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Die Verwechslung
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Die Verwechslung

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Frank Theves, ein erfolgreicher TV-Talkmaster, hat soeben seinen ersten Roman veröffentlicht. Aufgrund einer Äußerung in seiner Sendung erhält er eine fragwürdige Auszeichnung, den "Giftigen Kaktus" für die schwulenfeindlichste Äußerung des Jahres. Theves greift das Thema auf und verstrickt sich immer tiefer darin, bis er auch die Menschen in seinem Umfeld verstört. Eine Freundschaft zerbricht, seine Ehe gerät in die Krise. Was treibt ihn an, warum kann er von dem Thema nicht lassen?

Hat es womöglich etwas mit einer irritierenden Namensverwechslung zu tun, die Theves erst nach dem Erscheinen seines Romans bemerkt? Er hatte eine Szene aus seiner Schulzeit beschrieben, die Misshandlung eines Jungen durch einen Pater. Mit Absicht hatte er den Geistlichen beim Namen genannt. Doch nun wird ihm bewusst, dass er den Falschen an den Pranger gestellt hat. Als Theves über den Pater zu recherchieren beginnt, kommt ein Missbrauchsskandal ans Licht und Theves wird mit seiner eigenen verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Seine scheinbar perfekte Existenz beginnt brüchig zu werden.

Ein höchst aktueller Roman über Gender-Fragen, Homophobie und Political Correctness.
LanguageDeutsch
Release dateMay 17, 2018
ISBN9783701362585
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    Book preview

    Die Verwechslung - Dietmar Krug

    Epilog

    Der Buchstabe

    Er wusste nicht, wie lange er schon wach lag. Mit geschlossenen Augen versuchte er, seinen Atem dem Ticken des Weckers anzupassen, um ruhiger zu werden. Neben sich hörte er die regelmäßigen Atemzüge seiner Frau, und er begann, sie um ihren Schlaf zu beneiden. Er zog sich das Betttuch vom Körper, Schweiß hatte sich auf seinem Brustbein gesammelt. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster drang die kühle Luft einer windstillen Frühlingsnacht. Der nahe Wald sandte Feuchte aus, aus der Ferne waren die Geräusche der Stadt zu hören.

    Schließlich öffnete er die Augen und überließ sich seinen Gedanken, die in immer neuen quälenden Kreisen vergeblich versuchten, ein keimendes Unbehagen zu unterdrücken. Und obwohl er wusste, dass es zu nichts führen würde, ging er das Ganze noch einmal durch. Was drohte ihm jetzt eigentlich? Waren seine Ängste nicht haltlos übertrieben? Das schlimmste Szenario war doch folgendes: Ein Gericht würde die weitere Veröffentlichung seines soeben erschienenen Romans per einstweiliger Verfügung verbieten. Dann würde er halt mit offenen Karten spielen, seinen Fehler zugeben, die falsche Anschuldigung öffentlich aus der Welt räumen und den Ruf des Mannes, den er grundlos in den Dreck gezogen hatte, wiederherstellen. Aber würde das ausreichen? Könnten die Kläger den Verlag am Ende zwingen, die gesamte Auflage einzustampfen? Er nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen seinen Verleger anzurufen, um ihm seinen fatalen Irrtum mitzuteilen und sich gemeinsam mit ihm auf das Kommende einzustellen. Der Name des Mannes, dem er in seinem Roman eine brutale Gewalttat an einem Kind untergeschoben hatte, kam nur in einer Szene vor, man könnte ihn zur Not mit ein paar Schwärzungen tilgen. Die Auflage war zwar hoch, weil der Verlag auf seine Popularität als Talkshow-Moderator gesetzt hatte. Aber ein paar Studenten könnten eine solche Tilgungsarbeit in einigen Tagen erledigen.

    Er wälzte sich auf die Seite und atmete mehrmals tief ein und aus. Lassen Sie Ihre Gedanken ziehen, hatte sein Arzt ihm gesagt, wie Wolken am Himmel. Es gelang ihm einige Minuten lang, seine Lider begannen bereits schwer zu werden. Doch die Unruhe setzte sich durch. Was, wenn die Kläger gerade wegen seiner Popularität alle Hebel in Bewegung setzten und mehr wollten, seine völlige Vernichtung als Autor, als öffentliche Person? Der Mann, den er beschuldigt hatte, war ein Geistlicher, ein Ordensmann, die katholische Kirche hatte die Mittel, um einen langen Prozess durchzustehen. Aber wäre die Kirche überhaupt interessiert an einem solchen Aufsehen?

    Mit einem langen Ausatmen, fast schon einem leisen Seufzer, setzte er sich auf und lauschte noch einmal den ruhigen Atemzügen seiner Frau. Behutsam streckte er seine Hand aus, fühlte die warme Haut ihres Rückens. Dann stand er auf und verließ so lautlos wie möglich den Raum. Im Flur blieb er kurz unschlüssig stehen, schließlich ging er in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des Korridors und nahm sein Laptop vom Schreibtisch. Auf Zehenspitzen stieg er damit die Treppe ins Erdgeschoss hinab und ging in die Küche. Er stellte das Laptop auf den Tisch und öffnete den Kühlschrank, das Licht warf einen länglichen Schein in den Raum, die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Mit zusammengekniffenen Augen nahm er ein Bier aus dem Türfach. Kurz hielt er die Flasche an seine Wange, spürte die Kühle des Glases. Dann stellte er sie zurück und schlug die Tür mit einem Geräusch zu, das ihn erschreckte. Mit angehaltenem Atem lauschte er ins Haus hinein. Hatte er seine Frau geweckt? Wollte er sie am Ende aufwecken?

    Er strich sich mit der Hand über die Stirn und rekapitulierte die fatale Geschichte noch einmal in Gedanken. Bemerkt hatte er seinen Irrtum, als er eine E-Mail an seine ehemaligen Mitschüler schreiben wollte, mit denen er vor über dreißig Jahren in Haus Birkenhain, einem Ordensgymnasium in seiner Heimatprovinz, das Abitur gemacht hatte. Er wollte sie zu einer Lesung aus seinem Roman einladen, die er in zwei Wochen an ihrer ehemaligen Schule haben würde.

    Er hatte lange an der Einladungsmail gefeilt, immer wieder Formulierungen geändert, Wörter ersetzt. Es hatte ihn in eine überraschende Erregung versetzt, den Roman ankündigen zu können. Die meisten seiner ehemaligen Mitschüler hatten gewiss mitbekommen, dass aus ihm ein bekannter Talkmaster geworden war, aber der Roman erfüllte ihn doch mit einem besonderen Stolz. Er würde nach all den Jahren als gemachter Mann in seine Heimatwelt zurückkehren. Der Ausdruck „gemachter Mann erschien ihm seltsam, gab es eigentlich auch eine „gemachte Frau? Er machte sich eine Notiz in einem Heft, das er für solche Einfälle immer auf dem Schreibtisch bereitliegen hatte. Er wollte die Mail schon abschicken, doch dann fügte er, beschwingt von einem plötzlichen Hochgefühl, noch hinzu: „Wenn euch im Roman die Schule und die beschriebenen Lehrer bekannt vorkommen, dann ist das kein Zufall … Übrigens habe ich die Namen aller real existierenden Figuren geändert, bis auf eine einzige Ausnahme: Pater Spelthan. Sobald ihr die Szene lest, in der er seinen Auftritt hat, werdet ihr wissen, warum."

    Erneut zögerte er vor dem Abschicken und las die Zeilen noch einmal. Hatte er den Namen des Paters richtig geschrieben? Enthielt er ein H oder zwei, wie ein Hahn? Er stand auf und nahm seinen Roman aus dem Wandregal seines Arbeitszimmers. Die betreffende Stelle war rasch gefunden, er hatte ein rosafarbenes Post-it auf die Seite geklebt. Er fragte sich, wie seine ehemaligen Mitschüler die Szene wohl aufnehmen würden.

    Burkhard ließ seinen Blick über die Bankreihen schweifen. Eine Reihe hinter dem Platz, auf dem er für gewöhnlich saß, wenn er nicht ministrierte, stand Günter. Er hatte den Unterkiefer leicht vorgeschoben und biss dabei die Zähne aufeinander – eine Mimik, die Burkhard gelegentlich imitierte, weil sie ihm respekteinflößend vorkam. Nur ein einziges Mal hatte Burkhard gesehen, wie dieser kraftstrotzende Unterkiefer plötzlich seine Haltung verlor. Die beiden Jungen besuchten inzwischen dasselbe Gymnasium, Günters Klassenraum befand sich im gleichen Trakt, nur eine Etage tiefer. In einer Pause stand Günter, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, im Flur vor seiner Klasse, ein Bein angewinkelt, so dass seine Fußsohle die geweißte Wand berührte. Während er mit gewohnt kühner Kieferhaltung auf das Ende der Pause wartete, kam plötzlich Pater Spelthan um die Ecke, ein Latein- und Religionslehrer, der sich jedoch in erster Linie um administrative Aufgaben der Schule und des Ordens kümmerte. Pater Spelthan war ein kleiner und gedrungener Mann mit einer ungesund aussehenden roten Gesichtsfarbe. Er schien ständig in Eile zu sein, der trippelnde Gang seiner kurzen Beine versetzte seinen Oberkörper in eine leichte Pendelbewegung, die unterstützt wurde durch rhythmische, ruckartige Bewegungen seiner rechten Hand, in der er stets eine brennende Zigarre hielt.

    Raum greifend und Rauchwolken verbreitend, hastete er über den Flur. Als er an der Tür von Günters Klassenzimmer vorbeiging, registrierte er aus den Winkeln seiner durch eine Brille verkleinerten Augen den an der Wand lehnenden Schüler. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen und auch nur den Kopf in Günters Richtung zu wenden, schlug der Pater dem Jungen völlig überraschend ins Gesicht. Obwohl er mit der flachen Hand zugelangt hatte, erzeugte der Schlag nicht das hell klatschende Geräusch einer gewöhnlichen Ohrfeige, sondern eher den dumpfen Klang eines Fausthiebs. Die Wucht des völlig ansatzlos erfolgten Schlags riss Günters Kopf zur Seite. Jetzt erst verlangsamte der Pater seinen Gang, drehte sich zu dem Gezüchtigten um und sagte, während er mit der Schlaghand auf Günters Fuß deutete, der immer noch die Wand berührte:

    – Du weißt, warum.

    Darauf setzte er sich gleich wieder in Bewegung und bog hastig pendelnd und rauchend um die Ecke. Einige Schüler, die Zeugen der Szene geworden waren, schauten Günter schweigend an. Während er verlegen grinste, füllten Tränen seine Augen. Wenn er sich nun dem aufkeimenden Gefühl der Verlassenheit, der Empörung oder auch nur dem körperlichen Schmerz in seinem Gesicht einen Augenblick länger hingegeben hätte, dann wären ihm die Tränen in Bächen über die Wangen gelaufen. Doch mit einer sichtbaren Anstrengung schob Günter langsam wieder das Kinn nach vorne und pumpte mit dieser Bewegung die Tränen aus den Augen zurück ins Innere seines Schädels. Er sagte kein Wort und blieb an der Wand stehen, als sei nichts geschehen – nun allerdings mit beiden Füßen auf dem Boden.

    Er hatte Spelthan also mit einem H geschrieben. Er erinnerte sich, dass er bei der Überarbeitung seines Romans bei der Spelthan-Szene lange innegehalten hatte. Wie allen real existierenden Personen hatte er ursprünglich auch dem Pater einen fiktiven Namen gegeben. Doch am Ende zog er die Mundwinkel nach unten, atmete zweimal heftig ein und aus und sagte laut vor sich hin: „Und du stehst mit deinem Namen dafür ein, du Drecksau." Und so hatte er Spelthan seinen Namen gelassen.

    Ein letztes Mal noch las er die E-Mail an seine ehemaligen Mitschüler durch, prüfte, ob sich kein Tippfehler eingeschlichen hatte, und wieder blieb er beim Lesen an dem Namen des Paters hängen. Vielleicht hatte er ihn in seinem Roman ja falsch geschrieben, womöglich fehlte doch noch ein H. Um sicherzugehen, öffnete er die Google-Seite und tippte in die Suchmaske: Pater Spelthan, Haus Birkenhain.

    Er stieß auf eine Homepage des Franz-von-Sales-Ordens, dem Träger seines Gymnasiums. Unter der Rubrik „Verstorbene Sales-Oblaten fand er eine kurze biografische Notiz für einen „Pater Heinrich Spelthahn, der von 1951 bis 1975 Lehrer am Gymnasium gewesen war. Also doch ein Hahn. Der Name war ein blau eingefärbter Link, er klickte ihn an, und ein Foto ging auf. Das Bild eines etwa sechzigjährigen Mannes erschien. Er hatte eine hohe Stirn, das Haar war bereits bis zum Hinterkopf zurückgewichen, sein längliches Gesicht mit der schmalen, leicht gebogenen Nase über dem Mund mit den dünnen Lippen hatte etwas Vogelhaftes. Die dunklen Augen hinter der großen, viereckigen Brille wirkten südländisch und hatten einen leicht melancholischen Ausdruck.

    Theves starrte auf das Bild und spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er wusste sofort: Er war es nicht. Das war nicht der Mann, der den Jungen geschlagen hatte, er hatte dem prügelnden Pater einen falschen Namen gegeben. Und noch während er kopfschüttelnd das Foto betrachtete, wusste er plötzlich, dass es diesen realen Pater Spelthahn auf dem Foto an seiner Schule gegeben hatte, natürlich, er kannte ihn, er hatte nur bis jetzt nicht mehr an ihn gedacht. Eine Erinnerung tauchte auf. Er sah Pater Spelthahn am Ende jenes Gangs, auf dem der Schüler von dem anderen Pater, dessen Namen er in Wahrheit gar nicht kannte, geschlagen worden war. Er sah den echten Spelthahn in seiner Erinnerung nicht wirklich, er hatte nur ein vages Bild von ihm, eine schwarz gekleidete Gestalt am Ende eines mit gesprenkelten Steinfliesen gedeckten Gangs, in einem kleinen Foyer, das zum Sekretariat der Schule führte. Warmes Sonnenlicht fiel durch ein großes Fenster, das den Blick auf einen begrünten Innenhof mit Springbrunnen freigab. Pater Spelthahn stand da, in einem Lichtschein, so blendend hell im Kontrast zu dem weit schwächer beleuchteten Flur, dass man die Augen zu einem schmalen Schlitz verengen musste. Die Gestalt des Paters wurde von hinten beschienen, eine schlanke, gesichtslose Silhouette, deren Konturen zu verschwimmen schienen in einem Licht, das mehr verschleierte als erhellte. Theves wusste nicht, was der Pater in seiner Erinnerung gerade machte, er war einfach nur da, ein wichtiger und überaus beliebter Mann in der Schule.

    Sobald die Erinnerung verblasste, war die Unruhe umso stärker zurückgekommen. Theves hatte das Foto des Paters lange angestarrt, als könnte es ihm eine Antwort auf seine drängendste Frage geben: Wie hatte ihm das nur passieren können? Warum hatte er den Namen verwechselt, und wieso hatte er dem prügelnden Pater ausgerechnet den Namen Spelthan gegeben? Und wer war der Pater, der den Jungen wirklich geschlagen hatte?

    Und diese Fragen quälten ihn auch jetzt wieder mit frischer Wucht, als er mitten in der Nacht in der Küche stand und kopfschüttelnd ins Leere starrte. Theves öffnete den Kühlschrank wieder und nahm die Bierflasche, die er eben erst hineingestellt hatte, erneut heraus. Er löste den magnetischen Flaschenöffner von der Metalltür und setzte ihn an den Hals der Flasche, während er den Kühlschrank mit einem kräftigen Stoß seines Ellbogens schloss. Im Inneren klirrten die Flaschen, die im Türfach standen. Dann kramte er so lange in einer Schublade des Küchentischs herum, bis er eine Schachtel Camel und Streichhölzer fand. Während er sich eine Zigarette anzündete, hörte er, wie die Toilettenspülung betätigt wurde. Das Licht ging an, seine Frau erschien, mit vom Schlaf verengten Augen. Ihr Haar war zerzaust, sie hatte ein Sweatshirt übergestreift, darunter schimmerten ihre nackten langen Beine weiß im Neonlicht der Herdbeleuchtung.

    „Frank, was machst du hier?"

    „Ich kann nicht schlafen."

    „Na, dann sind wir ja schon zwei."

    „Du kannst auch nicht schlafen?"

    „Verarschst du mich? Du hast mich geweckt mit deinem Geklapper. Ich hab keine Lust, morgen Früh vor meinem Klienten zu sitzen und permanent gegen ein Gähnen anzukämpfen."

    Sie überkreuzte die Arme vor ihrem Oberkörper und blinzelte ihn an.

    „Wieso trinkst du mitten in der Nacht ein Bier?"

    Er schnippte die Asche von seiner Zigarette und sagte, den Blick auf den Tisch gerichtet:

    „Mir ist was Komisches passiert."

    Andrea wartete schweigend ab.

    „Erinnerst du dich noch an die Figur des Pater Spelthan in meinem Roman? Er ist die einzige Figur im Buch, deren Namen ich nicht geändert habe. Zumindest hab ich das bis jetzt geglaubt."

    „Was heißt das?"

    „Er ist es nicht. Der Kerl hieß nicht so. Ich habe ihn gegoogelt, und der Spelthahn, den ich gefunden hab, der war’s nicht."

    Eine steile Falte bildete sich zwischen Andreas Augen.

    „Ich versteh kein Wort. Du hast bei Google gefunden, dass der Pater den Jungen nicht geschlagen hat?"

    Er lachte kurz und spürte eine wachsende Anspannung. Er klappte das Laptop auf und zeigte ihr das Foto, das er gefunden hatte.

    „Das ist der wirkliche Pater Spelthahn. Und der war’s nicht. Der Kerl, der den Jungen geschlagen hat, sah ganz anders aus."

    Andrea beugte sich zögerlich vor und betrachtete das Foto.

    „Der sieht irgendwie nett aus. Und wer war jetzt der Schläger?"

    „Ich hab nicht die geringste Ahnung."

    Sie legte die Stirn in Falten, ihre Stimme hatte immer noch einen widerwilligen Ton, aber er spürte, dass er ihr Interesse geweckt hatte.

    „Warum hast du den Kerl denn eigentlich gegoogelt?"

    Er erzählte ihr von seinem Schreiben an seine ehemaligen Mitschüler.

    „Du überprüfst die Schreibweise des Namens erst, wenn du denen eine Mail schreibst, aber beim Lektorat deines Buches tust du das nicht? Ausgerechnet du zwanghafter Perfektionist?"

    „Ich hab überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie man den schreibt, und in einem Roman ist das doch wohl scheißegal."

    „Ich dachte, du wolltest ihm seinen richtigen Namen lassen."

    Theves schnaufte und klappte das Laptop so heftig zu, dass ein satt klappendes Geräusch entstand.

    Andrea verdrehte die Augen.

    „Deine Fans würden staunen, wenn sie einmal sehen könnten, wie leicht der souveräne Talkmaster aus der Fassung zu bringen ist."

    Er wischte mit der Handfläche über den Tisch und schüttelte den Kopf.

    „Ich fass es nicht, dass mir das passiert ist. Was ist, wenn mich jemand wegen Verleumdung verklagt?"

    „Und wer sollte das tun, bitte? Pfarrer haben in der Regel keine Nachkommen, die den Ruf ihres Vaters reinwaschen wollen."

    „Aber es gibt einen Orden, der sich betroffen fühlen könnte."

    „Na klar, die werden sicher gleich eine Bannbulle erlassen: Auf den Scheiterhaufen mit diesem Theves! Falsch Zeugnis hat er abgelegt. Der Prügelpater in seinem Buch war gar nicht Pater Spelthahn, sondern ein ganz anderer Folterknecht aus unserer Runde."

    Theves lachte, und da er eigentlich gar nicht lachen wollte, entkam ihm ein leises Prusten. Er sah den Spott in den Augen seiner Frau und spürte, wie sich seine Anspannung zu lösen begann.

    Als sie an ihm vorbeiging, fasste er sie beim Arm und zog sie nah zu sich heran, um ihren warmem Geruch nach Körper und Schlaf einzusaugen.

    Sie entwand sich seinem Griff und sagte mit einem Gähnen:

    „Du solltest auch ins Bett gehen. Sonst muss Gabi dir morgen wieder einen Zentimeter Make-up unter die Augen spachteln, damit man die dunklen Ränder nicht sieht."

    Theves blieb noch am Küchentisch sitzen, bis er sein Bier ausgetrunken hatte. Dann klappte er sein Laptop wieder auf und rief seine E-Mails ab. Rund zwanzig neue Nachrichten waren in seinem Postfach, eine war mit der Prioritätsstufe „hoch gekennzeichnet, im Betreff stand nur ein Wort: „KORREKTUR!!!. Die Mail war von Helmut Sanders, einem Deutschlehrer an seinem ehemaligen Gymnasium, der seine dortige Romanlesung organisiert hatte. Vor einigen Tagen hatte er ein Telefonat mit ihm geführt, das länger als geplant ausgefallen war. Sanders hatte ein Jahr, nachdem Theves Abitur gemacht hatte, am Gymnasium zu arbeiten begonnen. Sie waren sich am Telefon auf Anhieb sympathisch gewesen und hatten ausgiebig Anekdoten über die Schule ausgetauscht. Schließlich hatte Sanders ihn gefragt, wer sein Klassenlehrer gewesen sei.

    „Pater Palm, die ersten vier Jahre."

    „Echt, Pater Palm?, hatte Sanders gesagt, „Der war doch in einen schweren Missbrauchsskandal verwickelt. Das ist sogar vor Gericht gelandet.

    „Was, der Palm? Davon hab ich nie was gehört."

    Theves erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit dem Pater. Er war inzwischen pensioniert, und obwohl man ihm ein Raucherbein amputiert hatte, machte er immer noch seinen täglichen Spaziergang über das Schulgelände. Theves stand bereits kurz vor dem Abitur, fast fünf Jahre war es her, seit er in Palms Latein- und Religionsstunde gesessen hatte. Er war auf seinen ehemaligen Lehrer zugegangen und hatte ihn begrüßt. Der Pater stützte den rechten Ellbogen auf den Griff seiner Krücke und ergriff Theves’ Rechte. Dann zog er die Hand des Jungen mit sanftem Druck zu seiner linken Hand, die den Griff der zweiten Krücke umklammert hielt. Mit einer geschickten Bewegung stützte er auch den anderen Ellbogen auf die Krücke, so dass er in der Lage war, die Rechte des Jungen für einen Moment in beiden Händen zu halten. So hatte er sich in seiner Zeit als Klassenlehrer immer von einigen seiner Schüler verabschiedet. Er blickte Theves aufmerksam an und schien für einen Moment konzentriert zu überlegen. Dann sagte er nur: „Frank."

    „Sind Sie noch dran?"

    Theves schreckte aus seinen Gedanken auf.

    „Ich fass’ es nicht, Pater Palm und Missbrauch? Sind Sie sicher?"

    „Ich denk schon. Ich glaube, der ist sogar später ermordet worden."

    „Was? Von wem?"

    „Keine Ahnung, ist schon über zwanzig Jahre her. Ich weiß auch nichts Genaues. Aber ich hab die Zeitungsartikel von damals sicher noch in einem Ordner. Ich schau lieber vorher nach, bevor ich Ihnen Blödsinn erzähle."

    Theves öffnete Sanders E-Mail, sie enthielt nur zwei Zeilen: „KORREKTUR!!! Der gewaltsam zu Tode gekommene Ordensgeistliche war nicht Pater Palm, sondern Pater Heinrich Spelthahn."

    Der Kaktus

    Theves schloss die Augen, atmete tief durch und blieb einige Minuten regungslos an seinem Schreibtisch sitzen. Für gewöhnlich fand er auf diese Weise zu der Konzentration, die er zum Arbeiten brauchte, aber diesmal wollten sich seine Gedanken einfach nicht zu Ideen ordnen. Er unterdrückte eine aufkeimende Nervosität, immerhin war der grobe Rahmen für die nächste Talkshow geplant, den Rest würde er improvisieren. Jetzt war nur noch die Strategie für die Sendung in der übernächsten Woche zu entwickeln, dann konnte er beruhigt die Pause von mehreren Tagen einlegen, die er für die Reise in seine Heimat und für die Lesung an der Schule veranschlagt hatte.

    Er stand auf, blickte kurz aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Die blühenden Forsythien neben der Terrasse leuchteten gelb. Etwas zu schwungvoll setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Gegen seine Gewohnheit und eiserne Regel öffnete er jetzt schon, noch vor dem Mittagessen, sein Mailprogramm. Er überflog den Posteingang, wieder keine Nachricht aus seiner Schulwelt, weder von seinen ehemaligen Mitschülern noch von den Lehrern. Obwohl er den expliziten Hinweis auf Pater Spelthahn aus der Mail an seine Schulkollegen wieder gelöscht hatte, nachdem ihm seine Namensverwechslung bewusst geworden war, hatte er fest damit gerechnet, dass jemand ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen, ihm womöglich gar den wahren Namen des Prügelpaters mitteilen würde. Schließlich war die fehlende Ähnlichkeit der Romanfigur mit dem echten Pater Spelthahn gar zu augenscheinlich. Aber nichts dergleichen war geschehen, er hatte zwar ein paar Reaktionen auf seinen Roman bekommen, einige erfreulich Persönliche waren darunter, aber niemand hatte die Spelthahn-Szene erwähnt.

    Er schloss das Mailprogramm wieder und öffnete das Foto von Pater Spelthahn, das er inzwischen auf seinem Desktop gespeichert hatte. Er versuchte in dem Gesicht das zu finden, was seine Frau als „irgendwie nett" empfunden hatte. Es gelang ihm nicht wirklich, der melancholische Ausdruck in den dunklen Augen wollte nicht recht zu dem leicht angespannten Mund mit den feinen, schmalen Lippen passen. Sein Handy vibrierte, er hatte es auf lautlos gestellt und hätte es unter normalen Umständen ignoriert, nun aber war er beinahe erleichtert über die Unterbrechung. Obwohl das Display ihm anzeigte, dass Castorp, sein Programmleiter, anrief, meldete er sich förmlich mit seinem Nachnamen, wie in den Zeiten, als jeder Anrufer sich nur mit einem anonymen Klingeln ankündigen konnte.

    „Glückwunsch zum Giftigen Kaktus", sagte Castorp.

    „Zum was?"

    „Du kennst den Giftigen Kaktus nicht? Mit ck und ss."

    „Wovon redest du?"

    „Okay, ck und ss sind ein Scherz. Der Giftige Kaktus ist der Preis der

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