Der ehrenwerte Herr L.: Ein SS-Offizier unter Verdacht
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Anfang Mai 1960 wurde er erneut verhaftet und wegen der Erschießung von Juden angeklagt. Das erregte in Bremen erhebliches Aufsehen, da er als Oberregierungsrat das Lastenausgleichsamt leitete. Doch wurde er nicht verurteilt.
Hier werden seine Lebensgeschichte und seine Verstrickung in die Nazi-Verbrechen sowie das Anklagegeschehen dargestellt.
Anne E Dünzelmann
Die Autorin Anne E Dünzelmann hat neben der Ausbildung zur Buchhändlerin ein Studium der Ethnologie und Sozialanthropologie mit Promotion durchlaufen. Nach dem Studium war sie in unterschiedlichen Bereichen tätig, u. a. in der Forschung und als Privatgelehrte. Dafür stehen auch entsprechende Veröffentlichungen mit ihren Bezügen zu bestimmten Themen.
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Book preview
Der ehrenwerte Herr L. - Anne E Dünzelmann
Inhalt
I
Prolog
Rekonstruktion
Im Krieg
Nach 1945
Demaskierung
Zur Person
Epilog
II
Erwin Schulz
Einsatzgruppe C
Einsatzkommando 5
Sonderkommando 1005
Einsatzgruppenprozess
Lemberg und das Janowska-Lager
Berditschew / Uman / Kiew
Denkmäler und aktuelle Situation
III
Anmerkungen
Abkürzungen
Abbildungsnachweise
Quellen und Literatur
Prolog
Der Oberregierungsrat Lumm kam oft in die Buchhandlung gegenüber der katholischen Kirche im Bremer Schnoorviertel. Er war Leiter einer Behörde, literarisch interessiert, gebildet, gläubiger Katholik, guter Familienvater. Äußerlich machte er einen sehr gepflegten Eindruck, vermittelte Integrität, Distinktion, eine sein Ich tragende Ruhe. Kein Chaos war sichtbar, keine Brutalität, keine Falschheit. Uns Auszubildenden begegnete er mit Höflichkeit, ohne Anmaßung. Ein Mann, der mit sich im Reinen war. Oft wurde über ihn in der Buchhandlung bewundernd gesprochen.
Eines Morgens im Frühsommer 1960 raste der Besitzer der Buchhandlung herein und rief spontan: »Kinder, habt Ihr schon die Zeitung gelesen? Stellt Euch vor, unser Herr Lumm ist verhaftet worden. Er soll an Judenerschießungen in Lemberg[/Lwiw]⁰ beteiligt gewesen sein!« Das saß. Nach einer Weile und spontanen Äußerungen von Ungläubigkeit und Entsetzen kristallisierte sich die Frage nach der aktuellen Persönlichkeit des Herrn L. War er wirklich ein Nazi, ein Kriegsverbrecher gewesen und, das vor allen Dingen, war er immer noch ein Nazi? Hat er seine Tat verdrängt oder vielleicht bereut, seine Schuld eingestanden? Wie kann jemand sich so verstellen, über Jahre hinweg. Hoffte er, unentdeckt zu bleiben hinter seiner Maske der Wohlanständigkeit? Dachte er, sich hinter und in seiner Familie, der Kirche und der sozialen Stellung als Oberregierungsrat verstecken zu können? Wie konnte er überhaupt zu dieser Position gelangen? Er war doch bei der Gestapo tätig gewesen und muss als solcher den früheren Verfolgten und späteren politischen Machthabern bekannt gewesen sein.
Die erzählende Protagonistin fuhr in der Mittagspause nach Hause und traf dort einen Bruder der Mutter an. Mit ziemlicher Verstörung erzählte sie von dem Geschehen. Der Onkel reagierte mit Wut: »Recht so, sie gehören alle verhaftet, das sind Verbrecher.« Für die Neunzehnjährige war das ein klarer Standpunkt und brachte Ruhe in das momentane persönliche Chaos. Doch die Causa Lumm trieb die sich betrogen fühlende Protagonistin lange um und soll hier endlich Klärung erfahren. Jahrzehnte später öffnete sich wieder die Datei Lumm und damit Fragen wie:
Hat Hermann Lumm sich schuldig gemacht?
Ist er verurteilt worden?
Hat er sich seiner Schuld gestellt und seine Zeit in der SS und im SD überhaupt bereut?
Letztendlich geht es vor allem um Schuld, Sühne und Gerechtigkeit.
In der Folge wird seiner Lebensgeschichte im Kontext zu den politischen Ereignissen nachgegangen. Wobei der subjektive Faktor in Relation zum objektiven Handeln mitzudenken wäre.
Rekonstruktion
Hermann Heinrich Wilhelm Lumm
* 2. 3. 1912 in Bremen, † 8. 10. 2000 in Bremen
SS-Nr. 272.349; NSDAP-Nr. 4.183.394
Hermann Lumm wuchs in der St. Jürgenstraße im Bremer Steintorviertel in einer Familie mit evangelischer Konfession auf. Der Vater Paul war laut Bremer Adressbuch von Beruf Seemann bzw. Schiffsoffizier und etwa ab 1920/21 als Weserlotse tätig. Politisch gehörte er dem ›Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten‹ an, während die Mutter aus einem sozialdemokratischen Elternhaus stammte. Zu dieser Zeit lebte die Familie in der Lloydstraße, während Hermann nach der Volks- bzw. Vorschule 1921 die sechste Klasse (Sexta) des Bremer Realgymnasiums (das heutige Hermann-Böse-Gymnasium) besuchte. Im September 1922 verließ Hermann diese Schule als Fünftklässler und zog mit der Familie nach Bremerhaven/Wesermünde. Dort war er zunächst auf der Realschule und von 1927 bis 1929 auf der Oberrealschule in der Hafenstraße. Danach besuchte er für ein Jahr die Höhere Handelsschule, schloss aber nicht mit dem Abitur ab und begann im April 1930 eine kaufmännische Lehre. Nach kurzer Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter wurde er Anfang 1933 arbeitslos. Nach eigener Aussage war er bis dahin politisch nicht aktiv gewesen und 1933 politisch noch unreif. Doch blieb die nationalsozialistische Machtübernahme nicht ohne Eindruck auf ihn. Von März bis Oktober 1933 hielt er sich im Arbeitslager Sandstedt/Unterweser des ›Jungstahlhelm‹¹ auf. Ab Oktober arbeitete er erneut als kaufmännischer Angestellter. (StAB 4,39/2-; 4,66-I-6871; 4,82/1)
1: Hermann Lumm, li., Erwin Schulz, re. im Polizeihaus Bremen, April 1937 an der Wand ein Ausspruch von Heinrich Himmler
Zum Februar 1934 konnte Lumm als Verwaltungsangestellter beim Zoll und später bei der Polizeidirektion Wesermünde tätig sein, womit der Grundstein für seine polizeiliche Karriere gelegt wurde. In diesem Jahr begann auch der langanhaltende berufliche Kontakt zu Erwin Schulz (→ II.1). Ende 1934 »wurde ich als Angehöriger der Gestapo automatisch in den SD übernommen und damit SS-Angehöriger (Rottenführer)«, so seine spätere Aussage. Laut Aktenvermerk war er allerdings bereits seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der SS. Im SD war er seit Oktober 1935 ehrenamtlich tätig. In diesemZeitraum kam er zur Abteilung Abwehr und Grenzpolizei, 1936/37 absolvierte er einen Kriminalkommissar-Lehrgang in Berlin und trat 1937 der NSDAP bei. Laut Personalbericht war er ab April 1937