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Intensität: Auf der Jagd nach dem Flow
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Intensität: Auf der Jagd nach dem Flow

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Wie extrem ist Extremsport wirklich und wieso nehmen die Aktiven Qualen und Risiko auf dem Weg zur sportlichen Selbstverwirklichung in Kauf? Dieser Frage geht David Misch in seinem neuen Werk "Intensität – Auf der Jagd nach dem Flow" auf den Grund. Selbst "Rookie of the Year" beim legendären Race Across America, trifft Misch im Zuge seiner Spurensuche auf Szenegrößen wie Ultra-Radfahrer Christoph Strasser, Apnoe-Taucher Herbert Nitsch und Extrem-Kletterer Hansjörg Auer. Er zeichnet ein kontroversielles und zutiefst persönliches Bild der Ausnahmeathleten, ihres Strebens nach einem intensiven Leben und der Entscheidungen, die ihren sportlichen Werdegang prägen. Misch sucht nach Parallelen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und hinterfragt den Suchtfaktor, der exzessiven sportlichen Abenteuern im Allgemeinen attestiert wird.
In achtzehn Gesprächen auf Augenhöhe räumt Misch mit Heldenmythen und Vorurteilen gleichermaßen auf, um schließlich zu resümieren: Ist es das wert?
LanguageDeutsch
PublisherEgoth Verlag
Release dateJun 4, 2018
ISBN9783903183605
Intensität: Auf der Jagd nach dem Flow

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    Book preview

    Intensität - David Misch

    wird.

    DIE BEWEGGRÜNDE FÜR DIESES BUCH

    UND DER UNZULÄNGLICHE VERSUCH EINER BEGRIFFSDEFINITION

    Extremsport. Ein Wort das polarisiert. Es soll einen Superlativ ausdrücken, bei näherer Betrachtung ist es jedoch nur eine mehr als unzureichende Verallgemeinerung. Was ist extrem? Schlägt man im Duden nach, so ist Extremsport ein „mit höchster körperlicher Beanspruchung oder besonderen Gefahren verbundener Sport (z. B. Triathlon, Freeclimbing)". Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass solch subjektive Kriterien nicht quantifizierbar und daher unbrauchbar sind. Ich käme wohl kaum auf die Idee, eine Blinddarmoperation bei einem meiner Kinder selbst durchzuführen, nichtsdestotrotz wäre das eine Routineaufgabe für jeden Turnusarzt. Für mich wurde es irgendwann ebenso zur Routineaufgabe, 500 Kilometer und mehr nonstop auf dem Rad zu sitzen. Es wäre jedoch naiv zu sagen, während eines Tauchgangs ohne Sauerstoff über neun Minuten die Luft anzuhalten sei nicht extrem. Genauso wie ohne nennenswerte Pausen 5000 Kilometer quer durch einen Kontinent zu radeln oder mehrere 100 Kilometer laufend zurückzulegen. Aber natürlich auch, den Olympiasieg im Mehrkampfturnen anzustreben, wie in jeder anderen Weltsportart mit großer Konkurrenz. Tatsächlich bin ich überzeugt, dass die Leistungsdichte eine sportliche Herausforderung genauso ins Extrem treiben kann wie die Beschaffenheit der Aufgabe an sich, beispielsweise die schier unvorstellbare Länge einer Strecke oder die Exponiertheit eines Gipfels. In diesem Sinne ist es also eine Themenverfehlung, Extremsportarten überhaupt von „normalen Sportarten abzugrenzen. Dennoch nimmt der Volksmund diese Trennung vor, und daher interessiert mich: Wie definiert man nun diese Grenze, und noch wichtiger, werden „extreme Sportarten zwangsläufig von extremen Menschen ausgeübt? Mich beschäftigt diese Frage nicht zuletzt, weil ich selbst nicht weiß, ob etwas mit mir nicht stimmt, weil ich Spaß daran hatte, tagelang pausenlos auf dem Rad zu sitzen. Natürlich verfolgte ich auch die Berichterstattung, als ich im Ultracycling aktiv war. War Teil davon und konnte mich doch nie damit identifizieren. Ebenso konnte ich keinen meiner Freunde aus dem Sport wiedererkennen. Man bekam einen Eindruck von Übermenschen vermittelt, schmerzfrei, stets leistungswillig, immer Herr der Lage. Dabei sah es hinter den Kulissen oft ganz anders aus. Ich hatte nie den Eindruck, dass wir alle Menschen waren, die ein besonderes Risiko eingehen wollten oder sich gerne körperliche Schmerzen zufügten. Schmerztoleranz war nötig, verschaffte aber nie den Kick. Das perfekte Naturerlebnis, die Ästhetik der Bewegung und des sich Bewegens, das Gefühl durch akribische Vorbereitung etwas Unmögliches möglich gemacht zu haben, diese Dinge fand ich kaum in Berichten wieder. Wenn die breite Masse von „meiner" Sportart nie mehr sehen würde als ein Zerrbild der Wirklichkeit, in der einzelne Aspekte überhöht werden und andere unter den Tisch fallen, was sagte das dann über andere in der breiten Öffentlichkeit als draufgängerisch oder gar selbstmörderisch gebrandmarkte Sportarten aus, die ich schon seit meiner Kindheit mit Begeisterung verfolge, jedoch nie aktiv betreiben würde? Viele Fragen kreisten in meinem Kopf: wie viel darf man für ein Hobby, eine Leidenschaft, bereit sein zu geben? Liegt die Grenze des gesellschaftlich Akzeptablen bei einem anständigen Muskelkater, einem Kreuzbandriss, einer abgefrorenen Zehe oder Schlimmerem? Hat der Mensch das Recht, Sicherheit zugunsten von Freiheit zu opfern? Wie egoistisch ist es, ein persönliches Risiko einzugehen, wenn man enge Bindungen zu anderen Menschen hat? Ich will diesen und ähnlichen Fragen mit Hilfe der in diesem Buch vorkommenden Persönlichkeiten nachgehen; schließlich bestehen berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer 5000 Kilometer Radausfahrt, eines 250 Meter tiefen Tauchgangs oder einer Solo-Atlantiküberquerung. Reinhold Messner hat sinngemäß einmal über das Bergsteigen gesagt, es sei für die Allgemeinheit unnütz, nur der Alpinist könne seinem Tun einen Nutzen für sich selbst abgewinnen. Ich glaube aber, dass scheinbar unnütze Abenteuer auch inspirieren und damit einen größeren Nutzen in einer zunehmend desillusionierten Gesellschaft stiften können. Ein Vorteil langer Trainingseinheiten, Nächte im Zelt und dergleichen ist jedenfalls die Möglichkeit, seinen Gedanken nachhängen und ungestört sinnieren zu können. Es besteht also die begründete Hoffnung, dass dieses Buch mehr sein kann als ein Bericht über die gesammelten Erlebnisse einiger talentierter Sportler. Ich bin mir sicher, dass Sport in seiner extremen Ausprägung nach Egoismus schreit, aber auch menschliche Größe hervorbringen kann. Jedenfalls aber lässt er nicht kalt.

    Nachdem die Idee für dieses Buch geboren war, stellte sich natürlich unweigerlich die praktische Frage, welche Sportarten es beinhalten sollte. Wie zuvor schon erwähnt – und der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass mich einer der Protagonisten dieses Buchs, Thomas Frühwirth, erst für diesen Umstand sensibilisierte – ist die Abgrenzung von Extremsport problematisch. Man könnte auch sagen, das Extreme im Sport folge einer zweigipfeligen Verteilung; einen Gipfel stellt das extreme Ausreizen von an sich nicht extremen Disziplinen dar – beispielsweise Kurzstreckenlauf, wo Weltrekorde wie jener über 3000 m (etwa 7 min 20 sec) übermenschlich anmuten – den zweiten: das Steigern von Distanz, der Widrigkeit der äußeren Bedingungen oder Ähnlichem. Ich beschloss, mich auf zweiteren zu konzentrieren, also Sportarten, bei denen schon das Erreichen des Ziels (egal ob in Form einer Ziellinie, einer Küstenlinie, einer Tiefenangabe oder eines Berggipfels) mit grenzwertigem Aufwand verbunden ist. Dieser Aufwand lässt sich nach näherer Betrachtung in die folgenden Kategorien einteilen: (1) physische Belastung: darunter fallen Trainingsaufwand, der nötige Grad an physischer „Exzellenz, um das jeweilige Ziel überhaupt erreichen zu können, sowie die physischen Belastungen während der Herausforderung selbst; (2) psychische Belastung: dieser Punkt beinhaltet die sozialen Einschränkungen, die mit der Vorbereitung und der Durchführung des Vorhabens verbunden sind, psychische Strapazen wie Schlafmangel und Isolation, aber auch das Überwinden des subjektiven Eindrucks der Unmöglichkeit, welches mitunter eine größere Barriere darstellen kann als das jeweilige Vorhaben an sich; (3) objektive Gefahren: darunter fallen Risiken, die selbst bei bester Vorbereitung nicht ausgeschlossen werden können, wie beispielsweise die Möglichkeit, bei einer Atlantiküberquerung in einen Sturm oder beim Höhenbergsteigen in eine Lawine zu geraten. Oder in der Nacht auf einem nordamerikanischen Highway von einem Pickup angefahren zu werden. Nicht unter diesen Punkt fallen jedoch Probleme, die sich aus einer unzureichenden Vorbereitung ergeben; enttäuscht werden an dieser Stelle jene Leser sein, die an einer völlig objektiven Kategorisierung der im Folgenden behandelten Sportarten nach den oben genannten Kriterien interessiert sind. Ich kann ihnen nicht den härtesten Hund unter den Extremsportlern präsentieren. Wieso? Ein Beispiel zur Veranschaulichung: als Hobbybergsteiger ohne Höhenerfahrung den Mt. Everest zu besteigen – eine schlechte Idee. Nichtsdestotrotz, es ist nicht auszuschließen, dass ein solcher Bergsteiger eines Tages den Everest bezwingen wird (auf der Normalroute dürfte dies sogar beängstigend oft vorkommen). Was bedeutet das für die oben genannten Anforderungskategorien? Eine relativ geringe physische Belastung im Training – schließlich hat unser Hobbybergsteiger ja Besseres zu tun – bezahlt er mit einer ungleich höheren Anstrengung während der eigentlichen Besteigung. Der Hobbybergsteiger befindet sich schon längst in einer körperlichen Extremsituation, während der Elitebergsteiger Fotos knipst und sich an der Schönheit der Natur erfreut. Natürlich sendet dem Hobbybergsteiger auch die Psyche früher einen Gruß, aufgrund seines mangelhaften technischen Könnens gerät er mit Sicherheit in die eine oder andere Bredouille. Die objektiven Gefahren mögen für Elite- und Hobbybergsteiger dieselben sein, aber deren frühere Antizipation und kompetentere Deutung erlauben dem Eliteathleten, souveräner damit umzugehen. Man könnte unzählige ähnliche Beispiele anführen, die Kernaussage bliebe dieselbe. Eine allgemeingültige Reihung von Extremsportarten nach quantifizierbaren Kriterien führt sich ad absurdum, denn wie viel Risiko jemand einzugehen bereit ist, wo die individuelle Schmerzgrenze liegt, all diese subjektiven Faktoren lassen sich nicht leicht in eine Gesamtbewertung einrechnen. Theoretisch könnte man auch als Anfänger versuchen, wie bei der Mini Transat, mit einem knapp über sechs Meter langen Boot einhand über den Atlantik zu segeln, jedoch wird das Vorhaben nur durch entsprechendes Knowhow auch vertretbar. Oder anders gesagt, es liegt mir als Autor nicht daran, mich mit den Heldentaten jener auseinanderzusetzen, die nicht vorhaben unversehrt ans Ziel zu kommen, oder denen jedenfalls nicht genug am eigenen Leben liegt, um das Risiko derart zu beschränken, dass es nach vernünftigen Maßstäben (wieder so eine unzulässige Generalisierung, um die ich leider nicht herumkomme) noch nicht als selbstmörderisch einzuordnen ist. Draufgängertum mag hin und wieder der Schlüssel zu ganz und gar unbeschreiblichen Erlebnissen sein, aber die Grenze ist (zumindest für mich) dort erreicht, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schlechter Ausgang zu erwarten ist. Umgekehrt schaffen es Sportler mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten in als riskant oder extrem einzustufenden Situationen, durch große Expertise und eingeübte Routinen noch innerhalb ihrer „Komfortzone unterwegs zu sein, ja sogar ausgesprochene Freude am Tun zu empfinden, was für Außenstehende in vielen Fällen paradox wirken mag.

    Wieso nerve ich Sie mit Vorgeplänkel, wenn Sie doch schon voller Ungeduld den Anekdoten der Grenzgänger entgegenfiebern? Aus zwei Gründen. Erstens möchte ich Sie als Leser dazu ermutigen, sich während der Lektüre möglichst von Vorurteilen zu befreien. Verurteilen Sie nicht den Lebensstil des einen oder anderen Protagonisten, auch wenn Sie sich nicht ansatzweise vorstellen können, wieso man diesen wählen sollte. Sie müssen dieses Buch nicht als Bewunderer zuschlagen (sofern Sie das nicht schon sind), aber nehmen Sie den einen oder anderen Gedanken mit. Und zweitens: Ich fühle mich genötigt, die Auswahl an Sportarten zu rechtfertigen, die im Folgenden vorkommen wird, denn ich bin der Letzte, der diese exotischen Ausprägungen des Sports heroisieren oder über anerkannte Weltsportarten stellen möchte, in denen Erfolgsdruck und Konkurrenz ungleich höher einzuschätzen sind. Bin ich Ihnen in dieser Hinsicht Rechenschaft schuldig? Vermutlich nicht. Und dennoch zerbrach ich mir zu Anfang lange den Kopf darüber, wie die Sportarten für dieses Buch auf eine sinnvolle Anzahl einzugrenzen wären, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. Wie sollte die Abgrenzung zwischen Adrenalinjunkies, wie sie beispielsweise im Base-Jumping zu finden sind, Ausdauerspezialisten im Ultracycling oder Ultrarunning sowie Abenteurern, die beträchtliche (aber dennoch einigermaßen kalkulierbare) Risiken auf ihrem Weg zu den entlegensten Orten dieser Welt in Kauf nehmen, gelingen? Ich kam zu dem Schluss, dass ich nur Disziplinen miteinbeziehen wollte, die sowohl Psyche als auch Physis über lange Zeiträume, also viele Stunden, Tage oder sogar Wochen, extremen Anforderungen aussetzen. Also kein klassischer Motorsport, kein Base-Jumping und auch kein Kunstflug, auch wenn diese Sportarten durchwegs riskant, physisch anspruchsvoll und mit Sicherheit auf ihre Art extrem sind. Ich kam auch zu dem Schluss, mich kühn dem Duden zu widersetzen und Triathlon bis zur Ironman-Distanz außen vor zu lassen. Dieser Sport mutierte zwar im letzten Jahrzehnt sozusagen zum Volks-Extremsport und ist daher durchaus ein interessantes Phänomen, aber letztlich ist es doch so, dass für einen Triathlon-Profi oder einen ambitionierten Amateur in diesem Sport nicht das Finish, also das reine Erreichen der Ziellinie, sondern die erzielte Zeit oder Platzierung zählt. Zweifellos wird auch der Profi durch psychische Tiefs gehen, er wird leiden. Ein Langdistanztriathlon ist hart, aber er ist sozusagen im gesellschaftlichen Mainstream angekommen. Manager, Sportlehrer, Fernsehmoderatoren, viele von ihnen tummeln sich auf den Ironman-Strecken dieser Welt, um Teil der braungebrannten Triathlon Incrowd zu sein. Die Quote der erfolgreichen Finisher liegt weit jenseits der 90 Prozent, die Teilnehmerzahlen gehen in die Tausende. Zur Veranschaulichung: würde man die psychischen und physischen Leiden, die finanzielle Belastung, die Monate und Jahre der Vorbereitung und den Grad an sozialer Einschränkung als harte Währung ansehen, die man für die Eintrittskarte in den illustren Kreis der Etablierten in einer Sportart zu bezahlen hätte, und hätte die Eintrittskarte in den Ironman-Finisher Club den Gegenwert eines luxuriösen Abendessens, so gäbe es auch Menschen, die ein Jahresgehalt für die Eintrittskarte in ihren Club hinzublättern hätten. Während also der Eintrittspreis für den Ironman-Club im gesellschaftlich vertretbaren Bereich liegt (wie oben schon erwähnt, gilt diese Betrachtung für Hobbyathleten), löst jener für viele der hier vorkommenden Sportarten wohl eher ein Kopfschütteln in der breiten Masse der Bevölkerung aus.

    Warum Apnoetauchen? Aus ebendiesem Grund, denn Apnoetauchen spielt sich an der Grenze des menschlich Denkbaren ab und erfordert körperliche Anpassungsprozesse, die physiologisch eigentlich unerklärbar sind. Neben angeborenem Talent benötigen Apnoetaucher vom Schlage eines Herbert Nitsch, der mit über 250 m Tiefe den aktuellen Weltrekord im Freitauchen hält, unglaubliche Konsequenz im Training, um Körper und Geist auf Tauchgänge von bis zu 10 Minuten ohne künstliche Sauerstoffzufuhr einzustellen. Die subjektive „Unmöglichkeit dieser Aufgabe, die Entbehrungen während der Vorbereitung und die Unwägbarkeit der Durchführung, all diese Faktoren brachten mich am Ende zu dem Schluss, dass Apnoetauchen trotz mangelnder Langzeitkomponente die Anforderungen von anderen ausdauerlastigen Extremsportarten sozusagen in kondensierter Form bündelt. Und ja, es fasziniert mich. Warum aber Segeln, eine Tätigkeit mit der man weder besondere physische Anforderungen, noch extreme psychische Beanspruchung assoziiert? Nun: würden Sie sich alleine auf einem sechs Meter langen Boot ohne Motor über den Atlantik wagen? Diese Sportart mag eine vergleichsweise geringe physische Komponente aufweisen (wobei das Ausharren in einem Gewittersturm auf offener See mit Sicherheit an körperliche Grenzen bringen kann), aber der Grad an Exponiertheit, Unwirtlichkeit und lange andauernder Gefahr wiegt den „Mangel an physischer Beschwerlichkeit auf.

    Ein nicht ganz naheliegender Aspekt bestärkte mich letztendlich in der oben beschriebenen Abgrenzung: die gesellschaftliche Wahrnehmung. Sie ist trügerisch, weil nicht immer faktenbasiert, aber doch ein Gradmesser für die Richtigkeit meiner Einschätzung. Während Sportarten wie Mountainbike-Downhill, BMX, Formel 1, Kunstflug oder Base-Jumping eher mit Adrenalin, Spaß an der Geschwindigkeit oder Ähnlichem assoziiert werden, verbindet die Medienöffentlichkeit die hier vorkommenden Sportarten in erster Linie mit Qualen, sei es psychischer oder physischer Natur. Man kann jetzt darüber diskutieren, ob diese Überzeichnung ein Weg zu gesteigertem Publikumsinteresse oder das Produkt einer wirksamen Selbstvermarktung der Aktiven ist, im Kern trifft sie aber den Nagel auf den Kopf. Vielleicht werden die hier vertretenen Sportler sogar versuchen diesen Aspekt herunterzuspielen, ihre Leidenschaften als „normaler" verkaufen, als sie nach allen üblichen Maßstäben zu bewerten sind; jedoch lässt sich nicht leugnen, dass alle im Folgenden beschriebenen Unternehmungen die Entschlossenheit erfordern, sich zu quälen, und zwar lange. Obwohl es durchaus schmerzhaft sein kann, beim Moto-Cross zu stürzen, obwohl ein Base-Jump ungleich gefährlicher sein kann als eine gut geplante Achttausender-Besteigung, der Grad körperlicher und geistiger Zermürbung (und sei es nur im unverzichtbaren Training) wird hier nur untergeordnet wahrgenommen. Am Ende steht es jedem frei, die oben genannten Argumente zu entkräften – ich erhebe keinen Anspruch auf ihre Richtigkeit. Vielleicht habe ich Sportarten ausgelassen, die hier ebenfalls Beachtung verdient hätten, ganz sicher ist die Liste der Protagonisten nicht annähernd erschöpfend, in Anbetracht der Unmenge interessanter Persönlichkeiten in diesem Metier. Es mag auch sein, dass jemand den Ansatz kritisiert, sich in der Betrachtung auf meine österreichischen Landsleute einzugrenzen. Dies bietet jedoch den praktischen Vorteil, das Feld der Sportler auf ein einigermaßen überschaubares Maß beschränken zu können. Und selbst hier bin ich überfordert von der Vielzahl außergewöhnlicher Leistungen. Ein paar Beispiele gefällig? Der erste Mensch ohne künstlichen Sauerstoff auf dem Mount Everest? Peter Habeler (mit Reinhold Messner). Die erste Frau auf allen 14 Achttausendern? Gerlinde Kaltenbrunner. Der Weltrekordhalter im Apnoetauchen? Herbert Nitsch. Der mehrfache Weltrekordhalter im 24h-Zeitfahren und Race Across America Rekordsieger? Christoph Strasser. Der Erste, der sowohl das Race Across America mehrfach gewann als auch die Seven Summits bestieg? Wolfgang Fasching. Ultratriathlon-Weltrekord? Alexandra Meixner. Diese Liste lässt sich noch lange fortsetzen und ist umso erstaunlicher, als dass eine entsprechende Aufzählung beispielsweise für unser nördliches Nachbarland Deutschland – durchaus eine Sportnation und beträchtlich größer mit der zehnfachen Einwohnerzahl – bedeutend kürzer ausfallen dürfte. Ich bin stolz, dass sich die meisten, wenn auch nicht alle, Lichtgestalten der heimischen Szene bereiterklärt haben, an diesem Buch mitzuwirken.

    Seien Sie zum Abschluss ein letztes Mal versichert, dass es nicht meine Absicht ist, die in anderen Disziplinen erbrachten Leistungen zu schmälern, sondern vielmehr, Sie durch fesselnde Geschichten zu inspirieren und mitzunehmen in die Gedankenwelt jener, die sich nicht vom augenscheinlich Unmöglichen abbringen lassen.

    EINE SPURENSUCHE

    Ich beginne meine Spurensuche im Extremsport in der Aachener Heinrichsallee. An diesem Ort finde ich keine Sportler. Hier kreuze ich täglich den Drogenstrich auf dem Weg zur Technischen Hochschule, meinem neuen Arbeitsplatz. Zu Beginn meiner Recherche zu diesem Buch drehen sich meine Gedanken oft um ein Kernthema, das der Betrachtung aller extremen sportlichen Herausforderung zugrunde liegt. Warum tun sich Menschen so etwas freiwillig an? In der Heinrichsallee streife ich vorbei an Menschen, die sich durch Drogenkonsum zugrunde richten. Ich schwanke zwischen Mitleid und Ärger, wenn ich mit meinen kleinen Kindern wieder einem Müllhaufen ausweichen muss, den eine Gruppe Drogenabhängiger an einem Versammlungsort hinterlassen hat. Sie sind offensichtlich nicht frei in ihren Entscheidungen, tragen Traumata in sich, die sie verfolgen, nicht mehr loslassen und augenscheinlich dazu zwingen, sich selbst tagtäglich mit Substanzen ruhigzustellen, die langfristig – so steht es zu befürchten – ihren Untergang bedeuten werden. Es existiert nur der nächste Schuss. Schon am Morgen sehe ich Drogenabhängige unruhig auf und ab gehen, mit unstetem Blick scheinbar auf die nächste Gelegenheit wartend. Auch spät abends sind dieselben traurigen Gestalten noch auf der Straße unterwegs oder rotten sich an einem nahe gelegenen Busbahnhof zusammen, vermutlich um die Drogen zu konsumieren, die sie sich tagsüber Gott weiß wie erarbeitet haben. Die Sucht wirkt hier wie ein schauriger Fulltime-Job, mit schlechter Bezahlung. Diese Menschen leben ein Extrem, ähnlich wie Topmanager, erfolgreiche Unternehmer oder Hochleistungssportler. Aber kann man Parallelen zwischen diesen unterschiedlichen Lebensstilen ziehen? Die „Opfer der Heinrichsallee werden von irgendeinem inneren Dämon zu ihren Handlungen gezwungen, davon bin ich überzeugt. Aber wie steht es mit dem Sportler – oder dem Unternehmer? Wieso gibt es Menschen, die (wie soll man es besser ausdrücken) mit einem „durchschnittlichen Leben vollauf glücklich sind, während andere immer weiter ihre Grenzen austesten und verschieben wollen? Ich sehe den Begriff Durchschnitt, obwohl er in unserer Gesellschaft negativ behaftet ist, nicht als Abwertung, denn was bedeutet er? Nichts anderes, als dass man sich in der Mitte einer Gruppe von Individuen befindet, also aus demokratischer Sicht genau das macht, was die meisten als richtig oder jedenfalls normal einordnen würden. Aber wie in jeder Gemeinschaft gibt es Minderheiten, die sich aus irgendeinem Grund nicht an dieses Schema anpassen wollen oder können. Extremsportler und Drogenabhängige. Natürlich haben beide Gruppen völlig unterschiedliche Stellungen in unserer Gesellschaft: die einen werden bejubelt (meistens jedenfalls) während die anderen im Allgemeinen als Versager oder gescheiterte Existenzen wahrgenommen werden. Aber teilen sie gar ähnliche psychische „Defekte", die sie zu ihren Handlungen zwingen? Christoph Strasser, RAAM Rekordsieger und 24h-Ultracycling-Weltrekordler, wischt diesen Vergleich in einem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk weg. „Meiner Meinung nach ist, was ich mache, kein Extremsport im herkömmlichen Sinn, weil es weder mit Adrenalin noch mit Risiko oder Kontrollverlust zu tun hat, also mit Suchtrisikofaktoren. Es ist normaler Sport, der den physikalischen Gesetzen unterliegt, wobei man seine Leistung durch Ausdauertraining Schritt für Schritt verbessern kann. Ich bin aber nicht süchtig danach, meine körperlichen Grenzen auszuloten." Eine gewagte These natürlich, etwas so Banales wie Sport in Relation zu echter Sucht zu bringen. Ich will mir nicht vorstellen, wie schlimm die persönliche Entwicklung sein muss, die einen Menschen zum Konsum harter Drogen treibt. Aber macht es sich Strasser nicht zu einfach? Kann es sein, dass der Funke, der einem Extremsportler bewusst oder unbewusst die Programmierung mit auf den Weg gibt sich immer wieder selbst herauszufordern und mitunter damit zu schädigen, ein ähnlicher ist? Es ist schon interessant, dass man relativ häufig hört, jemand hätte eine Sucht mithilfe des Sports überwunden. Aber ist es wirklich ein Überwinden oder doch eher der Tausch einer Sucht gegen eine andere, wenngleich auch weniger schädliche? Eines der krassesten Beispiele lieferte der Deutsche Andreas Niedrig, der vom Heroinjunkie zum Ironman-Profi wurde, später sogar einmal das Race Around Slovenia, einen 1200 Kilometer langen Ultracycling-Bewerb, bestritt. Aber auch einer der Protagonisten dieses Buchs, der Ultraläufer Christian Schiester, begann nach eigener Aussage nur aufgrund seines ungesunden, ausufernden Lebensstils mit dem Laufen. Seither hat er einige der härtesten Langstreckenläufe der Welt bestritten und wirkt auf seinen durchgestylten Pressefotos wie ein gestählter Asket. Sucht gegen Sucht getauscht? Ein gewisser Hang zum Exzess liegt nahe, außerdem wirken Extremsportler in ihrer Persönlichkeit oft ambivalent; einerseits scheu und zurückhaltend, was die Bewertung der eigenen Leistung angeht, harmoniebedürftig in der eigenen Community, andererseits stets auf Öffentlichkeit bedacht, heischend nach der nächsten großen Mediensensation. Natürlich darf man nicht aus den Augen verlieren, dass für sie der Sport nicht nur Leidenschaft, sondern auch Lebensgrundlage darstellt. Wenn der Ausnahmekletterer David Lama als Erster den Cerro Torre in Patagonien frei klettert, kann er nicht einfach im Geheimen mit seinem Seilpartner losziehen; die Kameracrew seines Hauptsponsors ist auf seinen Fersen. Lama hat 2009 bei einem ersten erfolglosen Versuch den Cerro Torre zu „befreien" damit unwissentlich eine Kontroverse ausgelöst, die ihn noch Jahre später verfolgt. Ihm wird Show-Alpinismus vorgeworfen. Reinhold Messner fragt ihn: „Denkst du nicht, dass das Filmteam dich in diesem Punkt am Cerro Torre missbraucht?". Schlussendlich schafft Lama 2012 mit seinem Kletterpartner das für unmöglich Gehaltene und der daraus entstandene Spielfilm wird ein großer Erfolg. Lama bleibt augenscheinlich derselbe umgängliche und schüchterne junge Kletterer, der er zu Beginn seiner Karriere war. Lässt er sich nur filmen, um seine Träume verwirklichen zu können oder ist er süchtig nach der öffentlichen Anerkennung seiner unvorstellbaren Leistungen? Oder aber ist es eine Mischung aus beidem? Im Falle von David Lamas Versuch am Cerro Torre ging die Sache auf, anderen Extrembergsteigern wurde der Erfolgsdruck, das überhandnehmende Medieninteresse zum Verhängnis. Ein prominentes Beispiel ist Christian Stangl, der durch seine vorgetäuschte Solobesteigung des K2 zweifelhaften Ruhm erlangte. Keiner wird unterstellen, dass Stangl ein schlechter Bergsteiger wäre, er trieb es schlicht zu weit und konnte den selbst definierten Erwartungen schlussendlich nicht mehr gerecht werden. Vorkommnisse wie dieses sind Zunder auf dem Feuer jener, die der Höher-Schneller-Weiter-Mentalität des modernen Spitzensports nichts abgewinnen können.

    Aussagen wie die folgende des legendären Extrembergsteigers Peter Habeler, getätigt während eines Interviews mit der „Wiener Zeitung", legitimieren diese Skepsis noch weiter. Während des Abstiegs vom 8586 Meter hohen Kangchendzönga, den er wie zuvor schon den Everest ohne künstlichen Sauerstoff bestieg, geriet Habeler an seine Grenzen: „Ich hatte bereits Halluzinationen, glaubte den ‚Guardian Angel‘ wahrzunehmen. Das ist in solchen Phasen aber nichts Schreckliches, sondern ein Trost. Der dreitägige Abstieg war verheerend, wir husteten Blut. Zum Glück war ich damals in der besten körperlichen Verfassung meines Lebens. Sonst hätten wir nicht überlebt." Halluzinationen scheinen eine Art Ventil für den Geist zu sein, um besser mit extremer Belastung umgehen zu können. Sie sind ein weit verbreitetes Phänomen vor allem in Extremsportarten, die große physische Belastung mit Schlafmangel verbinden. Wieder so eine Parallele mit der Drogensucht. Ich habe bei meiner Teilnahme am Race Across America selbst erlebt, wie auf den Straßen Teerstreifen zu Schlangen wurden; Severin Zotter, Gewinner des RAAM 2015, bremste einmal nachts auf einer völlig menschenleeren Straße scharf ab, weil er der Meinung war, ein Mann mit einer großen Matratze stünde im Weg. Auch von morbideren Wahnvorstellungen, wie etwa aufgehängten Personen im Wald am Wegesrand, hört man beim RAAM immer wieder. Christoph Strasser erkannte gar einmal sein Fahrrad nicht mehr als solches und dachte, dass er schon längst an der Atlantikküste angekommen sei und ihn seine Crew aus Bosheit wieder ins Landesinnere zurückschicken würde. Er erzählte mir außerdem, dass er einmal sogar

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