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Kurt 3: Nützliche Idioten
Kurt 3: Nützliche Idioten
Kurt 3: Nützliche Idioten
Ebook457 pages5 hours

Kurt 3: Nützliche Idioten

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About this ebook

Endlich einmal sind die Probleme der Götter nicht auch die von Kurt. Zwar torpedieren mehrere Todesfälle ihre Bemühungen, den Lauf der Welt ein wenig zum Guten zu beeinflussen, doch daran könnte die Hilfe des Münchner Privatdetektivs auch nichts ändern.
So kann Kurt sich in Ruhe auf die Suche nach einer vermissten Journalistin machen – denkt er.
Doch unversehens steckt er in einer Reihe von Mordanschlägen, die nicht nur ihn, sondern sogar seine Familie bedrohen. Kurt blickt erst mal so gar nicht durch, wer da eigentlich wem warum ans Leder will. Seine Informanten scheinen leider einen Dachschaden zu haben. Ein Netz aus Bankern, Nazis und militanten Tierschützern? Das ist doch wohl ein Witz!
LanguageDeutsch
Release dateMay 3, 2018
ISBN9783959591171
Kurt 3: Nützliche Idioten
Author

Sascha Raubal

Sascha Raubal wurde 1972 in Ulm an der Donau geboren und zog mit 4 Jahren nach Bayern. Er studierte Informatik an der TU München, arbeitete danach zuerst als Software-Entwickler und ist inzwischen freiberuflich als Spezialist für elektronischen Datenaustausch (kurz EDI) unterwegs. Seine erste Geschichte schrieb er mit etwa acht bis zehn Jahren. Dieses potentielle Meisterwerk der Weltliteratur – irgendwas über eine intelligente außerirdische Fliege – kam leider nie über wenige Seiten hinaus und muss heute als unwiederbringlich verschollen gelten. Seine erste ordentliche Veröffentlichung hatte er 2015 im Machandel-Verlag, den ersten Band einer inzwischen vierteiligen Reihe über den Münchner Privatdetektiv Kurt Odensen. Die Abartigen sind eine insgesamt zwölfteilige Reihe, Band 1 erschien im September 2022, Band 12 wurde am Ostersonntag 2023 fertig geschrieben. Geplant ist, etwa alle drei Monate einen Band zu veröffentlichen.

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    Book preview

    Kurt 3 - Sascha Raubal

    Dienstag, 09. August 1983

    10:08 Uhr, Nordfrankreich, eine Landstraße

    Timo Wagners erste Gotteserfahrung begann mit seinem liebsten Comic-helden – und einem Streit.

    „Asterix ist der doofste Doofkopf überhaupt!"

    Timo strengte sich redlich an, den Mund zu halten. Lange, ganz lange. Bestimmt zehn Sekunden, vielleicht sogar zwölf, betrachtete er die Landschaft, die draußen am Autofenster vorbeizog. Doch dann platzte es aus ihm heraus: „Gar nicht! Asterix ist ein großer Krieger, und wenn ich erst mal einen Zaubertrank erfunden habe, dann zeig ich’s dir und deinen blöden Schlümpfen! Die haben nämlich keine Superkräfte."

    So. Das hatte gesessen. Triumphierend grinste er seine Schwester Sandra an.

    „Pöh, antwortete diese nach längerer Denkpause. „Brauchen sie gar nicht, die werden auch so mit dem doofen Gargamel fertig. Und mit dem doofen Asterix. Und dem fetten Obalix.

    Es war zum Verzweifeln. Diese blöde Kuh mit ihren sechs Jahren hatte ja keine Ahnung. Schlümpfe und Zauberer, das waren doch bloße Erfindungen! Aber Gallier, die hatte es wirklich mal gegeben. Sagte Papa. Und Römer gab es auch, sogar noch heute. Nur waren sie heute wohl nicht mehr so bescheuert wie früher, immer alles erobern zu wollen. Sagte Mama. Bestimmt hatten ihnen das die großen gallischen Krieger ausgetrieben. Krieger wie Asterix, Obelix und alle anderen, jawohl. Mit acht Jahren wusste man sowas eben. Da wusste man auch, dass Timo und seine Familie gerade auf dem Weg in die Gegend waren, in der Asterix damals, 50 vor Christus, gelebt hatte. Die dumme Pute von Sandra dagegen konnte noch nicht mal die einfachsten Namen richtig aussprechen.

    „Obelix, nicht Obalix. Obeeeelix! Aber das war sowieso zwecklos, sie wollte ja nichts begreifen. Er winkte großspurig ab. „Ach, schieb dir doch deine Schlümpfe in den Popo.

    „Timo!, schallte es entsetzt vom Beifahrersitz. „Es reicht. Jetzt war Mama sauer. Dabei hatte er doch extra Popo gesagt und nicht das böse Wort mit A.

    „Sie hat angefangen!", versuchte er sich zu rechtfertigen. Und das stimmte auch, immerhin hatte Timo doch nur mit Papa darüber geredet, dass bald endlich der neue Asterix-Band erscheinen sollte und Timo sich den zusammen mit Papa kaufen würde. Jeder zahlte die Hälfte, das war nur fair. Aber Sandra fiel ja nichts Dümmeres ein, als gegen Asterix zu stänkern, die beste Comicreihe der ganzen Welt. Seit mindestens hundert Stunden durfte er sich nun schon diesen Unsinn anhören.

    „Gar nicht!", konterte seine Schwester.

    „Hast du wohl!"

    „Gar nicht, gar nicht!"

    „Wohl! Du fängst immer an!"

    „Du lügst! Jetzt setzte sie wieder ihre Sirenenstimme ein, die einem in den Ohren weh tat. Prompt kam die Quittung von Papa. Er drehte sich nach hinten um und donnerte los. „Mama sagte, es reicht! Ich muss Auto fahren, Himmel noch mal, da kann ich sowas nicht brauchen!

    Mama schrie auch los. Aber irgendwie nicht so wütend wie Papa, sondern ängstlich. Papa wandte sich wieder nach vorne und brüllte: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!"

    Timo wollte darauf hinweisen, dass man das nicht sagen durfte, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Papa kurbelte plötzlich wie wild am Lenkrad, das Auto schaukelte ganz furchtbar hin und her, und Mama schrie noch lauter.

    Timo erhaschte einen Blick nach vorne, zwischen den Sitzen der Eltern durch. Da kam ihnen ein Fahrzeug entgegen, aber nicht so, wie sonst Autos fahren, sondern irgendwie schief. Im nächsten Moment drehte sich Papas Auto wieder, es rumpelte, und dann flogen sie. Jetzt schrien auch Timo und Sandra. Die Welt wirbelte um sie herum, ihm wurde plötzlich furchtbar schlecht, es krachte grässlich, als der Wagen mit Wucht auf den Rädern aufschlug, Timos Tür sprang auf, und schon hoben sie wieder ab. Dann war Timo draußen, flog völlig alleine, ohne Auto.

    Sein ganzer Körper tat furchtbar weh, schlimmer, als er es je erlebt hatte. Timo öffnete vorsichtig die Augen, sah aber nichts. Alles dunkel. Selbst sein Gesicht brannte wie Feuer. Er erkannte, dass er auf dem Bauch lag und die Nase in den Dreck steckte. Mühsam hob er den Kopf, um zumindest wieder richtig Luft zu bekommen.

    Wo waren Mama und Papa? Und was war mit Sandra? Er wollte rufen, brachte aber kaum ein Stöhnen heraus. Sein Kopf war furchtbar schwer, er drehte ihn und legte ihn zurück auf den Boden. Wenigstens konnte er so weiteratmen.

    Geräusche drangen an sein Ohr und sickerten langsam in sein Bewusstsein. Wasser plätscherte. Blätter rauschten im Wind. Irgendjemand rief etwas, aber die Stimme kannte er nicht. Er versuchte zu verstehen, was der Mann sagte, doch das war dieses komische Französisch, das hier alle sprachen. Timo verstand kein Wort. Dann, ganz leise, hörte er die Stimme seiner Mutter. Und jetzt die von Papa. Wieder bemühte sich Timo, nach ihnen zu rufen, doch immer noch kam kein Ton heraus.

    „Sandra?, fragte Mama. Noch mal, lauter diesmal: „Was ist mit Sandra? Der fremde Mann antwortete ihr, jetzt auf Deutsch: „Sie ist hier. Sie atmet."

    Timo war froh, das zu hören, und noch froher, als Mama nun auch nach ihm fragte. „Und Timo? Wo ist mein Sohn? Ich sehe ihn nicht! Mamas Stimme klang schrecklich verängstigt. Der Mann sagte: „Ich gehe ihn suchen. Timo unternahm einen weiteren Versuch, hob den Kopf ein wenig und brachte ein klägliches Wimmern zustande. Dann wurde es dunkel um ihn.

    „Junge! Timo wurde wieder wach. Er lag immer noch im Dreck. Ein paar Schuhe kamen durch die Sträucher, in denen er lag. „Junge! Hörst du mich? Die Schuhe blieben neben ihm stehen, ihr Besitzer kniete nieder und strich Timo über das schlammverschmierte Gesicht. „Timo! Sag was!"

    Timo nahm all seine Kraft zusammen, doch auch diesmal kam nur ein klägliches Wimmern heraus.

    „Wenigstens lebst du noch. Der Mann drehte sich kurz um und rief: „Ich habe ihn gefunden. Er lebt.

    Hände tasteten seinen Körper ab. „Lass mal sehen, murmelte der Fremde. „Da hast du dir aber einiges gebrochen, kleiner Freund. Die Hände widmeten sich behutsam Timos Hals. „Zum Glück nicht das Genick. Das ist das Wichtigste." Dann wurde Timo langsam umgedreht, bis er endlich etwas sehen konnte. Der Mann, der sich um ihn kümmerte, war groß, viel größer als Papa. Das sah er sogar jetzt, wo der Fremde vor ihm kniete. Viel mehr sah er aber nicht, denn er hatte eine Menge Dreck im Gesicht und in den tränenden Augen und bemühte sich nun verzweifelt, diesen wegzuzwinkern. Das tat erst recht weh, der Matsch rieb dabei über die Augäpfel.

    „Na komm!" Der Fremde schob seine Arme unter Timo und hob ihn hoch. Ganz schön stark! Mama wollte Timo schon gar nicht mehr tragen, weil er so schwer geworden war, und Papa ächzte auch immer über den dicken Brocken, wenn Timo ihm auf den Rücken sprang. Aber der Mann hier hob ihn einfach auf, als wöge er nicht mehr als sein eigener Teddy. Es schmerzte, bewegt zu werden, aber Timo biss tapfer die Zähne zusammen. Asterix hätte sicher als Kind auch nicht geweint.

    „Timo! Mama kam angerannt. Er sah sie nicht richtig, erkannte sie nur an ihrem gelben Kleid, das als verwaschener, leuchtender Fleck durch den Tränenschleier auf ihn zurauschte. „Timo, mein Süßer! Geht’s dir gut?

    Manchmal konnte Mama schon wirklich doof fragen. Ihm tat alles weh, er brachte keinen Ton heraus und sah nur Schlieren, und sie fragte, ob es ihm gut ginge. Doch mehr als ein leises Stöhnen kam auch diesmal nicht über seine Lippen. Dann war sie auch schon da und versuchte, ihn zu streicheln, während der Mann, der ihn aufgelesen hatte, ihn noch ein paar Meter weit trug und dann ins Gras legte. Sofort stürzte sich Mama auf ihn und küsste sein Gesicht von oben bis unten ab. Eklig!

    „Madame, sagte der Fremde. „Bitte lassen Sie dem Jungen etwas Luft zum Atmen! Seien Sie so gut, und holen Sie ein wenig Wasser. Dort drüben liegt eine Schüssel und da ein Becher, bitte gehen Sie zum Bach und bringen mir das Wasser; ich brauche es, um Ihrem Sohn den Dreck aus dem Gesicht zu waschen.

    Mama fügte sich der Anweisung und verschwand. Ein Stück weiter weg hörte Timo Papa und Sandra miteinander sprechen. Er blickte nach oben und sah verschwommen den Kopf des Fremden über sich. „Es wird wieder gut, Junge, das verspreche ich dir." Die Stimme mit dem französischen Akzent klang sanft und warm. Timo glaubte ganz fest, was sie sagte.

    „Hier, hörte er Mama sagen. „Und ein paar Taschentücher.

    „Merci, Madame." Einen Augenblick später vernahm Timo das Plätschern von Wasser, dann spürte er, wie man ihm vorsichtig die Augen auswischte, mit einem triefend nassen Tuch. Es tat gut, als die kleinen Sandkörnchen endlich weggespült wurden. Der Schleier wurde dünner, langsam formte sich aus dem dunklen Fleck über ihm ein Gesicht.

    „Er blutet so sehr", jammerte Mama.

    „Das ist nur aufgerissene Haut, nicht schlimm. Das Blut spült den Schmutz heraus", antwortete der Mann.

    „Wenn Sie meinen."

    „Vertrauen Sie mir. Der Fremde drehte den Kopf ein wenig. „Da kommt ein Auto. Halten Sie es an und bitten Sie den Fahrer, im nächsten Dorf den Krankenwagen zu rufen!

    Mama zögerte kurz, dann ließ sie Timo mit dem Mann alleine.

    Inzwischen konnte Timo das Gesicht schon recht gut erkennen. Es war ein altes Gesicht, bestimmt viel älter als das von Papa. Links und rechts hingen wirre, teils mit Blut verklebte Haare herunter. Das Blut war rot, aber die Haare auch. Timo sah dem Mann in die Augen. Grau waren sie, und … tief. Beinahe hatte er das Gefühl, wieder zu fliegen, zu stürzen, nach oben in diese Augen. Oder war es umgekehrt? Schauten sie in ihn, Timo, hinein?

    Er riss sich gewaltsam von dem Anblick los. Der Fremde lächelte ihn beruhigend an. „Na? Schon besser? Timo versuchte zu sprechen, und tatsächlich, es kam ein leises, aber verständliches „Ja heraus. Der Mann hob einen der Plastikbecher hoch, die Timos Eltern auf die Reise mitgenommen hatten. Timo kannte ihn genau, das war der Schlumpfbecher von Sandra. Wahrscheinlich war das Gepäck auf dem Dach bei dem Unfall über die ganze Wiese verstreut worden, auf der er jetzt lag. Das Gefäß berührte seinen Mund, Timo nahm ein paar vorsichtige Schlucke.

    „Danke, quetschte er hervor. „Sie bluten. Er war stolz, dass er nicht „Du" zu einem Fremden sagte, wie er es letztes Jahr noch getan hatte.

    Sein Helfer lachte leise. „Ach, das ist halb so wild. Mein Auto ist auch Schrott, wie eures, und dabei habe ich ein bisschen was abbekommen. Aber das vergeht wieder."

    Während der Mann das sagte, löste sich von seiner aufgeplatzten Augenbraue ein Blutstropfen und fiel Timo ins Gesicht, direkt in eine seiner eigenen Wunden. Für einen winzigen Moment brannte es, dann fühlte sich diese Stelle viel besser an als vorher.

    „Wie heißen Sie?"

    Der Mann überlegte eine Sekunde und nannte dann leise seinen Namen.

    „Belenus?" Timo war baff. „Wie in Asterix?

    „Ja, antwortete der Fremde schmunzelnd. „Genau so. Aber … Er hob den Finger an die Lippen und zwinkerte Timo zu. Der nickte verschwörerisch. Dann kam auch schon Mama zurück.

    Montag, 13. Juli 2015

    11:36 Uhr, München, Nordfriedhof

    Schmerz. Schmerz, wie Timo ihn nie zuvor gefühlt hatte. Kein gebrochener Arm, keine aufgeschürfte Haut, stattdessen eisige Kälte und eine furchtbare Leere, die ihn von innen her aufzufressen drohte. Doch diesmal war nicht er es, der von starken Armen gehalten wurde, er musste selbst Halt geben. Linus war erst verdammte vierzehn Jahre alt! Welches Drecks-Schicksal nahm einem Vierzehnjährigen die Mutter?

    Es war so elendig schwer, die Tränen zurückzuhalten. Aber auch der Junge schaffte es, irgendwie. Konnte nicht wieder ein großer Fremder auftauchen und den Schmerz lindern, dem Kind Zuversicht geben, dass es weiterging, auch ohne Mama? Nein. Er schüttelte innerlich den Kopf über seinen Gedanken. Nein, diese Qual vermochte niemand einfach wegzuzaubern. Da mussten sie durch, alle beide, Vater und Sohn.

    Er sah zu, wie Ankes Sarg langsam ins Grab glitt. Wie sie endgültig und unwiderruflich ging, um niemals wiederzukehren. Noch fester drückte er die Schulter seines Jungen, der sich so tapfer aufrecht hielt. Der so stark gewesen war in diesen Monaten, während er seiner Mutter beim Sterben zusehen musste.

    Im Winter war noch alles in bester Ordnung gewesen. Ein paar Wehwehchen, unklare Bauchbeschwerden, ja, aber es schien nichts Ernstes zu sein. Dann, Anfang Februar, war die Diagnose gekommen. Pankreastumor. Die Bauchspeicheldrüse. Die Ärzte hatten gesagt, dass dieser Krebs sehr oft zu spät erkannt wird, wenn er schon längst einen Haufen bösartige, kleine Metastasen gestreut hat. Bei Anke war es auch zu spät. Kein halbes Jahr hatte sie mehr, fünf Monate, in denen sie vor sich hin siechte, in denen aus der wunderbaren Frau und liebevollen Mutter ein zusammengefallenes Skelett wurde, das sich nur mit Schmerzmitteln über Wasser halten konnte. Bis es dann vor drei Tagen zu Ende gegangen war.

    Ein oder zwei Leute hatten ihm gesagt, dass der Tod für Anke eine Erlösung war. Ja, natürlich war er das. Trotzdem hätte er denen am liebsten die Zähne ausgeschlagen.

    Viel schlimmer waren die Schwätzer gewesen, die ihm den Unsinn mit Gottes Plan unter die Nase gerieben hatten. Allen voran Ankes Tante. Gott der Allmächtige habe Anke zu sich genommen, Linus und Timo sollten sich auf ein Wiedersehen im Jenseits freuen. Am Arsch! Hätte Timo je an diese Gestalt geglaubt, dann hätte er spätestens während Ankes qualvollen Todes damit aufgehört. Was für ein Gott sollte das sein, der einer wunderbaren Frau ihr Leben auf diese brutale Art nahm, einen Jungen dazu zwang, seiner Mutter beim Sterben zuzusehen, einem Mann die Liebe seines Lebens entriss? Nein, diesen Gott gab es nicht. Und wenn es ihn gab, war er ein verdammtes Arschloch.

    Die Zeremonie war komplett weltlich gehalten. Kein Pfarrer hielt die Grabrede, kein Geschwafel von Himmelreich und liebem Gott. Ankes Eltern hatte das nicht gepasst, aber das war ihm egal gewesen. Äußerlichkeiten, hohle Show, das war denen wichtig. Wäre es nach denen gegangen, hätte Timo sich die langen Haare abschneiden, den Bart stutzen und sich mit Krawatte und anderem Unsinn verkleiden sollen, um ja den Erwartungen zu entsprechen. Was sollten bloß die Leute sagen?

    Was ging es die Leute an? Anke hatte ihn so geliebt, wie er war, nur das zählte.

    Der Redner war gut, das musste Timo anerkennen, auch, wenn er kaum etwas von dem mitbekommen hatte, was der Mann sagte. Der neue Freund von Ankes Schwester hatte sich darum gekümmert, wie um fast alles, das Begräbnis betreffend. Nun, als Anke da unten lag und bald von Erde bedeckt sein würde, kam die lange Schlange der Trauergäste, um zu kondolieren.

    „Packst du das?, raunte Timo seinem Jungen ins Ohr. „Du musst nicht.

    Linus nickte und schluckte schwer. „Geht schon."

    Und so standen sie da, Vater und Sohn, Seit’ an Seit’, und drückten die Hände von Freunden der Familie, von Bekannten, Nachbarn und wildfremden Menschen, die Anke wohl irgendwie gekannt hatten. Sogar die Kassiererin vom Supermarkt eine Straße weiter war da und murmelte, Anke sei eine so freundliche Kundin gewesen.

    Die engsten Freunde und die Familie hielten sich bis zum Schluss zurück, um sich dann etwas ungestörter von Anke zu verabschieden und Timo und Linus mehr als nur die Hand zu drücken. Sonja, Ankes Schwester, die die ganze Zeit auf Linus’ anderer Seite stand, hatte ihren Neuen dabei, der sich so großartig um die Organisation gekümmert hatte.

    „Ach Timo, seufzte Sonja und schlang die Arme um ihn. „Ich vermisse sie schrecklich. Aber ich glaube, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für euch sein muss. Sie ließ ihn los und blickte ihm traurig in die Augen. „Du weißt, wenn ihr beide irgendetwas braucht, wir sind für euch da."

    „Ja, ich weiß." Gleich war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung, die Tränen drängten mit aller Macht nach draußen. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm, dass Linus den Kampf bereits verloren hatte. Sonja reagierte prompt, schloss den Jungen fest in die Arme und führte ihn ein Stück weg, um mit ihm gemeinsam zu weinen.

    „Wie Sonja schon sagte, wiederholte nun deren Freund, der lange, breite Kerl, zu dem Timo immer aufsehen musste, „wir sind für euch da. Sag einfach Bescheid, okay?

    „Danke, Kurt. Und danke für deine Hilfe in den letzten Tagen." Es wurde immer schwerer, die Tränen zurückzuhalten. Seltsamerweise hätte er sich ausgerechnet vor diesem Schrank von einem Mann, Ex-Soldat und nun erfolgreicher Privatdetektiv, ein harter Kerl wie aus dem Bilderbuch, kein bisschen geschämt zu weinen. Doch noch schaffte er es, das Wasser zurückzudrängen. Da stand ein weiterer Fremder, der anscheinend ebenfalls kondolieren wollte.

    „Das hier ist übrigens Herr Auki, Ankes Chef", sagte Kurt. Timo schüttelte die dargebotene Hand, ohne richtig hinzusehen.

    „Ich weiß, wir beide haben uns nie getroffen, und Anke wird auch wenig von mir erzählt haben, sprach ihn Herr Auki an. „Aber sie hat sich in dem einen Jahr, das sie bei uns war, als eine wunderbare Kollegin erwiesen. Ich will Sie nicht mit der hervorragenden Arbeit Ihrer Frau langweilen, aber dass sie uns allen als Mensch sehr viel bedeutet hat, das wollte ich Sie wissen lassen. Auch für uns gilt: Sollten Sie oder Ihr Sohn einmal etwas benötigen, dann geben Sie uns Bescheid! Sagen Sie es einfach Kurt, der leitet es dann schon weiter.

    „Das … Timo hoffte, dieser Typ verschwand bald, bevor er schluchzend zusammenbrach. „Das ist wirklich nett von Ihnen, Herr Auki. Er zwang sich, den Mann anzusehen. Der Anzug war Maßarbeit, keine Frage. In Stangenware hätte dieser quadratische Kerl nicht hineingepasst. Das Gesicht war …

    Timo schnappte nach Luft. „Wer sind Sie?"

    Sein Gegenüber war verständlicherweise überrascht. „Auki, Thor Auki mein Name. Ich bin im Vorstand des Instituts, für das Anke gearbeitet hat."

    „Ja …" Das hatte Timo schon begriffen. „Aber … was sind Sie?"

    Dienstag, 01. August 2017

    09:48 Uhr, Zöberitz bei Halle/Saale, Sachsen

    Martha Guttke verließ ihr Haus und ging zu ihrem Wagen, die obligatorische Aktentasche unter den Arm geklemmt. Vorlesungsfreie Zeiten waren etwas für Studenten, sie selbst hatte als Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg auch in den sogenannten Semesterferien reichlich zu tun.

    In Gedanken rekapitulierte sie noch einmal, was heute auf dem Plan stand. Zuerst wollte sie ihre Berechnungen von gestern erneut überprüfen. Abgesehen von ihrer Position an der Uni wäre es auch für sie ganz persönlich nicht hinnehmbar gewesen, bei derart wichtigen Dingen Fehler zu machen. Fehler, die ihr unzählige ach so geschätzte Kollegen mit größtem Vergnügen aufs Brot schmieren würden.

    Martha atmete ein paarmal tief durch. Die frühmorgendlichen Gewitter hatten die Luft wunderbar gereinigt und erfrischt. Sie stieg ein, warf die Aktentasche auf den Beifahrersitz und fuhr los. Auf dem Weg zur B100 dachte sie weiter nach.

    Fand sie wieder keinen Schwachpunkt in ihren Thesen, musste sie diese nur noch etwas allgemeinverständlicher aufbereiten, damit auch ein Laie in Wirtschaftstheorie sie hoffentlich verstand. Die Herrschaften in München waren zwar alles andere als dumm, doch ihr war vollkommen klar, dass ein mit Fachbegriffen gespickter Text für Außenstehende wie sinnloses Kauderwelsch klingen musste. Dieses Problem hatte wohl jede Wissenschaft.

    Wenige hundert Meter später bog sie in die Auffahrt der Bundesstraße, die sie schnell nach Halle bringen würde.

    Es konnte sie gut und gerne noch die ganze Woche kosten, ihre Ausführungen in allgemeinverständliches Deutsch zu übersetzen. Doch wenn sie das Ergebnis dann nach Bayern geschickt hatte, durfte sie sich besten Gewissens ein freies Wochenende gönnen. Vielleicht schaute sie mal wieder im Elbsandsteingebirge auf eine Wandertour vorbei?

    Die Aussicht auf zwei wunderbare Tage in der Natur beflügelten Marthas Gedanken. Die Vorfreude aber auf die Reaktion der Medien, wenn ihre Theorien publik gemacht würden, war noch wesentlich größer. Sie war sicher, selbst der eingefleischteste Verfechter des alten Systems musste anerkennen, dass ihre Thesen Hand und Fuß hatten. Man konnte natürlich einfach so weitermachen wie bisher, doch wohin das führte, war nun wirklich für jeden, der einigermaßen die Augen öffnete, offensichtlich: in den Abgrund.

    Martha war sicher nicht die Erste, die Alternativen zu den altgewohnten Pfaden aufzeigen konnte. Mancher ihrer Vorgänger hatte bereits wohldurchdachte neue Wege präsentiert. Aber niemand hatte bislang so detailliert nicht nur die unzähligen Schwächen der alten Methoden nachgewiesen, sondern gleichzeitig eine so logische und über jeden ernstzunehmenden Widerspruch erhabene Alternative anzubieten gehabt. Und vor allem verfügte sie mit den Münchnern über die richtigen Kontakte, um auch tatsächlich etwas zu bewegen.

    Wenige Minuten später erreichte sie den Stadtrand. Rechts tauchte bereits die Kleingartenanlage auf. Gut gelaunt hielt Martha das Steuer locker in einer Hand, während sie mit der anderen auf ihren Oberschenkel den Takt zu einem Liedchen klopfte, das sie fröhlich pfiff. War das Leben nicht wunderbar?

    Ein Schlag im Lenkrad, nur einen Sekundenbruchteil bevor das Steuer plötzlich ganz von selbst hart nach links gerissen wurde. Marthas freie Hand schnellte zum Lenkrad, doch der Wagen war bereits außer Kontrolle. So sehr sie sich auch abmühte, sie konnte nicht verhindern, dass sie auf die Gegenfahrbahn schleuderte.

    Verflucht! Ein großer Sattelschlepper rauschte direkt auf sie zu. Martha hatte inzwischen beide Hände am Lenkrad und kurbelte wie verrückt. Das Auto drehte mit quietschenden Reifen wieder nach rechts, stellte sich aber sofort erneut quer.

    Das Letzte, was Martha Guttke in ihrem Leben sah, war der Kühler eines Lasters, der auf ihre Fahrertür zuraste.

    Mittwoch, 02. August 2017

    17:51 Uhr, Weilheim, nördliches Stadtgebiet

    Wen Li, wertvollste – und derzeit mal wieder einzige – Mitarbeiterin in der Detektei Kurt Odensen, überquerte den im prallen Sonnenschein liegenden Bahnhofsparkplatz und schloss ihren Wagen auf. Glühende Hitze schlug ihr entgegen. Echt Klasse. Diese Mischung aus heißen Tagen und Gewittern in der Nacht sorgte schon draußen für ekelhaft dämpfige Luft, aber das Auto war die reinste Sauna. Zum Glück musste sie nur schnell noch bei Kurt vorbei, ihm die Papiere bringen, und dann ab zu ihren Freunden vom Tierschutz. Sie hatte da ein paar tolle Motive für die Plakate gefunden, mit denen sie morgen auf die Demo wollten. Bis sie spätabends heimkam, würde es sich hoffentlich wieder etwas abgekühlt haben – oder auch die nächste Gewitterfront wüten.

    Wenige Minuten später hielt sie bereits vor dem Reihenhaus, das Kurt von seinen Eltern übernommen hatte. Sonja kam gerade heraus, eine prall gefüllte Mülltüte in der Hand. Ihre feuerroten Haare leuchteten in der Nachmittagssonne. Wegen dieser Lockenpracht und ihres resoluten Temperaments nannte man sie in informierten Kreisen auch Red Sonja. Dabei verband sie sonst wenig mit der jungen Brigitte Nielsen, Sonja war weder groß noch schlank. Trotzdem sah sie mit ihren rundlichen Einsvierundsechzig neben dem beinahe zwei Meter messenden, muskulösen Kurt keineswegs deplatziert aus.

    „Hey, Li!, grüßte Kurts Frau. „Na? Schönen Tag gehabt, so ohne Chef?

    „Aber sowas von schön. Li grinste von einem Ohr zum anderen. „Da kann man wenigstens mal in Ruhe arbeiten. Und selbst?

    „Ach, passt schon, antwortete Sonja. „Inzwischen hat er richtig Routine.

    „Wo ist er denn?"

    „Drinnen. Hat grad eine ganz gemeine Bombe zu entschärfen."

    Sonja beförderte den Müll in die Tonne und winkte Li, ihr zu folgen. Sie legte den Finger auf die Lippen, blinzelte ihr zu und öffnete die Haustür. Mit dem Kopf deutete sie gen Wohnzimmer. Li zwinkerte zurück und schlich auf leisen Sohlen in die angegebene Richtung. Schon bevor sie die Tür erreichte, hörte sie Kurts sonore Stimme eine Melodie summen. Herrje, das war einer dieser 80er Oldies, die Sonja so mochte.

    Sie überlegte einen Moment. Ach ja. Relax hieß die Gruppe, A weißes Blattl Papier der Song. Nur, dass der Text, den Kurt nun leise vor sich hin sang, gänzlich anders lautete.

    „Dei kloana Windelpopo,

    der schaugt mi ganz vaschmiat o,

    du host neig’schiss’n …

    Des is koa Spaß ned füa mi,

    doch trotzdem mechat i di

    nie wieda miss’n."

    Ein Bild für die Götter. Kurt hielt die Beinchen seines kleinen Sohnes vorsichtig in einer seiner großen Pranken, während er mit der anderen den vollkommen verkackten Hintern säuberte. Mit mehr als leicht angeekeltem Blick legte er die benutzten Feuchttücher auf die Stinkbombe von Windel, die neben dem Baby lag, und setzte zu einer weiteren Textzeile an. Li konnte nicht anders, sie gackerte los.

    „Hach, wie poetisch du doch sein kannst!"

    Kurt drehte nur kurz den Kopf, zog eine gequälte Grimasse und wandte sich wieder seinen Vaterpflichten zu. „Ich weiß ned so recht, meinte er, „ob so ein Po wirklich ethisch in Ordnung ist. Eigentlich ist der Einsatz von Biowaffen nicht erst seit dem Genfer Protokoll von 1925 verboten.

    „Naja, konterte Li, „aber was du da von dir gibst, muss man ja wohl auch als psychologische Kriegsführung bezeichnen. In deinen Sangeskünsten kannst du problemlos mit Timo konkurrieren.

    „Pöh! Mach’s besser! Kurt streckte ihr die Zunge raus und wickelte die Windel gewissenhaft zu einem kleinen Päckchen zusammen, das er in einem gut verschließbaren Eimer entsorgte. Mit ungeahntem Feingefühl tupfte er etwas Creme auf einige Hautstellen, entfaltete gekonnt den nächsten Pupsfänger und hob den winzigen Babyhintern darauf. Sekunden später war Leif wieder bestens verpackt und strahlte seinen Vater an. Kurt hob das Baby hoch und drückte ihm einen dicken Schmatz auf den Bauch. „So, Junior, bei der Wärme kannst du so bleiben, schick anziehen überflüssig.

    Das gefiel dem Kleinen offenbar. Kaum lag er im Stubenwagen, strampelte er eifrig mit den Beinchen und unterhielt sich selig glucksend mit einem Stoffhasen.

    Kurt machte schnell einen Abstecher ins Bad, um sich die Hände zu waschen, und begrüßte Li dann richtig.

    „Und?, fragte er. „Hast du’s dabei?

    „Na sicher doch! Sie überreichte ihm die Stofftasche mit dem Klemmordner. „Sämtliche Ergebnisse sauber dokumentiert. Ihr seid offiziell blutsverwandt.

    „Was es alles gibt. Kurt machte eine Geste zum Sofa hin. „Setz dich, ich schau mir das nur schnell schon mal durch.

    Kaum hatte Li Platz genommen, tauchte auch schon Sonja aus der Küche auf, in den Händen einen Krug und zwei Gläser. „Eistee?"

    „Oh ja, gerne, bei der Hitze ist alles Kalte willkommen."

    Es klirrte, als die Eiswürfel ins Glas plumpsten. Li trank dankbar, während Kurt sich ganz auf die Papiere konzentrierte.

    „Da schau mal einer an. Er schüttelte den Kopf. „Was für eigenartige Verbindungen so ein Krieg doch schaffen kann. Wodan wird sich sehr dafür interessieren.

    „Aber ist das jetzt eine Erklärung?, entgegnete Li. „Ich meine, offenbar ist Timo doch der Einzige, der sie einfach so erkennt. Du kannst es nicht und wohl auch sonst niemand, der von Wodan abstammt.

    Kurt zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht. Aber andererseits habe ich eine enorm schnelle Reaktion, viel schneller als andere Menschen. Opa meint, dass solche kleinen Ausreißer bei Nachkommen von ihnen gar nicht so selten sind. Nur … so was Extremes haben sie bisher noch nicht erlebt. Wen er mit „ihnen meinte, darüber wurde nicht offen gesprochen, wenn die Kinder in der Nähe waren. Zu schnell konnten diese etwas in der Schule oder bei Freunden ausposaunen.

    Er legte die Papiere zurück in den Ordner und klappte ihn zu. „Das nehme ich morgen gleich mit ins Institut und zeige es ihm. Gute Arbeit."

    Li lächelte stolz. „Du weißt doch, wie gerne ich grabe. Aber das war echt schon eine archäologische Ausgrabung, hundert Jahre in die Vergangenheit. Kommt auch nicht alle Tage vor."

    Jetzt erklang von oben Fußgetrappel. Sekunden später lugten zwei schwarze Lockenköpfe um die Ecke. „Li!" quiekten sie, und im nächsten Moment hingen Tommi und Ami links und rechts an Lis Armen. Mit ihren acht und sechs Jahren hatten die beiden schon ganz schön Kraft.

    „He! Li lachte nur. „Lasst mich doch wenigstens meinen Tee abstellen, bevor ihr mich anspringt!

    „Eistee? Ami nahm Li das Glas aus der Hand und trank. „Mama!, rief sie beleidigt. „Warum hast du nicht gesagt, dass du Eistee gemacht hast?"

    Sonja erschien mit weiteren Gläsern in der Tür. „Weil ihr uns sonst alles weggetrunken hättet, mein Schatz."

    „Das ist gemein, protestierte Tommi. „Eistee ist süß, und Süßes ist für Kinder.

    „Das glaubst aber auch bloß du", entgegnete Kurt und griff sich schnell sein eigenes Glas, bevor seine Stieftochter es ihm wegschnappen konnte. In einem einzigen Zug trank er es leer.

    Ami sah ihn mit großen Augen an. „Papa Kurt, stellte sie fest, „du bist ein Säufer.

    Li sah auf die Uhr. Was? Schon sieben durch? Wie so oft hatten die Kinder sie so beschäftigt, dass sie die Zeit vergessen hatte. Sie wollte doch noch Plakate malen!

    Auch Kurt sah auf sein Handgelenk. „Oh, Nachrichten." Er schnappte sich die Fernbedienung und schaltete das ZDF ein. Die Sendung lief bereits. Gerade kommentierte jemand diesen lächerlichen Dieselgipfel und wie man den Autobauern mal wieder in den Hintern gekrochen war. War ja klar gewesen.

    Li trank ihr Glas leer und stand auf. „Leute, ich muss dann mal los."

    „Nöööö!, protestierte Ami und klammerte sich an Lis Bein fest. „Du kommst hier nicht weg.

    „Seid doch mal leise jetzt!, schimpfte Kurt. „Es sind Nachrichten, verdammt.

    Li wusste, ohne Lärm würde sie nicht wegkommen. Also gab sie für den Moment nach. War die Sendung erst einmal vorbei, konnte sie immer noch gehen. Die paar Minuten machten das Kraut nicht fett.

    Die Nachrichten wechselten zu dramatischeren Bildern. In Halle an der Saale hatte es einen schweren Verkehrsunfall mit mehreren Verletzten und einer Toten gegeben. Letztere war eine angeblich prominente Expertin für Volkswirtschaft gewesen, Professorin an der dortigen Universität und glühende Verfechterin eines gerechteren Wirtschaftssystems. Durch ein plötzliches, völlig sinnloses Manöver war sie in den Gegenverkehr geraten, hatte dadurch den Crash verursacht und war selbst dabei gestorben. Nur mit purem Glück waren die weiteren Verletzten mit vergleichsweise harmlosen Wunden davongekommen.

    „Guttke? Kurt kratzte sich am Kopf. „Martha Guttke, der Name kommt mir bekannt vor. Aber woher? Er zuckte mit den Schultern. „Ach, keine Ahnung. Was soll’s? Wenigstens ist es für die Anderen glimpflich ausgegangen."

    Kaum war der Wetterbericht vorbei, kämpfte sich Li aus der Umklammerung der Geschwister. Doch erst, als deren Mutter sie zur Ordnung rief, ließen die beiden den Besuch endlich gehen.

    „Ich will ja noch zu meinen Freunden, erklärte Li und drückte den Kindern einen Schmatz auf. „Plakate malen. Hab das ganze Auto voll mit dem Zeug dafür. Sie ignorierte Kurts säuerlichen Blick. Er war ihr Chef, und auch eine gute Freundschaft verband sie mit ihm, aber wofür sie sich in ihrer Freizeit engagierte, das ging ihn nun wirklich nichts an. Schnell noch ein Bussi für den kleinen Leif, der gemütlich auf Mamas Arm lag, Sonja die Hand geben, und schon war sie an der

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