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Reinkarnation
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Reinkarnation

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Diese dritte Kurzgeschichtensammlung von Uwe Lammers zeigt euch folgende interessante phantastische Werke:
„Reinkarnation“ - Die Geschichte des nordischen Kriegers, dessen Aufstieg nach Walhall sich auf seltsame Weise verzögerte...
„Shareena und das Mädchen mit dem Zauberhaar“ - Die Geschichte von Jala und der schrecklichen Konsequenz ihrer göttlichen Liebe...
„Die Intervention“ - Die Geschichte der chinesischen Taikonauten, die auf dem Mond beinahe ihr Leben verloren und einem Gott begegneten...
„Alles Lüge!“ - Die Geschichte des Einsiedlers Barbarossa, für den die Welt nur Täuschung parat hatte...
„Ein Traum namens Frafra“ - Die Geschichte von dem Mädchen, das von den Göttern vergessen wurde... vielleicht jedenfalls.
„Philosophenalltag“ - Die Geschichte von den tierischen Philosophen, die sich Gedanken über die Zukunft der Menschheit machten...
Hinzu kommen mehrere Prosagedichte und ein Glossar zur Story „Die Intervention“, die als Teil der „Annalen der Ewigkeit“ dem Oki Stanwer Mythos (OSM) entstammt.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateApr 14, 2018
ISBN9783962464233
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    Book preview

    Reinkarnation - Uwe Lammers

    Lammers.

    Die Titelstory dieser Sammlung ist ein wenig boshaft, wie ich zugeben muss. Es ist aber definitiv nichts darin gemein zu verstehen, schon gar nicht despektierlich gegenüber all den zahllosen Menschen, die – gleich mir übrigens – an den Gedanken der Reinkarnation glauben. So, wie es sich in dieser Story abspielt, wird es mit einiger Gewissheit nicht in Wahrheit sein.

    Doch mir kam im Jahre 2002, als Futtermittelskandale und Massentötungen von kranken Tieren durch die Medien geisterten und eine gewisse Hysterie schürten, der spontane Gedanke in den Sinn, ob das alles nicht auch eine ganz andere Erklärung haben könnte… und das hier kam dabei heraus:

    Reinkarnation

    Phantastik-Story von Uwe Lammers

    (2002)

    Arne Ragnarsson wusste, dass er starb.

    Doch der Tod besaß für ihn keinen Schrecken, weil er wusste, dass ihm nun eine glorreiche Karriere im Reich der Götter und Heroen bevorstand, ein Aufstieg ins Licht, ein Kampf im Dienste Odins des Einäugigen, um die Schergen der Finsternis zu schlagen.

    Er empfand es nur als bedauerlich, dass er nun vorübergehend der fleischlichen Genüsse entsagen musste, in denen er bisher so sehr geschwelgt hatte: oh, was war es für eine Lust gewesen, an der Seite von Snorre, Ansgar, Thorvald und all seinen Altersgenossen an der niedrigen Reling des blitzgeschwinden Langbootes zu sitzen und die langen Riemen zu bewegen, bis ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde und das Boot über die Wellenkämme jagte, mit den Möwen um die Wette…!

    Was war es für ein Genuss gewesen, mit entblößtem Oberkörper, nur das Bärenfell um die Schultern tragend, über den Strand zu stürmen und mit dröhnendem Kriegsgeheul die verschüchterten Mönche in ihre steinernen Mauern zurückzutreiben, sie stolpern, fallen und flehen zu sehen, um ihr elendes Leben dann mit einem mächtigen Hieb des blutdürstigen Schwertes auszulöschen und die Seelen zu ihrem heidnischen Gott zu schicken.

    Ah, und was war es für eine Freude gewesen, den Mädchen nachzustellen und sie durchs ganze Dorf zu verfolgen, wenn sie ihn mit schwingenden Hüften und wippendem Hintern neckten und verspotteten… nachher, wenn sie dann unter Arne lagen und sich sein Schwert in ihre weichen, feuchten Tiefen drängte und seine Kraft bis in die innersten Höhlungen ihres Leibes verbreitete, dann ließ ihre Gegenwehr nach, dann klammerten sich die Frauen seufzend und wimmernd an ihn und riefen im Liebesrausch aus, dass sie ihn liebten, anbeteten…

    Oh, was hatte er diese schönen Seiten des Lebens genossen.

    Da verschwanden solche Dinge wie Krankheiten in der Kindheit, Prügeleien mit Freunden und ausgeschlagene Zähne, Verletzungen im Kampf und grimmiges Hungergefühl auf der Jagd in den Hintergrund.

    Nein, Arne Ragnarsson hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Das Leben war schön zu ihm gewesen, gerecht und Freuden spendend.

    Es war eben nur zu kurz.

    Nun lag er im Haus des Schamanen, der ein letztes Mal versuchte, die Götter anzurufen, doch Arne begriff schon jetzt, dass es sinnlos war. Er konnte nichts mehr sehen, und das lag nicht nur an dem Blut von den Kopfwunden, das ihm in die Augen gelaufen war. Es lag an den Wunden selbst.

    Sein ganzer Kopf war ein einziger Quell der Qualen, und als er endlich nicht mehr stöhnen konnte, weil seine Stimmbänder versagten, da begann Arne, noch mehr zu verlieren. Der blonde Hüne, auf den sein Vater Ragnar stolz gewesen war, der stärkste seiner fünf Söhne und am meisten herausragende Krieger der wikingischen Sippe, fühlte, wie er seine Beine verlor.

    Seine Arme.

    Alles wurde kalt, kroch millimeterweise in seinem Leib höher.

    Er spürte, wie die Kälte des Todes gleich einer gierigen Seeschlange von seinem Leib Besitz ergriff und ihn tiefer und tiefer ins Reich der Finsternis zu zerren begann. Die Welt driftete davon, und glücklicherweise schwanden auch die Qualen dahin, die die direkte Folge des Gemetzels waren. Er hatte das Ende des Kampfes nicht miterlebt, weil man ihn ohnmächtig vom Schlachtfeld weggetragen hatte. Aber ihm war klar, dass er starb.

    Arne Ragnarsson fragte sich nicht, weshalb.

    Er bedauerte nur, dass es auf diese entwürdigende Weise sein musste. Hätte es nicht ein heroischer Tod sein können? Durchbohrt vom Herzschuss des Feindes, stürzend, während sein Schwert noch einen letzten Gegner niedermähte? Musste es ein heimtückisch geschleuderter Stein sein, der seinem Dasein ein Ende setzte?

    ‚Hedda…’, galt sein letzter bewusster Gedanke seiner persönlichen, blonden nordischen Göttin, die sein Bett geteilt hatte und die er im kommenden Sommer endgültig zur Frau genommen hätte. ‚Hedda… gedenk meiner… als großem Krieger…’

    Dann verschlang ihn der Strudel des Todes und sog ihn hinüber in eine andere Welt.

    *

    Wachstum ans Licht.

    Ungeduldiges, rasches Sprossen, Keimen, Hinaufdrängen, dorthin, wo Wärme, Licht und Feuchtigkeit warteten. Aufgehen in der großen Menge. Gemeinschaft. Geselligkeit.

    Arne Ragnarsson spürte Verwirrung, als sein Bewusstsein aus dem düsteren Schacht des Vergessens heimkehrte in die neue Existenz. Verstört bemerkte er, dass seine Weltsicht eine sehr eigentümliche war.

    Er erblickte keineswegs die gigantischen, steinernen Hallen, in denen Odin und seine Krieger in Walhall den ewigen Umtrunk von Met und fremdländischen Weinen vornahmen, von dem er immer in seiner Kindheit und in all den Sagen gehört hatte. Wo waren die hünenhaften Wächter, die die toten Heroen am Portal der Himmelsburg empfingen?

    Wo waren sie?

    ‚Wo bin ich?’, schrie sein Verstand. ‚Was ist mit mir geschehen? Bin ich in Ymirs Fängen gelandet?’

    Doch nein, der Frostgott besaß keine Macht über ihn. Wärme durchflutete seinen Körper in ganzer Länge, doch am Kopf… Kopf? …da war die Wärme am stärksten, und sie tat so gut, so unendlich gut. Je höher er sich reckte, desto wärmer und wohliger wurde es.

    Die Wärme schläferte seine Gedanken ein.

    Für eine unnennbare Zeitspanne wusste Arne Ragnarsson gar nichts mehr.

    Als die Nacht hereinbrach, kehrte der wache Geist wieder zurück und blinzelte verstört in dieser seltsamen Existenzform. Konnte dieser Körper blinzeln? Besaß er überhaupt AUGEN?

    Was war er geworden?

    Denn inzwischen hatte Arne verstanden, dass er noch nicht in Walhall angekommen war. Die Götter hatten ihn zur Erde zurückgesandt, damit er einen anderen Körper übernahm und vorerst hier ein neues Heroenleben lebte.

    Gewohnt an den Willen der Götter, war er bereit zu diesem Kampf. Er wusste, dass er ein Held war, dass sein Ziel in Walhall lag, und niemand konnte ihm diesen Glauben rauben.

    Doch wer war er? Was war er?

    War er ein neues Kind im Mutterleib, bevor es auf die Welt gepresst wurde?

    ‚Oh, das wäre ich gerne’, dachte er. Denn das eröffnete ihm zwar den Blick auf eine neue Kindheit und neue Probleme, die er seit langem hinter sich gelassen zu haben glaubte… doch irgendwann würde er Mädchen kennenlernen, konnte mit ihnen scherzen, lachen, balgen, und eines Tages würden sie in seinem Bett liegen, und er hatte dann die Gelegenheit, die gottgegebenen Kräfte seines Leibes in ihren Körper einzusäen, um sich höchst lustvoll und in brennender Liebe fortzupflanzen. Neue Heroen zu zeugen.

    Arne lauschte in seine Umwelt hinaus und musste diesen Gedanken begraben.

    Nichts von dem, was er empfand, deutete auch nur entfernt dahin.

    Er wiegte sich sanft wie schon den ganzen Tag, ohne es abstellen zu können. Fast war es wie das Wippen in leichter Dünung. Aber dafür war zu wenig Wasser vorhanden. Und er dürstete nach Wasser, weil er so schnell wuchs.

    Das Wasser kam sowohl von unten als auch – jetzt gerade – von oben. Hart traf es seinen Körper, glitt daran herunter und wusch Staub von ihm ab, der sich am Tage auf seinen glatten Leib gelegt hatte.

    Arne öffnete sich und nahm soviel Wasser in sich auf, wie er konnte. Dann verschloss er sich wieder und wartete geduldig, bis der Regen vorbei war. Es schien ewig zu dauern, und es gab keine Möglichkeit, ihn abzuwehren.

    Nicht mal einen Gedanken daran.

    Das war eine Empfindung.

    Und dann, von der Unterseite, dort, wo seine Füße sein sollten – die ganz anders aussehen mussten, als er es sich vorstellen konnte – , von dort kamen Signale einer Vielheit. Ragnar schien es, als dächte er mit den Füßen. Und als wäre er mit vielen anderen Füßen von Gefährten verschlungen und verhakt.

    Der Eindruck war von unvorstellbarer Fremdartigkeit.

    ‚Was bin ich nur?’

    Er erhielt keine Antwort auf diese Frage.

    *

    So vergingen die Tage.

    Den lichten Tag über versank sein Geist im Dämmerschlummer, ganz eingelullt von der warmen Sonne und der Wärme, die sie spendete, und er wuchs, wuchs, wuchs. Es war ein Gefühl des unbeschreiblichen Behagens, immerzu zu wachsen, bis in die Ewigkeit hinein.

    Manchmal träumte Arne davon, eine Bohnenpflanze geworden zu sein, deren Auftrag es wäre, bis Walhall hinaufzuranken. Dort würde Odin die Ranken packen und sie ausreißen, um ihn auf diese seltsame Weise nach Walhall in die Heimstatt der Heroen zu holen. Wiewohl Arne Ragnarsson niemals von dieser Art der Wiederkehr gehört hatte, mochte es denkbar sein. Der Wille der Götter war unerforschlich.

    Die Nächte grübelte der wiedergeborene Wikinger hilflos, was er wohl sei und wie er seiner Existenz einen Sinn verleihen konnte. Denn scheinbar bestand sein Existenzgrund einzig und alleine im Wachstum.

    ‚Das ist mir zuwenig! Ich will kämpfen! Zur See fahren! Die Feinde, die Heiden besiegen! Ich möchte nicht so an einen Ort gefesselt sein! Odin, Thor… wer auch immer… lasst mich frei, lasst mich beweisen, dass ich euch zu Ehren die Welt erschüttern kann! Lasst mich in euren Diensten kämpfen! Ich nehme jede Wunde, jede Erniedrigung auf mich, wenn ich nur kämpfen kann…!’

    Manchmal träumte er tagsüber von den blutigen Schlachtfeldern seiner Jugend, von den brennenden Klöstern der Christen und den Nonnen, die so gar nichts von der Liebe verstanden und schrieen, zappelten und weinten, wenn er ihnen die Liebe brachte…

    Ein Tag verging wie der nächste.

    Tage, Wochen.

    Und eines Morgens kam, ganz unvermittelt, der Tod in sein Leben.

    Wieder einmal.

    *

    Schon öfter hatte er Schatten vorbeihuschen sehen, gespürt, dass der Boden erzitterte. Aber niemals war Arne tagsüber fähig gewesen, zu begreifen, was das war, er dämmerte dann stets in der Trance dahin.

    Diesmal war es anders.

    Denn dieses Mal verschwand der Schatten nicht sogleich, sondern er verweilte.

    Wurde dunkler.

    Arnes Geist wachte, weil es kühler wurde, aus dem wohligen Dämmer auf und merkte, wie sich Unruhe in ihm breitmachte. Furcht.

    ‚Was ist los? Was passiert jetzt?’, rief sein Geist.

    Er verstand, dass Gefahr drohte, eine unvorstellbare Gefahr, die er nicht sehen konnte. Seine einzige Wahrnehmung der Umgebung bestand aus Hell und Dunkel, und solcherart beschränkt konnte er nicht verstehen, was ihm drohte.

    Deshalb schockierte ihn die harte, tastende Berührung auch, die seinen Kopf erfasste, an seinem Körper herabglitt und die Wärme der Sonne durch eine ganz andere Wärme ersetzte.

    ‚Nein… nein!’, schrie Arnes Verstand auf.

    Dann wurde er zermalmt und starb.

    *

    Er stand auf der Weide und käute wieder.

    Geduldig.

    Ruhig.

    Stoisch.

    Der kalte Wind erreichte seinen Körper nicht, weil das dicke Fell ihn gut dagegen schützte. Heute war ein recht warmer Tag auf der Weide, und er stand direkt auf dem Hügel, wo das saftige Gras wuchs.

    Irgendwie fand er das gut. Es schmeckte ausgezeichnet, als sei es gewürzt.

    Aber soweit dachte er nicht. Warum auch?

    Die Hauptsache war doch, er hatte einen neuen Weidegrund zugeteilt bekommen und konnte über seine Frauen bestimmen. Dass die Frauen, die von ihm schwanger waren, auf einer anderen Weide grasten, fand er bedauerlich, denn sie waren sonst sehr anhänglich. Aber dafür gab es noch andere.

    Und er war ja auch nur in einer bestimmten Jahreszeit bereit, sie zu begatten. Den meisten Teil des Jahres lebte er genügsam vor sich hin, verteidigte sein Revier gegen Emporkömmlinge und Rivalen und wachte ansonsten über die Gruppe.

    Das saftigste Gras stand ihm zu.

    Ihm…

    Arne Ragnarsson!

    Als seine Seele aus dem Magen wiedergeboren wurde und den Körper okkupierte, durchlief ein Zucken die ganze Gestalt des Patriarchen. Eine ganze Weile lang stand er nur da auf seinen vier Hufen, käute wieder und zuckte.

    ‚Ich lebe wieder! Heiliger Odin, ich lebe wieder! Ein richtiges Leben!’

    Er fühlte das Pulsen seines Blutes. Das Pochen des Herzens. Er sog die würzige Luft ein, die nach frischem Gras roch, nach Klee und Blumen, die dazwischen verstreut wuchsen.

    Unwillkürlich senkte Arne den Kopf und zermalmte ein Maul voll Grashalme und käute gemütlich, während seine Gedanken rasten.

    ‚Man hat mich vernichtet, getötet… und ich wanderte in den nächsten Leib! Die nächsthöhere Stufe… Odin, ich danke dir, dass du mich erhört hast…’

    Der Schmerz der Transformation war bemerkenswert kurz gewesen. Er musste eine Pflanzenform beseelt haben, vielleicht einen Grashalm. Der Gedanke war bestürzend, denn Gras besaß für Arne bislang absolut gar keine Bedeutung.

    Inzwischen schon, denn sein neuer Trägerkörper lebte davon.

    Er war der Mörder.

    Sein Mörder!

    Diese Erkenntnis war erschütternd, verwirrend. Aber vielleicht würde er den göttlichen Ratschluss ja irgendwann doch durchschauen, der ihn zu diesem eigenartigen Schicksal verurteilt hatte. Womöglich hatte er in seinem Leben irgendetwas falsch gemacht, das es ihm verwehrte, den direkten Weg des Heroen nach Walhall zu gehen…

    ‚Ich werde es herausfinden’, beschloss Arne.

    Aber zuvor wollte er seinen neuen Körper, seine Fähigkeiten und vor allen Dingen die Umgebung kennenlernen.

    Er hob den seltsam niedrigen Kopf und sah sich um.

    Was er erblickte, war ausgesprochen eigenartig: alles war nur in Schwarzweiß zu sehen, und nur das, was dicht vor ihm war, konnte er gut erkennen. Hauptsächlich Gras und viele Kräutersorten. Manchmal grobe, kantige Steine. Der Boden war irgendwie seltsam geneigt, offenbar stand er auf einem Hang oder auf der Spitze eines niedrigen Hügels.

    Und das restliche Umfeld war Schwindel erregend gebogen und verzerrt. Arne rollte mit den Augen, weil er das einfach nicht ertragen konnte, aber das unglaubliche, schmerzhafte Bild verschwand nicht.

    Er stieß seltsame Töne aus, die wie ein… Blöken klangen?

    ‚Nein’, dachte er bestürzt, dann entsetzt. ‚Nein, Odin… allmächtiger Gott… nein, bitte… das kannst du mir nicht antun! Ich will nicht glauben, was du getan hast…’

    Er stapfte durchs Gras, verließ auf zittrigen, kurzen Beinen den Hügel und suchte Artgenossen, die hier irgendwo sein mussten. Er konnte sie mit den ausgezeichneten Nüstern wittern.

    Weibchen und ein paar Halbwüchsige, die sich im Schatten der Mütter vom vorletzten Jahr duckten.

    Arne Ragnarsson sah sie an und bemerkte, dass sie seinen Blick mit scheuem Respekt erwiderten, die meisten schauten aber schnell weg.

    Vierbeinige, stummelschwänzige, wollige Gestalten in hellem Gewand. Vielleicht war es weiß, vielleicht ein wenig gelblich, wie es oft der Fall war. Doch der kleine, vorgereckte Kopf und dieses unverwechselbare Gesicht, das er ganz aus der Nähe erkennen konnte, es deprimierte ihn zutiefst.

    Er hatte Recht gehabt mit seiner Befürchtung.

    Odin hatte ihn zu einem Schicksal in der Gestalt eines Schafes verdammt!

    Ohne nachzudenken, biss er wütend zu.

    *

    Es dauerte keine zehn Stunden, bis der Schafzüchter Holger Stadbrod Kenntnis von dem neuen Fall bekam. Durch die Ereignisse der letzten Jahre zunehmend sensibilisiert, beschloss er, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen.

    „Danke, Lars, dass du es mir gemeldet hast. Es ist nur ein Fall, ja?" Während er redete, lud er die Jagdbüchse durch und ließ sie einrasten.

    „Ja, Chef, ganz genau…" Sein Kontrolleur, ein wettergegerbter Mann aus Gokstad, nur acht Kilometer entfernt vom Weideland seiner Herden, schluckte indes, als er das sah. Er wusste, was das hieß.

    „Gut. Dann gehen wir da jetzt hin und bringen es hinter uns. Und niemand wird etwas davon erfahren. Wenn Knut übermorgen kommt, wirst du ihm sagen, dass sich der Bock beim Sturz von dem Hügel zwei Läufe gebrochen hatte. Wir konnten ihn nur noch erschießen."

    „Ja, Chef…"

    Holgers glühend blaue Augen fraßen sich geradezu in die seinen, als er die zögerliche Antwort hörte. Das buschige weiße Haar des Seniorchefs der Firma glomm im Sonnenlicht, als sie aus der Eingangshalle traten.

    „Lars, ist dir eigentlich klar, was das heißen könnte? Dieser verrückte Bock könnte meine ganze Herde vernichten! Im letzten Jahr haben sie aus geringeren Gründen bei Verdacht ganze Herden abgeschlachtet und auf ihren Scheiterhäufen verbrannt! All mein Geld steckt in der Zucht! Wenn die Kommissare meinen Hof sperren, bin ich ruiniert… das gehe ich nicht ein!"

    Er schlug seinem nur wenig kleineren Gefährten auf die Schulter und zog ihn mit zum Wagen.

    Sie hatten keinen weiten Weg bis zur Weide zurückzulegen, mit dem Landrover schafften sie es innerhalb weniger Minuten. Als sie ausstiegen, genoss der alte Schafzüchter einige Augenblicke lang den weiten Ausblick über den Fjord unter den eingezäunten Weiden, auf denen seine Herden untergebracht waren.

    Er dachte daran zurück, wie es wohl früher gewesen sein mochte, als die Wikinger hier noch lebten. Sie existierten zu einer Zeit ohne Europäische Union, ohne Zollbeschränkungen, ohne Rinderwahn und Scrapie.

    Es war eine gesündere Zeit gewesen, davon war er fest überzeugt. Härter, aber gesünder. Und sie waren sicherlich glücklicher gewesen.

    Er gab sich einen Ruck und marschierte los zur Weide.

    „Zeig ihn mir!"

    Lars Halstrom gehorchte. Aber er brauchte gar nicht viel zu tun, denn der Schafbock fiel von weitem auf.

    Er war das unruhigste Tier der kleinen Herde und lief in seinem Revier aufgescheucht umher. Als er die Schritte der Männer hörte, kam er angriffslustig näher. Seine Augen rollten fast unablässig, und die Zähne waren gebleckt. Sie waren rot gefärbt von den Bissen, die er anderen Tieren inzwischen verabreicht hatte.

    „Gehen Sie nicht näher ran, Chef, ich glaube, er ist richtig gefährlich!"

    „So sieht er aus", sagte Holger Stadbrod. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an, als er mit brennenden Augen das Vieh musterte.

    Ruhig hob er seine Waffe und legte an.

    Es sah nicht so aus, als würde der Schafbock begreifen, was ihm drohte. Aber das war in diesem Stadium der Krankheit immer so. Die Tiere waren dann aggressiv gegen alles und jeden, und sie schienen ihre Persönlichkeit völlig verändert zu haben. Das normale Gefahrenbewusstsein blieb dann ausgeschaltet.

    ‚Ich wüsste zu gerne, was dich so verändert hat’, dachte der Züchter in den letzten Sekunden vor dem Schuss. ‚Zu gerne. Aber hier und heute bist du einfach nur eine Bedrohung meiner Existenz.’

    Dann drückte

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