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Das Buch des Phönix
Das Buch des Phönix
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Das Buch des Phönix

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About this ebook

Man hat sie vieles genannt – ein Forschungsobjekt, ein Ding, eine Abscheulichkeit.

Sie selbst nennt sich Phoenix und ist ein genetisches Experiment. Mit nicht mehr als zwei Lebensjahren
verfügt Phoenix über den Körper und den Verstand einer Erwachsenen – und über Kräfte jenseits aller Vorstellungskraft. Eines Tages jedoch beschließt sie, nach Antworten zu suchen und bricht aus dem mysteriösen Turm 7, ihrem Zuhause, aus, um zu erkennen, dass dieser keine Zuflucht war, sondern ein Gefängnis.
LanguageDeutsch
PublisherCross Cult
Release dateOct 4, 2017
ISBN9783959814942
Das Buch des Phönix
Author

Nnedi Okorafor

NNEDI OKORAFOR, born to Igbo Nigerian parents in Cincinnati, Ohio on April 8, 1974, is an author of fantasy and science fiction for both adults and younger readers. Her Tor.com novella Binti won the 2015 Hugo and Nebula Awards; her children's book Long Juju Man won the 2007-08 Macmillan Writer's Prize for Africa; and her adult novel Who Fears Death was a Tiptree Honor Book. She is an associate professor of creative writing and literature at the University at Buffalo.

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    Das Buch des Phönix - Nnedi Okorafor

    …«

    Kapitel 1

    EXEMPLAR

    Ich kannte keinen anderen Ort. Der 28. Stock von Turm 7 war mein Zuhause. Gestern erkannte ich, dass er auch mein Gefängnis war. Das hätte ich eigentlich ahnen sollen. Der zweihundert Jahre alte Marmor-Wolkenkratzer hatte viele dunkle Seiten, und ich kannte die meisten. Es gab neununddreißig Stockwerke, und auf fast jedem lebte eine Abscheulichkeit. Ich war eine Abscheulichkeit. Ich hatte viele Bücher gelesen und das war mir klar. Trotzdem war dieses Gebäude immer noch mein Zuhause.

    Zuhause, ein. Der Ort, an dem man wohnt. Ja, das war mein Zuhause.

    Sie gaben mir so viele 3-D-Filme, wie ich sehen wollte, aber mich interessierten die unzähligen Bücher mehr. Ein Jahr zuvor hatten sie mir ein E-Lesegerät gegeben, das mit siebenhunderttausend Büchern aus allen möglichen Themenbereichen vollgestopft war. Egal um welches Thema es sich handelte, ich verschlang die Bücher und hatte mittlerweile schon über die Hälfte gelesen. Sie gewährten mir Zugang zu all den Informationen, um die ich bat. Das gehörte zu ihrer Forschung. Damals wusste ich das nicht, heute schon.

    Forschung. Darum ging es in den Türmen. Es gab insgesamt sieben und sie standen in amerikanischen Städten, aber sie gehörten nicht zur amerikanischen Regierung. Jedenfalls nicht theoretisch. In keiner der Dateien, die ich durcharbeitete, stieß ich auch nur auf eine Verbindung zur Regierung.

    Ich konnte auch auf Informationen über die Türme zugreifen, und das tat ich ausgiebig. Aber da Turm 7 mein Zuhause war, beschäftigte ich mich mit diesem Turm am eingehendsten. Sie gaben mir viele »streng geheime« Dateien über Turm 7. Wie ich schon sagte, bekam ich alles, worum ich bat; das gehörte zu ihrer Forschung. Außerdem sahen sie in mir keine Bedrohung, nicht für sie. Ich war ein perfekt gesichertes und klassifiziertes »Exemplar«. Und für ein Exemplar stellte Wissen keine Macht dar.

    Turm 7 stand auf dem Times Square auf der Insel Manhattan, Vereinigte Staaten von Amerika. Ein Großteil von Manhattan befand sich unter Wasser, aber die Geologen waren sich sicher, dass dieser Teil stabil genug für Turm 7 war. Seine Lage war für Überwachung und Sicherung perfekt geeignet. Ich hatte mich über jedes Stockwerk und über einige der Abscheulichkeiten, die man in ihnen fand, informiert. Ich hatte mir die Audioaufnahmen spiritueller Geschichten längst verstorbener afrikanischer und indianischer Schamanen, Zauberer und Hexenmeister angehört. Ich hatte den Tanakh, die Bibel und den Koran gelesen. Ich hatte den Buddha studiert und meditiert, bis ich Krishna gesehen hatte. Und ich hatte zahllose Bücher über die Wissenschaften der Welt gelesen. All das trug ich in meinem Kopf herum, und so verstand ich Abscheulichkeit. Ich verstand den Sinn von Turm 7. Bis gestern.

    Jeder Turm hatte … Spezialisierungen. In Turm 7 beschäftigte man sich mit fortgeschrittener und aggressiver genetischer Manipulation und Klonen. In Turm 7 wurden Menschen und Kreaturen erfunden, modifiziert oder beides. Einige waren deformiert, einige waren geisteskrank, einige waren einfach nur gefährlich, und keine war fehlerlos. Ja, einige von uns waren gefährlich. Ich war gefährlich.

    Die Lobby im Erdgeschoss des Turms vermittelte jedoch ein völlig anderes Bild. Ich war nie da unten gewesen, aber in meinen Büchern wurde ein erdiges Wunderland voller rankenbedeckter Wände und kleiner Bäume beschrieben, die aus kunstvoll geschaffenen Löchern im Boden wuchsen. In der Mitte der Lobby stand die Hauptattraktion. Hier wuchs etwas, das Leute aus der ganzen Welt zur berühmten Lobby von Turm 7 lockte (nur zur Lobby; den Rest des Gebäudes konnte man nicht besichtigen).

    Vor hundert Jahren hatte einer der Gärtner einen neuen Baum in der Mitte der Lobby gepflanzt. Aus einer Laune heraus hatten Wissenschaftler aus Turm 4, die ein Gewächshaus im neunten Stock besichtigen sollten, eine experimentelle Flüssigkeit in das Erdreich des Baumes geschüttet. Diese Substanz sollte das Wachstum von Pflanzen beschleunigen und fördern. Der Baum wuchs immer höher. An einem Ort, an dem die Leute wie normale Menschen dachten, hätte man diesen fantastischen Baum nach draußen versetzt.

    Doch dies war Turm 7, wo Grenzen auf der einen Seite eingehalten und auf der anderen überschritten wurden. Der Baum wuchs wie wild und nach nur wenigen Wochen hatte er die hohe Decke der Lobby erreicht. Die Handwerker von Turm 7 bohrten ein großes Loch, damit er in den zweiten Stock hineinwachsen konnte. Das Gleiche taten sie im dritten, vierten, fünften. Schließlich taufte man den gewaltigen Baum »das Rückgrat«, weil er sich durch alle neununddreißig Stockwerke von Turm 7 erstreckte.

    Ich heiße Phönix. Ich wurde hier im 28. Stock zusammengemischt, großgezogen und schließlich geboren. Einer meiner Ärzte sagte, ich sei nach dem Geburtsort meiner Eispenderin benannt worden. Ich habe das nachgesehen; ich fand einen Ort namens Phoenix, Arizona. Dort gibt es keinen Turm, was gut ist.

    Doch nach allem, was ich über die Vorgehensweisen dort gelesen habe, kannten selbst die Wissenschaftler, die meine Existenz erzwangen, keine Spendernamen. Deshalb zweifle ich daran. Ich glaube, dass sie mich aus einem anderen Grund Phönix genannt haben.

    Ich war ein »beschleunigter Organismus« und wurde vor zwei Jahren geboren. Doch ich sah aus und fühlte mich wie eine vierzigjährige Frau. Meine Ärzte sagten, die Beschleunigung sei nun, da ich »gereift« war, gestoppt worden. Sie sagten, ich würde immer wie vierzig aussehen, selbst wenn ich fünfhundert Jahre alt werden sollte. Für sie war ich eine Pflanze, die sie gezüchtet hatten, damit sie geerntet werden konnte.

    Du musst dich fragen, wen ich mit »sie« meine. Sie alle, das »Großauge« – Wissenschaftler, Laborassistenten, Labortechniker, Ärzte, Sachbearbeiter, Wachen und Polizisten von Turm 7. Wir Exemplare im Turm nannten sie »Großauge«, weil sie uns beobachteten. Sie beobachteten uns ständig, allerdings nicht so aufmerksam, dass sie ihren großen Fehler bemerkt und das Unvermeidliche hätten verhindern können.

    Ich las ein fünfhundert Seiten langes Buch in zwei Minuten. Mein Gehirn saugte die Informationen und Geschichten auf wie ein Schwamm. Bis vor zwei Wochen hatte ich meine Zeit, abgesehen von den Mahlzeiten, dem Betrachten der Landschaft durch das Fenster, dem Training auf meinem Laufband und den Terminen bei Ärzten, ausschließlich mit dem E-Lesegerät verbracht. Ich hatte stundenlang in meinem Zimmer gesessen und Wörter konsumiert, die in meinem Kopf zu Bildern wurden. Nun gaben sie mir Bücher aus Papier und entfernten sie, wenn ich fertig war. Ich mochte das E-Lesegerät lieber. Es nahm weniger Platz weg. Ich konnte Bücher noch einmal lesen, wenn ich das wollte, es gab mehr zu lesen, und die E-Seiten rochen nicht so alt und faulig. Ich starrte aus dem Fenster, betrachtete die Autos und Lastwagen unter mir und die anderen Wolkenkratzer um mich herum, während ich ein Blatt meiner Hoya-Pflanze berührte. Sie hatten mir die Pflanze fünf Tage zuvor gegeben, und sie wuchs so schnell, dass sie bereits über mein Fensterbrett gekrochen war und sich um den Stuhl, der dort stand, gewickelt hatte. Allein in der letzten Nacht war sie fünfzig Zentimeter gewachsen. Ich glaubte nicht, dass ihnen das auffiel. Niemand sagte je etwas darüber. Ich war damals so naiv. Natürlich war es ihnen aufgefallen. Die Pflanze war keine nett gemeinte Geste, sondern Teil ihrer Forschung. Ich hatte ihnen nie etwas bedeutet. Aber Saeed bedeutete ich etwas.

    Saeed ist tot, Saeed ist tot, Saeed ist tot, dachte ich immer und immer wieder, während ich die Blätter meiner Pflanze streichelte. Ich zuckte zusammen und riss dabei ein Blatt ab. Saeed, mein Geliebter, mein einziger Freund. Ich zerknüllte das Blatt in meiner ruhelosen Hand; der grüne, erdige Geruch, der von ihm ausging, hätte auch Blut sein können. Gestern hatte Saeed etwas Schreckliches gesehen. Etwas später hatte er beim Abendessen mir gegenübergesessen, die Augen so groß wie gekochte Eier. Er hatte nichts essen können. Er verriet mir keine Details. Er sagte, mit Worten ließe sich das nicht beschreiben. Er hatte nur meine Hand gehalten und mit der anderen an seinem kurzen, dunkelbraunen Bart gezogen.

    »Was verrät dein Herz dir über diesen Ort?«, hatte er ernst gefragt.

    Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt, weil es mich frustrierte, dass er mir von dem Schrecklichen, das er gesehen hatte, nicht erzählen wollte.

    »Behiima hamagi. Xara«, murmelte er und starrte einen der Großaugen an. Er sprach immer Arabisch, wenn er wütend war. Er beugte sich vor und redete leiser weiter. »Du hast all diese Bücher gelesen … Warum sehnt sich dein Herz nicht nach Rebellion? Träumst du denn nie davon, diesen Ort zu verlassen? Den ganzen Großaugen zu entkommen?«

    »Rebellion gegen wen?«, flüsterte ich verwirrt.

    »Ich würde mich sogar darauf einlassen, ein sanftes Exemplar zu sein«, murmelte er. »Die sind zwar kaputt, aber nicht so kaputt. Und Großauge lässt sie draußen ein normales Leben führen, so wie normale Leute.«

    »Sanfte Exemplare sind nichts Besonderes«, sagte ich. »Deshalb lässt Großauge sie raus. Ich würde so nicht sein wollen. Ich mag mich, wie ich bin.«

    Er lachte verbittert, berührte meine Wange, küsste mich flüchtig und sah mir tief in die Augen. Dann lehnte er sich zurück und sagte: »Iss deinen Joloffreis, Phönix.«

    Ich versuchte, ihn dazu zu bringen, sein zermalmtes Glas zu essen. Das war sein Lieblingsgericht, und es beunruhigte mich, dass er den Teller einfach so wegschob. Aber er wollte es nicht anrühren.

    Bevor wir in unsere separaten Quartiere zurückkehrten, bat er mich um meinen Apfel. Ich nahm an, dass er ihn malen wollte; wenn er deprimiert war, malte er. Ich gab ihm den Apfel, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, und er steckte ihn in seine Tasche. Großauge erlaubte das, obwohl sie es nicht gern sahen, wenn man Lebensmittel aus dem Speisesaal mitnahm, selbst wenn man sie nicht essen wollte.

    Seine Worte berührten mich erst in der Nacht, als ich im Bett lag. Ja, irgendwo tief in meiner Psyche wollte ich den Turm verlassen und die Welt jenseits von Großauge kennenlernen. Ich wollte die Dinge sehen, über die ich in all den Büchern gelesen hatte. »Rebellion«, flüsterte ich leise. Das Wort erblühte auf meinen Lippen wie eine Blume.

    Sie teilten mir die Neuigkeit am nächsten Morgen während des Frühstücks mit. Ich saß allein am Tisch und sah mich nach Saeed um. Die anderen sprachen zwar miteinander, aber nie mit mir – die Frau mit der verdrehten Wirbelsäule, die ihren Kopf wie eine Eule drehen konnte, der Mann mit den langwimprigen, ausdrucksvollen Augen, der nie mit seinem Mund sprach, mit dem aber ständig Leute redeten, die drei Frauen, die gleich aussahen und gleich klangen, der grünäugige Pavian, der eine komplexe Zeichensprache zur Kommunikation benutzte, die Frau, deren Pullover die vier großen Brüste nicht verbergen konnte, die beiden Männer, die an der Hüfte miteinander verwachsen waren und gelegentlich einfach so lachten, die Frau mit den Klauen und Zähnen eines Löwen. Nur Saeed, derjenige, der nicht afrikanischer Abstammung war (abgesehen von der Löwenfrau, die hellhäutig war), redete mit mir. Und eigentlich war sogar die Löwenfrau zum Teil Afrikanerin, weil man ihre Gene mit denen eines Löwen vermischt hatte.

    Eine meiner Ärztinnen setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Sie hieß Bumi, sah afrikanisch aus und trug eine glänzende schwarze Perücke, die aus Kunsthaar bestand. Sie wurde immer zu mir geschickt, wenn ich körperliche Schmerzen erleiden musste, also ergab es Sinn, dass man sie auch schickte, um mir eine schlimme Nachricht zu überbringen. Mein Körper verkrampfte sich. Sie berührte meine Hand, und ich zog sie weg. Sie lächelte mitfühlend und sagte mir etwas Schreckliches. Saeed hatte den Apfel nicht gemalt. Er hatte ihn gegessen. Und das hatte ihn umgebracht. Meine Gedanken wandten sich einem der Bücher zu, die ich gelesen hatte. Der Bibel. Ich war Eva und er war Adam.

    Ich konnte nichts essen. Ich konnte nichts trinken. Ich würde nicht weinen. Nicht im Speisesaal.

    Stunden später lag ich mit feuchten Augen und rasenden Gedanken im Bett. Saeed war tot. Ich hatte das Mittag- und das Abendessen ausgelassen, war aber immer noch nicht hungrig. Mir war heiß. Der Scanner an der Wand würde bald piepen. Dann würden sie mich holen. Weitere Tests. Ich schloss die Augen und quetschte Tränen heraus. Sie verdampften, als sie über meine heißen Wangen liefen. Das Salz, das sie hinterließen, juckte auf meiner Haut. »Oh Gott«, stöhnte ich. Die Trauer um ihn brannte in meiner Brust. »Saeed. Was hast du gesehen?«

    Saeed war ein Mensch. Er war mehr Mensch als ich. Ich lernte ihn kennen, als sie mich zum ersten Mal mit den anderen im Speisesaal essen ließen. Ich war ein Jahr alt; ich sah aus wie zwanzig. Er saß allein am Tisch und wollte gerade etwas Verrücktes tun. Es gab viele andere im Saal, die meinen Blick auf sich zogen. Die siamesischen Zwillinge lachten bei meinem Anblick laut. Der Pavian sprang auf und ab und redete aufgeregt mit seiner Zeichensprache auf die Frau mit den Löwenklauen und Löwenzähnen ein. Doch Saeed hielt einen Löffel in der Hand und betrachtete eine Schüssel mit Glassplittern, die vor ihm stand. Ich starrte ihn an, so wie die anderen mich anstarrten. Er holte einen Löffel voll Splitter aus der Schüssel und schob ihn sich in den Mund. Ich hörte es knirschen. Er lächelte gedankenverloren, so als schmecke ihm das Glas.

    Aus reiner Neugier ging ich zu ihm und blieb ihm gegenüber mit meiner Portion scharfen Doro Wats stehen. Er sah mich misstrauisch an, wirkte aber weder wütend noch gemein, soweit ich das mit meinem eingeschränkten Wissen über Sozialverhalten beurteilen konnte. Ich beugte mich vor und fragte, was mich beschäftigte: »Wie fühlt es sich an, das zu essen?«

    Er blinzelte überrascht. »›Wie‹, fragt sie. Nicht ›Warum‹.« Er grinste. Er hatte perfekte Zähne – weiß, leuchtend und so geformt wie die Zähne in Gemälden oder den bearbeiteten Bildern in Zeitschriften. Hatten sie seine natürlichen Zähne entfernt und durch welche aus härterem Material ersetzt? »Der Geschmack ist angenehm weich und dezent, die Textur knusprig. Ich empfinde keinen Schmerz, nur Vergnügen«, sagte er mit einem Akzent, den ich noch nie gehört hatte. Aber ich kannte bisher auch nur die Akzente der Großaugenärzte und -wachen.

    »Erzähl mir mehr«, sagte ich. »Mir gefällt deine Stimme.«

    Er sah mich sehr lange an, dann lächelte er und sagte: »Setz dich.«

    Danach kamen wir uns nahe. Ich liebte Worte und er spürte den Drang, sie auszusprechen. Er konnte nicht lesen, also erzählte ich ihm während der Mahlzeiten von den Büchern, die ich las. Manchmal knurrte er genervt, wenn ich gerade Liebesromane las oder solche, die er als »Frauengeschichten« bezeichnete. Doch so sehr missfielen sie ihm wohl nicht, denn er wollte auch diese Geschichten von Anfang bis Ende hören. »Mir gefällt der Klang deiner Stimme«, sagte er, als ich ihn nach dem Grund fragte. Vielleicht stimmte das, aber ich glaube, dass er die Geschichten auch mochte.

    Saeed stammte aus Kairo, Ägypten. Er war ein Waisenjunge, hatte aber nie gehungert, weil er immer etwas zu essen gefunden hatte. Er aß verdorbenen Reis, Dattelkerne, sogar die Holzspieße der Kebabs. Er hatte den Magen einer Ziege. Sie hatten ihn vor sechs Jahren, als er dreizehn gewesen war, zum Turm gebracht. Er verriet mir nicht, wie oder warum sie ihn zu dem gemacht hatten, was er nun war. Das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, wer wir waren und wo wir waren.

    Saeed erzählte mir von Orten, die ich nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Er benutzte die Worte eines Dichters, der mit der Zunge sah. Saeed hatte auch die Hände eines Künstlers. Er war so begabt wie die berühmten Maler, über die ich in meinen Büchern gelesen hatte. Am liebsten malte er die Lebensmittel, die er nicht mehr essen konnte. Lebensmittel für Menschen. Bilder mit Brotlaiben. Schüsseln voll mit dicker Egusi-Suppe und Fufu-Bällchen. Sträuße aus geräucherten Lamm- und Rind-Kebabs. Spiegeleier mit Zwiebeln und weißem Käse. Teller voller Kichererbsen. Karaffen mit frisch gepresstem Orangensaft. Aufeinandergestapelte gegrillte Maiskolben. Sie erlaubten ihm, seine Gemälde zu den Mahlzeiten mitzubringen, damit alle sie sehen konnten. Anscheinend hatten sogar wir das Recht, Kunst zu genießen.

    Saeed konnte sich von Glas, Metallspänen, Rost und Sand ernähren, Dingen, die übrig bleiben würden, wenn sich die Menschheit endlich in die Luft gesprengt hatte. Sie schmeckten ihm sehr gut. Doch ein Stück Brot würde ihn ebenso umbringen wie eine Schüssel scharfer Glassplitter einen gewöhnlichen Menschen.

    Wir küssten uns während eines Abendessens zum ersten Mal. Ich hatte gerade meine Mahlzeit – gebratenen Curryreis mit Hühnchen – gegessen und spekulierte darüber, dass grüner Rost wahrscheinlich anders schmeckte als normaler. »Wahrscheinlich schmeckt er dir besser, weil er komplexer aufgebaut und variabler ist.« Wir saßen dicht nebeneinander. Das hatten wir uns angewöhnt, seit uns aufgefallen war, dass meine natürliche Körpertemperatur warm und seine kühl war. Er trank einen großen Schluck Wasser aus seinem vollen Glas, wandte sich mir zu, nahm mein Kinn in die Hände und küsste mich. Die Gedanken an Eisenoxid und Korrosion verschwanden aus meinem Kopf. Ersetzt wurden sie von Verblüffung und der sanften Kühle seiner Lippen.

    »Kein affektiertes Benehmen«, bellte einer der Großaugen, der in der Nähe stand. Wir trennten uns sofort voneinander, aber gegen das breite Lächeln auf meinem Gesicht konnte ich nichts tun. Ich hatte viele Geschichten gesehen und gelesen, in denen Menschen sich küssten, aber ich hatte mir das völlig anders vorgestellt. Und ich hatte nicht damit gerechnet, jemals geküsst zu werden. Saeed ergriff unter dem Tisch meine Hand, und mein Lächeln wurde noch breiter. Ich hörte ihn leise kichern. Ich kicherte auch. Alle im Speisesaal starrten uns an. Ich erinnere mich vor allem an die Idiok-Paviane, die auf Saeed und mich zeigten und dann aufgeregt in Zeichensprache miteinander redeten. »Die sind nur neidisch«, flüsterte Saeed und drückte meine Hand. Ich grinste. Mein Bauch war voller Schmetterlinge und meine Lippen fühlten sich heiß an. Ich tat das zwar nur innerlich, aber zum ersten Mal in meinem Leben lachte ich Großauge aus.

    Nun musste ich ständig an das denken, was passiert war. Er hat meinen Apfel genommen und ihn gegessen. Er hat meinen Apfel genommen und ihn gegessen. Er hat meinen Apfel genommen und ihn gegessen. Großauge erklärte, daraufhin sei es in seinem Magen und in seinen Eingeweiden zu Blutungen gekommen und Saeed sei noch vor Tagesanbruch gestorben. Am meisten bedrückte mich, dass ich ihm nicht mehr hatte erzählen können, was mit mir geschah. Ich war mir sicher, dass ihm das Hoffnung gegeben hätte; es hätte ihn daran erinnert, dass sich Dinge ändern würden. Ich wischte mir eine Träne ab. Ich liebte Saeed.

    Als mich zum ersten Mal in meinem Leben Trauer übermannte, legte ich die Hand auf das dicke Glas meines Fensters und betrachtete sehnsüchtig das grüne Dach des wesentlich kleineren Gebäudes direkt neben Turm 7; einer der Bäume, die dort wuchsen, war voller roter Blüten. Ich war noch nie draußen gewesen. Ich wollte hinaus. Saeed war durch den Tod entkommen. Ich wollte auch entkommen. Wenn er hier nicht glücklich gewesen war, dann war ich auch nicht glücklich. Ich wischte mir heißen Schweiß von den Augenbrauen. Der Scanner in meinem Zimmer piepte, als meine Körpertemperatur sprunghaft anstieg. Die Ärzte würden bald hier sein.

    Als es vor zwei Wochen anfing, bemerkte nur ich es. Meine Haare fielen aus. Ich bin genetisch gesehen eine Afrikanerin. Ich hatte die Gesichtsmerkmale, meine Haut war sehr dunkel und meine Haare stark gelockt. Sie rasierten mir die Haare sehr kurz, denn weder sie noch ich wussten, was man mit ihnen machen sollte, wenn sie länger wurden. In meinen Büchern fand ich auch keinen Hinweis darauf. In Turm 7 interessierte man sich nicht für Stil, obwohl die Löwendame weiter unten im Gang sehr langes und seidiges weißes Haar hatte und die Laborassistenten von Großauge alle zwei Tage vorbeikamen, um ihr beim Kämmen und Flechten zu helfen. Und sie taten das trotz ihrer Löwenklauen und Löwenzähne.

    Ich saß auf dem Bett und starrte aus dem Fenster, als mir auf einmal sehr heiß wurde. Seit ein paar Tagen war meine Haut trocken und schuppig, obwohl sie mir superhydriertes Wasser zu trinken gaben. Doktor Bumi gab mir ein großes Glas Sheabutter, was meiner Haut sehr guttat. Doch an diesem heißen und fiebrigen Tag trocknete meine Haut so schnell aus, als sei ich in der Wüste.

    Ich fühlte Schweiß auf dem Kopf, und als ich über mein kurzes, kurzes Haar rieb, löste es sich zusammen mit dem Schweiß. Ich lief in mein Badezimmer, duschte rasch, wusch mir ausgiebig den Kopf, trocknete mich ab und stellte mich vor den großen Spiegel. Ich hatte auch die Augenbrauen verloren. Doch das war nicht das Schlimmste. Ich rieb meine Haut mit Sheabutter ein, damit ich etwas zu tun hatte. Hätte ich mich nicht bewegt, wäre ich vor lauter Panik in Tränen ausgebrochen.

    Ich weiß nicht, warum es in meinem Badezimmer einen so großen Spiegel gab. Er war hoch und rund und erstreckte sich über die ganze Wand. Daher konnte ich mich in meiner ganzen Pracht ansehen. Als ich die dicke, gelbe, nach Nüssen riechende Creme auf meiner trockenen Haut verteilte, kam es mir so vor, als trüge ich eine Sonne tief im Inneren meines Körpers, eine Sonne, die herauskommen wollte. Unter meinem dunkelbraunen Fleisch leuchtete ich. Ich war Licht.

    Ich pulsierte und fühlte eine Welle aus Hitze und leichten Vibrationen in mir. »Was ist das?«, flüsterte ich, während ich zu meinem Bett hastete, auf dem mein E-Lesegerät lag. Ich wollte das Phänomen nachschlagen. Obwohl ich so viel gelesen hatte, war ich noch nie auf etwas über Menschen gestoßen, beschleunigt oder normal, die sich erhitzten und wie das Hinterteil eines Glühwürmchens leuchteten. Als ich das E-Lesegerät in die Hand nahm, piepte es leise. Dann wurde der Bildschirm schwarz. Rauch stieg aus ihm auf. Ich warf es auf den Boden und der Bildschirm zerbarst, während er langsam verbrannte. Der Rauchmelder in meinem Zimmer schaltete sich ein.

    Psss! Das Zischen war leise und wurde von einem Schmerz in meinem linken Daumennagel begleitet. Es fühlte sich an, als hätte jemand eine Nadel hineingesteckt. »Ah!«, schrie ich und drückte instinktiv auf meinen Daumen. Als ich die Hand vor meine Augen hielt, pulsierte ich erneut.

    In der Mitte meines Daumennagels war ein schwarzer Fleck, der wie altes Blut aussah, nur schwärzer. Verbranntes Fleisch. Jedes Exemplar, jede Kreatur, jede Schöpfung in dem Gebäude war mit einem Diagnostikchip im Fingernagel, in der Klaue, dem Tentakel oder dem Horn ausgestattet. Ich war gerade von Großauges Radar verschwunden. Ich keuchte.

    Nicht einmal zwanzig Sekunden später stürmten sie in mein Zimmer. Sie richteten ihre Pistolen und Spritzen auf mich, als sei ich eine tollwütige Bestie, die alles zerstören wollte, was sie errichtet hatten. Bumi schien vor Stress fast wahnsinnig zu werden, aber nur sie erkannte, dass sie mir nicht zu nahe kommen durfte.

    »Runter! Runter!«, schrie sie mit zitternder Stimme. Sie hielt ein Tragbares in einer Hand, die andere steckte in der Tasche ihres Laborkittels.

    Als ich nur verwirrt stehen blieb, ergriff einer der männlichen Großaugenwachen meinen Arm, wahrscheinlich, weil er mich aufs Bett werfen wollte, um mir Handschellen anzulegen. Er schrie und starrte auf seine verbrannte, noch qualmende Hand. Das Zimmer roch auf einmal nach gekochtem Fleisch. »Du gehst nirgendwo hin«, stammelte Bumi und zog eine Pistole aus ihrer Tasche. Ohne zu zögern, schoss sie mir ins rechte Bein. Es fühlte sich an, als habe mich jemand mit einem Metallfuß getreten. Ich stöhnte. Ich sank zu Boden und Schmerz hüllte mich ein wie eine zweite Schicht noch intensiverer Hitze. Ich wäre erledigt gewesen, hätte nicht jemand den anderen befohlen, nicht zu schießen.

    Zum Glück heilte die Wunde schnell und die Kugel hatte das Bein komplett durchschlagen. Bumi sagte, sie hätte mich genau aus diesem Grund dort angeschossen. Ich glaubte ihr. Wenn die Kugel in meinem Fleisch stecken geblieben wäre, weiß ich nicht, wie sich das wegen meiner extremen Körpertemperatur ausgewirkt hätte. Bumi wusste das besser als jeder andere.

    Eine Minute lang starrte ich entsetzt auf das Blut, das aus meinem Bein quoll, dann wurde ich ohnmächtig. Ich erwachte in einem Bett. Mein Körper war kühl, mein Bein verbunden. Als sie mich in mein Zimmer zurückbrachten, war dort ein Scanner, der mich von nun an überwachen sollte, da man mir kein Implantat mehr einsetzen konnte. Meine neuen Bettlaken und meine Kleidung waren schwerer und hitzebeständig. Der Teppich war verschwunden. Zum ersten Mal sah ich, dass der Boden unter dem Teppich aus stabilem weißem Marmor bestand.

    Bumi brachte mich kurz danach in eines

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