunden hat. Was geschieht, wenn ein Widerstreit sich entfacht, kann man dabei vielleicht eine Krise nennen (was nichts anders bedeutet als: Scheidepunkt). Was scheinbar eine Einheit bildete, trennt sich in widersprüchliche Positionen auf. Der Widerspruch kann nun nicht mehr im Verborgenen bleiben. Er wird zum Objekt der diskursiven Auseinandersetzung, wobei die unterschiedlichen Positionen, die den Widerspruch darstellen, aufeinander treffen. Insoweit ist der Widerstreit ein Element der (artikulierten) Reflexion. Er manifestiert den Widerspruch. Allerdings ist der Widerspruch auf der Stufe des Widerstreits noch nicht voll entfaltet. Er ist bewusst. Aber er ist noch nicht auf der Ebene des Handels verwirklicht.
4. Die Schlichtung der Widerstreite: (Deflektorische) Übersetzung
Die Reflexion, die der Widerstreits darstellt, ruft nämlich deflexive Gegenbewegungen hervor, um zu verhindern, dass der Widerspruch in der Praxis manifest wird. Dem System stehen zahlreiche Methoden zur Verfügung, den Widerstreit zu »schlichten«, das bedeutet: ihn nicht (in Handlung) ausgreifen zu lasen. Das wichtigste Instrument der Schlichtung ist die »Praxologie« der Übersetzung von (widerstreitenden) Diskurse. Mit dem Mittel der Übersetzung wird auf die (freilich nur in der »Theorie« gegebene) Trennung der Subsysteme zurückgegriffen, um gleichzeitig eine deflektorische Verbindung zwischen den einzelnen Systemen zu schaffen. Tatsächlich handelt es sich, ganz im Sinne Lyotards (1989 [1983]: Nr. 78), nur um eine »Verkettung«. Reflexiv erzeugte »Spannungen«, die in der einen Diskursart – oder um mit Niklas Luhmann zu sprechen: im »binären Code« des einen (Teil-)Systems – nicht befriedigend »gelöst« werden können, werden durch die Übertragung in eine »fremde« Diskursart entschärft. Der reflexive und semantische Übersetzungsverlust, der hierdurch zwangsläufig entsteht, wird ausgeglichen durch deflektorische Gewinne, wie etwa der Absorption von politischem Protest durch Übersetzung etwa einer politischen Streitfrage in den juristischen Diskurs: das Verfassungsgericht hat entschieden, der politische Streit wird für beendet erklärt!
Die systemische Politik, als Steuerungsinstanz, kann jedoch im Zusammenspiel mit anderen Subsystemen noch auf eine Reihe weiterer (jeweils für diese Systeme spezifische) Deflexionsmodi zurückgreifen (siehe Tabelle): Ökonomische Deflexion beruht zum einen auf der integrativen Macht des Konsums in der umverteilenden Gesellschaft des (post-)industriellen Wohlfahrtsstaats. Zum anderen fußt sie auf der liberalistischen Ideologie der freien Marktwirtschaft und der aus ihr abgeleiteten These vom Zwang zur Anpassung an die Marktgesetze der Konkurrenz, welche durch die stattfindenden Globalisierungsprozesse zusätzlichen Auftrieb erhält. Die ideologische »Grundlage« der wissenschaftlichen Deflexion besteht in der Annahme wissenschaftlicher Unabhängigkeit und Objektivität. Sie wird in der Praxologie wissenschaftlicher Expertisen von der Politik deflektorisch genutzt. Im Rahmen der dramaturgischen Deflexion versucht die Politik sich durch expressive Inszenierungen in der Öffentlichkeit darzustellen. Diese politischen »Rituale« (wie z.B. Vereidigungszeremonien) und die Permanenz der politischen Präsenz in den Medien erzeugen Vertrautheit und Vertrauen. Symbolische Deflexion, die eng mit der dramaturgischen Deflexion verknüpft ist, erfolgt primär mit dem Mittel der (historischen) Erzählung und der Herrschaft über die Sprache sowie die kulturellen Symbolwelten. Ihr liegt die Ideologie der nationalen Einheit und der sozial-kulturellen Wertegemeinschaft zugrunde. Alle diese Mechanismen der Deflexion tragen dazu bei, die Widerstreite zu schlichten und (revolutionären) Widerstand zu verhindern.
Das deflektorische System der Politik
5. Widerstände
Es steht darum (leider) nicht gut um die Kräfte des Widerstands. Denn der Widerstand ist, was schon der Name sagt, eine Gegenmacht. Und wo die Macht der Anpassung, der Unterdrückung und Unterwerfung sich deflexiv verschleiert und der Wahrnehmung entzieht, bleibt Widerstand folglich aus oder wird abgelenkt und läuft ins Leere. Wir befinden uns aktuell in einer globalen Konstellation, in der die Haltung des Widerstands zu einer belächelten Position verkommen ist – nicht nur weil die Kräfte der Anpassung und Unterdrückung übermächtig wirken, sondern weil sie größtenteils unerkannt bleiben (weil sie unkenntlich gemacht wurden und somit unerkennbar sind).
Aber auch wenn der Widerstand ein immer seltener anzutreffendes Phänomen ist, sollten wir uns fragen: Was ist und was bedeutet der Widerstand? Denn nur in diesem Wissen kann der Widerstand wiederbelebt werden. Und deshalb möchte ich vorschlagen, den Widerstand als die Manifestation des Widerstreits (und damit auch des Widerspruchs) im Handeln zu verstehen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Formen des Widerstands unterscheiden. Die eine erscheint »aktiver«. Ihr Widerstand ist stürmisch. Es kommt zum Zusammenprall, zum offenen Konflikt und schließlich (vielleicht: zur Revolution. Die andere Form ist »passiver« und kann mit dem elektrischen Widerstand verglichen werden: Sie bremst nur den Fluss der Ereignisse. Aber auch sie ist gekennzeichnet durch den Willen, nicht das Feld zu räumen, sich vom Fluss des »Mainstream« nicht mitreißen zu lassen. Auch dieser Widerstand führt – durch seine Be-Ständigkeit – zur Konfrontation. Nur: Im »Space of Flows« der Netzwerkgesellschaft