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Feliks E. Dzierżyński: Eiserner Tschekist und gefeierter Held
Feliks E. Dzierżyński: Eiserner Tschekist und gefeierter Held
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Ebook311 pages4 hours

Feliks E. Dzierżyński: Eiserner Tschekist und gefeierter Held

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Nur 49 Jahre alt wurde Feliks Edmundowitsch Dzierżyński (1877–1926), Spitzname "Eiserner Felix". Davon stand er neun Jahre an der Spitze der Tscheka, des Nachrichtendienstes der jungen Sowjetunion, dessen Gründer er auf Geheiß von Lenin war. Diese neun Jahre sicherten ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern, sei es – aus westlicher Sicht – als "Bluthund der Revolution",
sei es – aus russischer Sicht – als Held, der entscheidend dazu beitrug, der jungen Sowjetunion das Überleben zu sichern. Und dies zu einem Zeitpunkt, als die meisten Beobachter sicher waren, dass diesem Staat keine Zukunft beschert
sei. Wer war der Mensch Feliks E. Dzierżyński, was prägte ihn, wie kam er dazu, diese entscheidende Position im jungen Sowjetstaat zu übernehmen? Was versetzte ihn in die Lage, das ihm anvertraute Amt höchst erfolgreich auszufüllen?
Diesen und anderen Fragen geht Philipp Ewers in der vorliegenden Biographie nach, mit der eine der wichtigsten Figuren aus dem Führungskader der jungen Sowjetunion beleuchtet wird. Ein facettenreiches und aus vielen Quellen gespeistes
einzigartiges Porträt.
LanguageDeutsch
Release dateMay 2, 2018
ISBN9783958415560
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    Book preview

    Feliks E. Dzierżyński - Philipp Ewers

    www.buchredaktion.de

    Vorwort

    Aus westlicher Sicht ist die Sache klar. Feliks Edmundowitsch Dzierżyński war ein finsterer Verbrecher, »Stalins Henker«, auf einer Stufe mit Himmler und Heydrich. Schiebt man einmal die dabei mitschwingenden Vor- und Fehlurteile beiseite und versucht, eine etwas weniger voreingenommene Sicht auf das Leben des »eisernen Feliks« zu gewinnen, wird die Sachlage schnell weniger eindeutig. Was war er denn nun, Held oder Finsterling? Die Frage lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Zumal aus anderem Blickwinkel sich differierende Wertungen ergeben, denen zufolge der »erste Tschekist« in vieler Hinsicht bemerkenswerte Erfolge beim Aufbau des Sowjetstaats erzielen konnte. Und das nicht aufgrund des »Headcounts«, der Zahl der angeblich von der Tscheka umgebrachten Unschuldigen. Um in diesem Widerstreit der Meinungen sicheren Grund zu gewinnen, wollen wir auf den folgenden Seiten die unumstößlichen Fakten sammeln und auf der Basis valider Daten ein Bild dieser geschichtlichen Persönlichkeit entwerfen, das den Lebens- und Zeitumständen gerechter wird.

    Betrachtet man die sowjetische Nationalgeschichte von ihrem Ende her, so fällt auf, dass die Leninstatuen zumeist stehen blieben, selbst in der von Westblock-U-Boot Jelzin auf Geheiß seiner US-Berater 1991 in die Unabhängigkeit verstoßenen Ukraine (Jelzin rief nach der Unterzeichnung der Kapitulationserklärung der Sowjetunion vulgo Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha, als Erstes US-Präsident Bush an, um ihm die freudige Mitteilung persönlich zu übermitteln) – erst nach dem EU-Putsch 2013/14 änderte sich das: Als Zeichen für die gewaltsame Neuorientierung der mit Russland eigentlich traditionell untrennbar verbundenen Ukraine fielen nun die Leninstatuen im ganzen Land. Soweit das Schicksal der Leninstatuen. Dzierżyński selbst fiel schon 1989, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks der Damnatio memoriae zum Opfer, jener aus der Antike bekannten Strategie, durch die Vernichtung sämtlicher Abbilder die Erinnerung an eine bestimmte geschichtliche Persönlichkeit auszulöschen. In Warschau fiel seine Statue, und der nach ihm benannte Platz wurde anderweitig benamst. In Moskau räumten übereifrige Helfershelfer westlicher Okkupationsstrategien 1991 die Statue vor der Lubjanka ab (aber schmolzen sie zumindest nicht ein, sondern archivierten sie). Mit den Abbildern Dzierżyńskis sollte auch die Erinnerung an die Sowjetunion möglichst schnell vernichtet werden. So wie in den östlichen Berliner Stadtteilen nach der Okkupation durch die BRD 1990 ruckzuck sämtliche Spuren der DDR-Vergangenheit beseitigt wurden, von der Zerstörung des Lenin-Denkmals (Good bye, Lenin!), der Umbenennung des gleichnamigen Platzes, bis hin zum Abriss des Palastes der Republik und stattdessen der Reproduktion ex nihilo des Hohenzollernschlosses. In ihrem Übereifer entfernten die Geschichtsfälscher sogar das »Schandmal« der DDR, den »antifaschistischen Schutzwall« rund um Westberlin, fast restlos, so dass für eine »Gedenkstätte« nur noch ein paar wenige Mauer­teile an der Bernauer Straße übrig blieben, die dann zum »Mahnmal« hochgejazzt wurden.

    Eines ist von vornherein sicher. Anfang, Entstehung und Überleben der Sowjetunion im ersten Lustrum, im ersten Jahrfünft, in den kritischen ersten Jahren 1917 bis 1922, wären ohne Dzierżyński nicht denkbar. Seine Rolle war zentral in den revolutionären Anfängen der So­wjetunion und dem Ringen um ihren Bestand während des Bürgerkriegs und der ausländischen Interventionen zwischen 1918 und 1920. Vergleicht man diese Phase der Geschichte der Sow­jetunion mit ihrem Ende unter Bresch­new und Gorbatschow, dann wird das gesamte Ausmaß der Erstarrung, der Versteinerung, der Verorthodoxierung von Staat und Gesellschaft deutlich. Am Anfang der Geschichte der Sowjetunion steht, nach Lenins gezielter Nutzung der kaiserlich-deutschen Unterstützung, der ebenso virtuose wie siegreiche Kampf um ihr Überleben in den ersten kritischen Monaten und Jahren, als Feinde von allen Seiten in die junge russische Sowjet­union eindrangen und ihr Überleben mehr als einmal an einem seidenen Faden hing (zur deutschen Unterstützung Lenins vgl. Johannes Seiffert: Die größten Täuschungen der Geschichte. Berlin 2016, sowie Philipp Ewers: Putin verstehen? Russische Außen- und Sicherheitspolitik der Ära Wladimir Putin. Berlin 2016.). Damals waren Persönlichkeiten wie Lenin, Trotzki und Dzierżyński in der Lage, alle Kräfte zu bündeln und am Ende den Sieg zu erringen. Knapp sieben Jahrzehnte später war der von ihnen geschaffene, erste sozialistische Staat der Welt nicht mehr in der Lage, den vielfältigen, multifrontalen, polymorphen, offenen und verdeckten Angriffen des Westblocks standzuhalten. Gefangen in ihrer eigenen Erstarrung und der suboptimal organisierten Kaderauswahl nicht mehr nach Leistung, sondern weitgehend nach Parteidienstjahren, mangelte es an fähigen Anführern auf allen Ebenen. Das versammelte Personal erwies sich als unfähig, die staatlichen Strukturen als unzureichend, um ein Überleben dieser Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts weiterhin zu gewährleisten. Während die chinesischen Genossen mit Deng Xiaoping einen Denker und Visionär an der Spitze hatten, der seit 1978 dar­auf hinarbeitete, die exzessive (und per se zerstörerische und keineswegs kreative) Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise dem Sozialismus dienstbar zu machen, sie also zu kanalisieren, zu domestizieren und somit für die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu nutzen, verbunden mit der weiterhin führenden Rolle der Partei und sozialistischer Gesellschaftsstrukturen, fand der Sowjetsozialismus in den achtziger Jahren keinen Ausweg mehr aus der Negativspirale wirtschaftlichen und politischen Niedergangs Richtung Kapitulation. Angesichts der schwer und opferreich erkämpften Errungenschaften sozialistischer Gesellschaften ist es umso beschämender, wie leichtfertig sie am Ende dahingegeben wurden, wie gering der Widerstand gegen die gesamtgesellschaftliche Kapitulation war. Einer Kapitulation gegenüber dem triumphierenden Kapitalismus, der jauchzenden Hochfinanz und den Salut schießenden imperialistischen Streitkräften, die sich dann umgehend ans Werk machten, die Überlassenschaften des Sozialismus auf Kapital- und NATO-Kurs zu bringen. Natürlich unter Ausschluss Russlands, das – unabhängig von der dort gerade vorherrschenden Gesellschaftsform – vom Westblock unabänderlich als Erz- und Erbfeind betrachtet wird, mit dem es nichts anderes als Zwist und Konkurrenz beziehungsweise erbarmungslosen Kampf bis aufs Messer geben kann.

    Feliks Dzierżyński war ein Kämpfer, er war einer der entscheidenden Faktoren, die das Überleben der Oktoberrevolution und der von ihr hervorgebrachten neuen sowjetischen Gesellschaftsform in den Jahren nach 1917 sicherten, also in jener kritischen ersten Phase, als der junge Sowjetstaat mehr als einmal kurz vor seinem Ende zu stehen schien. Fast ein Viertel seines Lebens, insgesamt elf Jahre, hatte er im Gefängnis beziehungsweise in Verbannung zubringen müssen. Seine Mitkämpfer verliehen ihm den Titel »eiserner Feliks«, angesichts seiner vielfältigen Verdienste im Kampf um die künftige Geschichte der Sowjetunion und angesichts seiner unbeugsamen Haltung gegenüber den Schicksalsschlägen, die sein eigenes Leben, aber auch das seines Staates betrafen. Seit seinem 17. Lebensjahr widmete sich Dzierżyński dem Kampf für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im damaligen russischen Zarenreich. Als Agitator der Proletarier in Kaunas und Wilna in Litauen begann er seine Karriere, die ihn schon bald zum Berufsrevolutionär werden ließ, der sein Leben im Kampf gegen das verbrecherische Zarenregime einsetzte und der sich unermüdlich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der »kleinen Leute«, der »Vergessenen« engagierte.

    Diese Zielgruppe spielte zuletzt bekanntlich im US-Wahlkampf 2016 eine entscheidende Rolle, als Kandidat Trump versprach (eine der durchschaubarsten Wahlkampflügen aller Zeiten), sich für die »Zurückgelassenen«, die von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängte ehemalige weiße Mittelschicht, einzusetzen. Das brachte ihm den Wahlsieg ein – Zeichen dafür, wie groß die kritische Masse in den Industriestaaten des Westblocks mittlerweile geworden ist; in der BRD könnte man hierzu den Wahlerfolg der AfD heranziehen, die mit sage und schreibe 92 Abgeordneten im neuen »Bundestag« der Wahlperiode 2017–2021 sitzt. Dieses »Versprechen« hinderte Trump natürlich keine Sekunde lang daran, unmittelbar nach seiner Amtseinführung die Umverteilungspolitik seiner Amtsvorgänger Obama & Co. nahtlos fortzusetzen und die depravierte ehemalige Mittelklasse noch weiter zu depravieren und ihrer letzten Besitzstände zu berauben, so im Dezember 2017 durch die »Steuerreform«, die in Wahrheit eine weitere Umverteilungsrunde von unten nach oben bedeutete; aber auch durch die Reform der Krankenversicherung, die Millio­nen von US-Amerikanern diese Form der staatlichen Absicherung entzog.

    Dzierżyński lernte Lenin beim 4. Parteikongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSA) persönlich kennen, der 1906 in Stockholm stattfand – die Kongresse mussten im Ausland stattfinden, da die Partei vom Zaren verboten worden war. In den Jahren danach wurde er zum engen Mitarbeiter Lenins. So ist es kein Wunder, dass Dzierżyński persönlich in die Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution 1917 in Petrograd involviert war. Unmittelbar nach der Revolution wurde er zum Vorsitzenden der Allrussischen außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Sabotage und Korruption (Bсероссийская чрезвычайная комиссия по борьбе с контрреволюцией, спекуляцией и саботажем, kurz: Tscheka) ernannt. Diese setzte sich mit den zahlreichen Feinden der jungen Sowjetrepublik auseinander, und das mit adäquaten Mitteln, was Dzierżyński unter Bolschewiken den Nimbus eines Helden, im Westblock den Ruf eines ruchlosen Verbrechers einbrachte. Ab März 1919 leitete er das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (Народный комиссариат внутренних дел, im Westblock mit seiner Abkürzung NKWD bekannt und als »verbrecherische Organisation« geschmäht), führte aber seine Arbeit an der Spitze der Tscheka parallel weiter. Er nahm eine führende, entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Revolutionsherrschaft im gesamten russischen Staatsgebiet und in den angeschlossenen Sowjetrepubliken ein. Im April 1921 wurde er zusätzlich zum Minister für Transportwesen ernannt. Gerade Transport und Verteilung strategisch wichtiger Güter wie Lebensmittel, Treibstoff und Waffen hatten sich als kritisch für die Sowjetunion herausgestellt. Auch hier brachte er sein Organisationstalent und seine Fähigkeiten als Motivator und Lenker eines Riesenapparats zur Geltung. Zudem wurde er Vorsitzender des Obersten Wirtschaftsrates der Sowjetunion (Вы́сший сове́т наро́дного хозя́йства) und leistete in dieser Funktion entscheidende Hilfe bei der beschleunigten Industrialisierung des in vielen Bereichen rückständigen Landes. Insbesondere kümmerte er sich um die Metallindustrie, die Flugzeugindustrie und die Landmaschinenherstellung. Er setzte sich zeitlebens für eine Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung ein und galt als großer Förderer der höheren Schulbildung in der Sowjetunion.

    Seit den Anfängen der Sowjetunion gehörte er zu den gewählten Delegierten zahlreicher Parteikongresse. Er war aktiv beteiligt an einer Reihe von staatsbildenden Initiativen zu Beginn der Sowjetrepublik, als das gesamte Staatswesen ad hoc entwickelt und aktiviert werden musste, und zeichnete sich als Leiter der Kommission zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kindern (комиссия по улучшению жизни детей) aus. Diese Tätigkeit unterstreicht einmal mehr seine im Westen komplett ignorierten humanistischen Ideale. Seine umfassenden Tätigkeiten an der Spitze der Sowjetunion fanden ein unerwartetes Ende durch seinen frühen, allzu frühen Tod am 20. Juli 1926, im Alter von gerade mal 48 Jahren. Wie es in seinem Nachruf hieß, hatte er in den Folterkammern des Zarentums, im sibirischen Exil, während der Jahre in zaristischen Zuchthäusern, der Untergrundtätigkeit und als Regierungsmitglied immer in vorderster Front gestanden und sich dabei aufgerieben. Das elitäre Wachregiment »Feliks Dzierżyński« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, am Ende eine Einheit in Divisionsstärke mit fast 11.000 Mann, wurde natürlich am 2. Oktober 1990 wie der Rest der DDR aufgelöst, zusätzlicher Beleg für den historischen Umschwung, der mit dieser Zeitenwende einherging. Die Erinnerung an Feliks Dzierżyński lebt weiter. Eher positiv besetzt in weiten Teilen des Ostblocks, umfassend negativ besetzt in weiten Teilen des Westblocks. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, eine neutralere, gerechtere Sichtweise auf Leben und Werk zu ermöglichen.

    Zimmerwald, im Frühjahr 2018

    Philipp Ewers

    Kindheit, Jugend und revolutionäre Anfänge

    Feliks Edmundowitsch Dzierżyński wird in eine Intellektuellenfamilie geboren. Sein Vater, Edmund Dzierżyński, gehört einem verarmten Zweig des polnischen Kleinadels an und arbeitet als Lehrer. Seine Mutter Helena, geborene Januszewska, entstammt einer Akademikerfamilie. Ihr Vater ist Professor am Eisenbahninstitut Sankt Petersburg, ihre beiden Brüder Transportingenieure. Von den insgesamt zehn Dzierżyński-Brüdern erhalten nur Edmund und Felician eine höhere Schulbildung. Edmund studiert an der Fakultät für Physik und Mathematik der Universität Sankt Petersburg und legt das Examen 1863 ab. Drei Jahre später zieht er mit seiner Familie ins 1.500 Kilometer entfernte südrussische Taganrog am Asowschen Meer. Er unterrichtet dort Physik und Mathematik am Gymnasium (heute Tschechow-Literaturmuseum). Der Aufenthalt im Kurort mit dem milden subtropischen Klima und seiner seit dem Mittelalter ansässigen griechisch-italienischen Minderheit – dort begann der Aufstieg Giuseppe Garibal­dis zum italienischen Einigungshelden – soll Edmunds Gesundheit fördern. Dieser leidet an Schwindsucht, die harte Arbeit setzt seiner Gesundheit zu. Nach neun Jahren im Süden zieht er 1875 mit seiner Familie zurück in die Heimat, auf die Dzierżyńovo-Güter am Rande der Nalibozkaja Heide, einem heute über achthundert Quadratkilometer großen Naturschutzgebiet Weißrusslands. Dort lässt er sich von einem seiner Neffen, dem Architekten Justyn Dzierżyński, ein neues Anwesen errichten.

    Das kleine Gutshaus am Ufer des Usa-Flusses wurde 2005, sechzig Jahre nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, auf Wunsch Alexander Lukaschenkos rekonstruiert und ist seitdem alljährlich Schauplatz der Vereidigungszeremonie für neue Truppengenerationen des weißrussischen KGB. Dort wird am 30. August 1877 Feliks Dzierżyński geboren. Vater Edmund ist sozial engagiert und unterrichtet in seiner Freizeit unentgeltlich die Kinder der armen Landbevölkerung, die ansonsten überhaupt keine Chance auf Schulbildung hätten. Er bringt ihnen Lesen und Schreiben bei. Den im Elend lebenden Eltern dieser Kinder bietet er an, im Falle von Auseinandersetzungen mit den Landbesitzern, den Kulaken und der Polizei mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Edmund stirbt 1882 an Erschöpfung, im Alter von gerade mal 42 Jahren. Er hinterlässt eine Witwe mit nicht weniger als acht Kindern. Die Familie lebt von nun an von der kleinen Witwenrente sowie von den geringen Erträgen des Landbesitzes. Helenas Mutter, Kazimiera Januszewska, unterstützt die Familie ebenfalls regelmäßig mit einem kleinen Betrag. Beim Tod seines Vaters ist Feliks erst fünf Jahre alt. Bereits zuvor sind die Dzierżyński-Kinder dazu erzogen worden, konzentriert zu arbeiten, Dinge allein zu erledigen und einander zu helfen. Helena bemüht sich redlich, ihren acht Kindern nach dem Tod des Vaters eine freundliche und warmherzige Atmosphäre zu schaffen und sie gesund und mental stark großzuziehen. Im Sommer unternehmen ihre Söhne lange Bootstouren auf der Usa, einem Nebenfluss des Niemen (Memel), oder gehen auf lange Wanderungen in der Nalibozkaja Heide. Feliks hat viele Freunde unter der Dorfjugend, er ist ein begabtes und sensibles Kind, das dennoch mit den einfachen Landbauernlümmeln gut klarkommt. Er liebt Tiere und hält die anderen Kinder immer wieder davon ab, einem ihrer Lieblingsspiele nachzugehen, wehrlose Tiere wie Katzen, Karnickel oder Hasen zu quälen. Er liebt die Natur, liebt die langen Wanderungen durch die Wälder der Umgebung, sich an heißen Tagen ins Flusswasser zu stürzen und am Ufer der Usa auch manche Stunde beim Fischen und Krabbenfangen zuzubringen.

    Der Kontakt mit den gleichaltrigen Dorfkindern vermittelt ihm, dass das Leben der ärmeren Dorfbevölkerung hart und entbehrungsreich ist. Vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt entwickelt er ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Seine Mutter Helena setzt alles daran, bei ihm und ihren anderen Kindern gleichermaßen die körperliche, moralische und intellektuelle Entwicklung zu fördern. Sie ist naturgemäß die Person, die den größten Einfluss auf den jungen Feliks ausübt. In Briefen an seine Lieblingsschwester Aldona bringt er rückblickend immer wieder zum Ausdruck, wie sehr sich die mütterliche Liebe beispielgebend und wohltuend auf sein Leben ausgewirkt habe. Politisch sind die Zeiten von vielen Irrungen und Wirrungen geprägt, der polnische Aufstand von 1863, der vom Zarenregime blutig niedergeschlagen wurde, ist zwei Jahrzehnte später, während der Kindheit und Jugend von Feliks, noch sehr präsent in der Bevölkerung dieses Teils des ehemaligen polnischen Königreichs.

    Viele Jahre später schreibt Dzierżyński 1914 in einem Brief an seine Ehefrau, dass er sich nur zu gut an die Nächte in dem kleinen Dzierżyński-Landhaus erinnere, als die Mutter Geschichten vorlas oder erzählte und der Wind ums Haus heulte. Es ging dabei auch um die sozialen Ungerechtigkeiten, die drückenden Steuerlasten für die armen Bauern. Diese Geschichten hinterließen in den Kindern, und insbesondere bei Feliks, bleibenden Eindruck. Er schreibt, er fühlte sich damals persönlich angegriffen, wenn er die Geschichte von Übergriffen der Obrigkeit hörte. Dominierend in diesen Briefen ist allerdings die große Liebe zur Mutter, die alle Dzierżyński-Kinder prägte. Sie habe ihre Seelen mit Liebe gefüllt und in ihrem Herzen für immer einen prominenten Platz. Mit sechs Jahren beginnt für Feliks der Ernst des Lebens, die Mutter ist seine erste Lehrerin, sie bringt ihm zunächst Polnisch, dann ein Jahr später auch Russisch bei. Sie wird unterstützt von seiner älteren Schwester Aldona, die mithilft, ihn fürs Lyzeum vorzubereiten, das er mit zehn Jahren beginnt, im Jahre des Herrn 1887. Zu diesem Zweck zieht die Familie in die Metropole Wilna, Hauptstadt Litauens.

    Die Sommer verbringt die Familie weiterhin in Dzierżyńovo. Feliks sieht die heimatlichen Güter letztmalig im Sommer 1892. Noch im Gefängnis und Tausende von Kilometern entfernt in der Verbannung im äußersten Sibirien, am Rande des Polarkreises wird ihn immer die Erinnerung an die Idylle, das kleine Paradies am Usa-Fluss begleiten. Er sehnt die Zeiten herbei, da die autokratische, repressive Zarenherrschaft beendet sein würde und er endlich wieder nach Hause gehen könnte. 1889 wechselt er auf ein Internat, das er bis 1895 zusammen mit seinen Brüdern besucht. Was ihn dort besonders stört, ist die staatlich verordnete Gesinnungsschnüffelei, die ständigen Fahnenappelle und permanente prozaristische Indoktrination. Die zaristische Geheimpolizei Ochrana versucht angesichts der zu diesem Zeitpunkt steigenden Unzufriedenheit und anschwellenden Unruhen, bereits die Heranwachsenden unter ihre Kontrolle zu bringen beziehungsweise mögliche Systemgegner möglichst früh zu entdecken. (Diese Strategie ähnelt jener der BRD- beziehungsweise Westblock-Geheimdienste bis zum heutigen Tage, die ebenfalls schon in den Schulen Gesinnungsschnüffelei betreiben.) Während seiner Internatszeit entwickelt er schnell den Ruf des unangepassten und kritischen Zeitgenossen, der sich für ungerecht bestrafte Mitschüler einsetzt. Mehr als einmal kann seine Familie nur knapp den drohenden Schulverweis abwenden. Während seiner Schulzeit ist Dzierżyński ein fleißiger Leser. Er kennt die polnischen und russischen Klassiker wie die von Adam Mickiewicz, Maria Konopnicka, Ludwik Kondratowitsch, Boleslaw Prus, Alexander Puschkin, Michail Lermontow und Nikolai Nekrassow. Ebenso beschäftigt er sich mit den Werken von Nikolai Gogol und Michail Saltykow-Schtschedrin sowie mit Wissarion Belinski und Ale­xander Herzen. In Wilna begegnet er aber auch dem dortigen Industrieproletariat der aufstrebenden Industriemetropole. Es stellen sich ihm die natürlichen Fragen: Warum müssen so viele Arbeiter hart arbeiten und manchmal Hungers sterben, während einige wenige Ausbeuter ein Luxusleben führen? Ab der siebten Klasse des Lyzeums (mit siebzehn Jahren beziehungsweise 1894) ist Feliks ein bekennender Atheist; der Gottglauben, zu dem ihn seine Mutter erzogen hatte, hält der sozialen Wirklichkeit im Zarenreich nicht stand. Er sucht ab diesem Zeitpunkt nach Wegen, um der schreienden sozialen Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Da linke Literatur verboten ist, stellt es sich für Feliks als schwierig heraus, an solche Werke heranzukommen, in denen er Antworten auf seine vielen Fragen vermutet. Da er in diesem Stadium seines Lebens noch keinen Anschluss an die organisierte Linke gefunden hat, muss er sich eigenständig auf diesem Gebiet vorantasten, ohne Anleitung, ohne Hilfe. Mit der Zeit kann er sich wenigstens Auszüge der Werke von Marx, Engels und Lenin beschaffen und bekommt so erste Vorstellungen einer alternativen Zukunft für die marode Gesellschaft im Zarenreich.

    Ebenfalls in diesen Monaten erhält Dzierżyński Kontakt zu illegalen Studiengruppen von Mit-Gymnasiasten, Untergrund-Lesezirkel, in denen diese jungen Menschen sich dem Studium der sozialistischen Klassiker widmen. So eröffnet sich ihm erstmals die Gelegenheit, unter anderem das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels zu lesen, den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von Engels, Georgi Plechanows Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung sowie das Erfurter Programm der insgeheim schon damals auf Konfrontationskurs zum Kommunismus befindlichen, reaktionären Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Im Gegensatz zu vielen seiner nationalistischen Landsleute ist Dzierżyński überzeugter Internationalist, er fühlt sich dem Klassenkampf in Russland genauso verbunden wie den Auseinandersetzungen zu Hause in Litauen und Polen. Im Kontakt mit den Untergrund-Studierzellen und den Arbeitern der großen Industriewerke Wilnas wird Dzierżyński schnell zu einem gewieften Agitator und einem wirkungsvollen Redner. Doch auch die Techniken und Strategien der Illegalität gehen ihm in Fleisch und Blut über. Durch strenge Disziplin in Fragen der Untergrundarbeit gelingt es ihm, seine »bürgerliche« Existenz als Internatsschüler zu wahren. Für seine Tätigkeit in der Illegalität benutzt er den Tarnnamen »Jakub«.

    Im Untergrund findet er schnell Anschluss an eine größere Gruppe sozial interessierter Zeitgenossen, zu denen der Arbeiterdichter Andrzej Gulbinowicz gehört. Dieser beschreibt ihn rückblickend als wissbegierigen, intelligenten jungen Mann, der sich bei Treffen weniger durch langatmige Redebeiträge, sondern durch kurze, knappe Bemerkungen auszeichnete. Willig habe er die verschiedensten Aufgaben übernommen und unermüdlich am Ausbau des Untergrundnetzwerks gearbeitet. Bei einem geheimen Treffen der Arbeiterjugend Wilnas in den nahe gelegenen Gediminas Bergen schwört Dzierżyński 1894, sein Leben dem Kampf um soziale Gerechtigkeit zu weihen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und sich für die Freiheit des Volkes einzusetzen. Und während der sieben Jahre ältere Lenin 1895 mit 25 Jahren in Sankt Petersburg die Liga zur Emanzipation der Arbeiterklasse gründet (die Keimzelle der späteren Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei RSA), tritt Dzierżyński im Herbst 1895 im Alter von 18 Jahren der Sozialdemokratischen Partei Litauens (SDL) bei. Zu diesem Zeitpunkt benutzt er das Alias »Jacek«. Im Oktober 1895 zieht seine Großmutter Kazimiera Januszewska nach Wilna, um sich stellvertretend für die mit den weiteren sieben Kindern beschäftigte Mutter um Feliks zu kümmern, dessen immer größere Ausmaße annehmendes Engagement in der linken Untergrundszene die Familie beunruhigt. Sie bezieht ein Haus in der Poplawska-Straße und nimmt die schulpflichtigen Kinder bei sich auf. Feliks und seine Brüder sind froh, das verhasste Internat verlassen zu können und wieder eine normale Schule zu besuchen. Doch das hält Feliks nicht davon ab, mit seinen illegalen Unternehmungen aufzuhören. Im Gegenteil. Er richtet im Hinterhof des großmütterlichen Hauses eine kleine Untergrunddruckerei ein. Zusammen mit anderen Mitstreitern plakatiert er immer wieder nachts das gesamte Stadtgebiet von Wilna mit aufrührerischen Pamphleten. Dank der strikt eingehaltenen Disziplin fliegt die Druckerei im Hinterhof des großmütterlichen Hauses niemals auf. Die zaristische Geheimpolizei schafft es nicht, die Quelle dieser Pamphlete zu orten,

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