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Neun Jahre Doris
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Ebook170 pages2 hours

Neun Jahre Doris

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About this ebook

Ein Anruf der Schwester stellt klar, dass die vielgeliebte Tante nicht mehr allein zurechtkommt – Altersdemenz. Und nichts liegt näher, als Daniela darum zu bitten, sich um sie zu kümmern. Daniela Flemming ist Sachbuchautorin und Dozentin für die Pflege Demenzerkrankter. Doch sie lebt die Hälfte des Jahres auf einer kanarischen Insel, hat eine eigene Familie und mit der Heimat der als Journalistin und Autorin bekannten Tante nichts zu tun: Saarbrücken ist für sie Hotel und Familienbesuch, lange Anreise, irgendwo an der französischen Grenze. Sie wird Betreuerin der Tante und mit der realen, alltäglichen Seite dessen konfrontiert, was sie sonst wissenschaftlich bearbeitet.

Aus der Bitte der Schwester werden neun Jahre Betreuung und eine Achterbahnfahrt zwischen Momenten der Nähe, des Triumphs über Hindernisse und der Verzweiflung. Neun Jahre, die sie selbst an ihre Grenzen führen, während sie die Tante von der Diagnose bis zum Tod begleitet. Daniela Flemming schreibt präzise, fern von Kitsch und Pathos, nüchtern und zutiefst menschlich über diese Zeit. Über mündelsichere Anlagen, Aufenthaltsbestimmungsvollmachten, das Betrachten von Fotoalben in Endlosschleife und ein würdevolles Ende.
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateMar 29, 2018
ISBN9783956021268
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    Book preview

    Neun Jahre Doris - Daniela Flemming

    Impressum

    Für Adrian

    Für Andrea

    Geduld-Geduld, es ist die Demenz, sie will mich nicht ärgern. Und ich ärgere mich doch, denn ich fühle mein Engagement nicht gewürdigt und wie so oft meinen guten Willen nicht wertgeschätzt.

    1

    Das erste Jahr: 2006 – 2007

    Es ist soweit

    Sie, die immer selbstbestimmt gehandelt hat, hätte ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen selber ordnen können. Anstatt alles uns, die wir im Grunde kopfschüttelnd vor dem Durcheinander ihres Lebens stehen, auch noch dieses Durcheinander zu überlassen.

    Wann ist der richtige Moment für den einen Anruf? Für den Anruf, den man gar nicht bekommen will. Von dem man aber weiß, er wird kommen.

    Es war Januar, als er kam. Und er war unmissverständlich: »Einer muss sich um unsere Tante kümmern. Ich. Kann. Nicht.«

    Meine Schwester. Das war kein Notruf, es war eine Aufforderung. Moralisch zumindest. Ich hatte es vor Jahren fertiggebracht, unsere damals 94-jährige Großmutter in einem Pflegeheim unterzubringen. So etwas in der Art schwebte meiner Schwester jetzt wohl auch vor. Außerdem hatte ich, ihrer Meinung nach, im Gegensatz zu ihr jetzt Zeit. Gerade hatte ich mein Manuskript zu einem Ratgeber für Angehörige Demenzerkrankter abgeschlossen, schien mithin also doppelt geeignet, mich um die Tante zu kümmern. Denn die Tante, damals 82, hatte in den letzten Jahren immer deutlicher Anzeichen auffälliger Vergesslichkeit gezeigt.

    Gegen meine Eignung als Kümmerin sprach allerdings viel mehr: in erster Linie die Entfernung. Ich lebe große Teile des Jahres bei meinem Lebensgefährten auf der kleinen Insel La Palma, knappe 4000 Kilometer entfernt von der Tante und nur mit Flugzeug oder Schiff zu verlassen; ich befinde mich in einem Lebensabschnitt, der ein verantwortungsvolles Kümmern nahezu ausschließt; ich habe überhaupt keine Lust auf eine Aufgabe, die mir so zwingend in Moral und Ohr gelegt wird.

    Ich bin im Gegenteil empört: Wieso »ich kann nicht«? Ich kann auch nicht. Wie soll das gehen? Auch ich habe mein Leben so eingerichtet, dass ich nicht abkömmlich bin. Nicht abkömmlich sein möchte, auch das muss zählen. Auch ich habe eine Familie, die Ansprüche an mich hat, selbst wenn diese im Moment lediglich aus zwei Personen besteht. Auch ich habe jeden Tag genug zu tun, so dass ich am Abend erschöpft bin. Auch ich möchte mir nicht meinen Lebensentwurf durch Aufgaben zerstören lassen, die andere mir aufdrücken. Wieso also soll ich denn können? Ich. Kann. Auch. Nicht!

    Und ich will nicht. Ich will absolut nicht. Ich will mein Leben, das bis dahin schwierig genug war und jetzt endlich im Gleichgewicht ist, nicht erneut durcheinanderbringen. Das zu verlangen hat niemand das Recht.

    *

    Unsere Familie ist klein geworden. Aus der älteren Generation gibt es nur noch diese eine unverheiratete, kinderlose Tante. Sie lebte damals in Saarbrücken, in einer sehr schönen, über einhundert Quadratmeter großen Wohnung im achten Stock eines Hochhauses. Das Hochhaus befindet sich in einem Anfang der Sechzigerjahre neu konzipierten Stadtteil, und die Tante war, zusammen mit ihrer Mutter – unserer Großmutter – Ersteigentümerin dieser Wohnung. Von daher galt sie als eine Art Urgestein, fast jeder kannte sie. Insbesondere aber das Hausmeisterehepaar, denn dieses wurde häufig zum Hilfeeinsatz für alles Mögliche gebeten. Und so war es die Frau des Hausmeisters, die meine Schwester telefonisch darüber informierte, dass es »schwierig« mit der Tante geworden sei.

    Natürlich wussten wir das. Auch unsere Großmutter hatte eine leichte Altersdemenz, mit der sie allerdings 95 Jahre alt wurde. Die Tante war gerade 82, hatte aber schon seit einiger Zeit begonnen, sich zu verändern. Noch komme sie zurecht, wie sie gerne betonte, doch, um ehrlich zu sein, Gedanken mache sie sich schon. Wann es denn »ernst« werde, wollte sie wenige Jahre vorher von mir wissen. Und wie sie das denn merke, dass sie nichts mehr merke. Und sie wolle unbedingt, dass ihr das jemand dann sage. Am besten ich, denn ich sei ja »vom Fach«.

    Das war ein wirklich ernstes Gespräch über ihre Sorgen, das wir da führten, und es gelang mir, ihr eine für sie gut zu akzeptierende Strategie nahezulegen: Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Geburtstagsdaten ihrer zwei Nichten, des Neffen und der drei Großneffen im Kopf. Zuverlässig kamen Glückwünsche, Geschenke und Anrufe. »Und wenn du diese Daten oder auch nur eins davon nicht mehr weißt, dann musst du Bescheid sagen.« Sie war ungeheuer erleichtert nach diesem Gespräch, endlich hatte sie etwas, woran sie ihre geistige Frische festmachen konnte. Und tatsächlich vergaß sie mindestens zwei Jahre lang keinen einzigen Geburtstag, doch mir war klar, kaum war sie zuhause, hatte sie alle Geburtstage der Reihe nach aufgeschrieben und las diese dann vom Kalender ab.

    Auch ihre kleinen und größeren Reisen wurden schwierig. Einmal war sie mit ihrer Reisegruppe in den arabischen Emiraten zu einer Rundreise unterwegs und hatte bei der Abreise aus einem der Sultanate vergessen, ihren Pass bei der Hotel-Rezeption abzuholen. Daraufhin musste die gesamte Gruppe, vereint in einem Überlandbus, vor der nächsten Grenze wieder zurückfahren, denn erst dort bemerkte die Tante das Fehlen des Dokuments. Dies zu erleben war ihr absolut peinlich, so schrecklich, dass sie danach nie wieder eine größere Reise unternahm. Sie empfand sich für die Mitreisenden als Störfaktor und wollte auf keinen Fall den Anderen zur Last fallen. Und sich selbst, die sie niemals ein Nicht-Wissen, ein Nicht-auf-der-Höhe-Sein zugeben konnte, wollte sie weitere Demütigungen dieser Art ersparen.

    Die kurzen Fahrten zu meiner Schwester, früher selbstverständlich mit dem Auto zurückgelegt, machte sie jetzt mit dem Zug, immer unter dem Vorwand, es könne ja plötzlich einen Wetterwechsel geben. Längere bzw. weitere Ausflüge innerhalb Deutschlands unternahm sie dann mit mir oder meinem Bruder. Sich an uns zu hängen war ihr ein Muss, alleine bekam sie es nicht mehr hin. Uns kam sie damals schon sehr unselbständig, fast abhängig von unserer Führung vor. Wir amüsierten uns darüber. Wie sie mit fast kindlicher Freude und Dankbarkeit Vorschläge jedweder Art annahm. Wie geschickt sie kleine Defizite kompensierte. Wie sie offensichtliche Fehlleistungen einfach wegwischte. Wie sie niemals ein Nicht-Verstehen zugab. Wie sie darauf beharrte, dass ihr dieses und jenes »einleuchte«. Und wie ihre angeborene Ungeschicklichkeit sich zu unfreiwilligem Slapstick wandelte.

    Noch etwas Anderes war neu: Sie wurde anstrengend. In zweierlei Hinsicht. Weil sie erstens nichts mehr verstand, aber auf ein Verstehen beharrte, was seinen Höhepunkt in der Anschaffung eines wahnsinnsteuren Notebooks fand, den sie, die immer nur auf ihrer alten Schreibmaschine geschrieben hatte, mittels »der Gebrauchsanleitung« bedienen lernen wollte. Und weil sie zweitens, war sie zu Besuch, einfach da saß und auf ein möglichst lückenloses Entertainment wartete. Zu keiner Eigeninitiative mehr fähig war. Kein Zeitunglesen mehr, kein Gespräch mehr, alles musste von mir kommen, und das am liebsten ohne Pause. Sie saß einfach da, mitten in meinem normalen All- und Arbeitstag, und fragte: »Was machen wir jetzt?« Und dann musste etwas kommen. Ausruhen galt nicht, sie war nicht müde. Nie wurde sie müde, auch abends nicht. Und Fernsehen war nur schön, wenn etwas vom Saarländischen Rundfunk oder über ihre Heimatstadt Saarbrücken kam.

    In dieser Zeit lud ich die Tante nicht mehr ein. Sie verbrauchte meine ganze Energie, meine ganze Kraft, meine ganze Zeit. Ab und zu besuchte ich sie für einen halben Tag in Saarbrücken, doch diese Besuche überforderten umgekehrt sie. Darüber, wie es weitergehen sollte mit ihr, mochte ich nicht nachdenken. Hielt es auch für nicht erforderlich, denn sie hatte sich schon viele Jahre vorher im nahegelegenen Altenwohnstift zum Stiftswohnen, ähnlich dem betreuten Wohnen, angemeldet. Und uns allen immer wieder versichert, dass sie da auch hingehe. Wenn es denn nicht mehr gehe.

    *

    Nun also, im Januar 2006, sollte es so weit sein. Es geht nicht mehr, das Altenwohnstift ist dran. Und »einer« soll, nein, muss das initiieren. Ich, wie meine Schwester meint.

    Ein Telefonat mit der Tante führt erwartungsgemäß zu nichts. Wir telefonieren regelmäßig miteinander und das, was sie mir heute erzählt, unterscheidet sich inhaltlich kaum von dem von letzter Woche. Nichts deutet auf schwere Defizite hin. Im Gegenteil, sie sagt, sie esse regelmäßig zu Mittag (sie kann überhaupt nicht kochen, sich noch nicht einmal ein Spiegelei zubereiten), sie steige zweimal täglich zu Fuß alle acht Stockwerke runter, um zuerst die Zeitung und später die Post zu holen, sie gehe einkaufen und, ganz wichtig »unter die Leute«, alles gut und alles wie immer.

    Dennoch, trotz aller Versicherungen, will ich wenigstens nachsehen, das bin ich der Tante schuldig. Mir ein eigenes Bild machen, dass bin ich mir selber als »Fachfrau« schuldig, und so buche ich ein Ticket und fliege nach Frankfurt. Spätabends komme ich an, übernachte so gut es geht auf einer Bank im Flughafengebäude und nehme den ersten Zug nach Saarbrücken. Es ist Januar, es weht ein schneidender Wind, winzige, gefrorene Schneeflocken treiben in der Luft. Ich mag Saarbrücken nicht, die in meinen Augen nichtssagendste Stadt des Universums, und ausgerechnet dort muss ich jetzt bei diesem Wetter umherirren. Mein Vorteil ist: Ich weiß, was zu tun ist. Mein Buchprojekt, der Ratgeber zu allen Lagen der Demenzerkrankung, hat mich selber schlau gemacht und mich dahin geführt, wo ich auf Anhieb richtig bin: Zum Bürgerbüro, zu dem ich mich, direkt vom Bahnhof kommend, allerdings durchfragen muss. Beim Buchstaben »S« hatte ich mich bereits per E-Mail angemeldet und werde erwartet. Alles geht sehr schnell. Ich gebe hochoffiziell zur Kenntnis, dass die Bürgerin des Stadtteils X, Doris S., hilfebedürftig ist. Und damit bin ich – meine Erleichterung ist unermesslich – die Verantwortung zunächst einmal los.

    Mit dem Bus fahre ich durch das Schneetreiben zur Wohnung der Tante, die, mich schon freudig erwartend, in der Tür steht. Alles ist wie immer, außer, dass sie sichtlich dünner geworden ist. Nein, nein, krank sei sie nicht, essen tue sie auch reichlich, ganz bestimmt, doch als ich mir unter dem Vorwand des Interesses ihre Essensvorräte zeigen lasse, sehe ich sehr schnell, warum sie so abgenommen hat: Im Schrank häufen sich eingeschweißte Fertiggerichte übereinander, die man in heißes Wasser legen muss und danach hat man Gulasch mit Nudeln oder Hühnchen mit Reis mit ca. 387 Kilokalorien pro Mahlzeit. Eine ganze Portion ist ihr allerdings viel zu viel und eine reicht mindestens zweimal. Wenn sie überhaupt daran denkt. Sie weiß, dass, wenn es dunkel wird, Zeit zum Abendessen ist. Aber Zeit zum Mittagessen? Das vergisst sie, vermute ich. Genauso wie die Dinge, die im Kühlschrank vor sich hin dümpeln. Angeschimmelter Käse, vergammelte Wurst. Brot? Keins da. Was also isst sie wirklich? Und natürlich fährt sie mit dem Fahrstuhl und geht nicht zu Fuß die Post holen, und selbstverständlich beantwortet sie keine Briefe mehr und logisch vergisst sie Rechnungen zu bezahlen. Stapel von Papieren liegen in vielen ordentlichen kleinen Türmchen in ihrem Zimmer herum. Auf dem Sofa, dem Fußboden, dem Arbeitstisch, einfach überall, weil: die sortiert sie gerade. Und Wäsche wäscht sie von Hand, jedoch, sie hat ja so feine Seidenwäsche, die muss im Grunde gar nicht gewaschen werden, und Pullover und Hosen, na, die gibt sie in die Reinigung. Die Reinigung ist umgezogen, das weiß ich noch vom letzten Mal, aber die Tante weiß das nicht mehr, und genauso riechen die Kleidungsstücke auch. Die Hausmeisterin hat, aus ihrer Sicht, recht: Es ist »schwierig« geworden mit der Tante. Anders gesagt: Die Welt ist schwierig geworden für die Tante. Einer muss sich kümmern.

    *

    Auf dem Rückweg zum Bahnhof gehe ich nochmals im Bürgerbüro vorbei. Die Sozialarbeiterin ist erfahren in solcher Art Problemen und hat einen Plan: Sie will jetzt jede Woche bei der Tante vorbeischauen, sie regelmäßig besuchen, sich mit ihr vertraut machen. Und ihr dabei in einfühlsamen Gesprächen den Umzug ins Altenwohnstift ans Herz legen.

    Es wird nicht funktionieren. Ich kenne meine Tante. Auch meine diesbezüglichen Anregungen hat sie brüsk in den Wind geschlagen. Sie wird jede Woche aufs Neue behaupten, sie habe alles im Griff. Sie wird jede Woche die Notwendigkeit des betreuten Wohnens weit von sich weisen. Und sie wird mir und allen anderen gegenüber mit aller Selbstverständlichkeit behaupten, dass sie sicher umziehen werde, wenn »es nicht mehr geht«.

    Dennoch fühle ich mich entlastet. Zwar bleibt meine Skepsis, doch überwiegt das Gefühl, eine schwierige Mission erfolgreich hinter mich gebracht zu haben. Zumindest bin ich jetzt die Verantwortung los,

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