Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Griechenlands Identität: Geschichte und Menschen verstehen
Griechenlands Identität: Geschichte und Menschen verstehen
Griechenlands Identität: Geschichte und Menschen verstehen
Ebook419 pages4 hours

Griechenlands Identität: Geschichte und Menschen verstehen

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Was ist Griechisch?

Zum Stichwort "Griechenland" fällt jedem etwas ein: Homer, Mythologie, Olymp, Athen, Demokratie, Urlaub oder Eurokrise. Aber kennen Sie Griechenland wirklich? Und was macht nationale Identität überhaupt aus? Zwischen Antike und Gegenwart liegen über zweitausend Jahre, in denen sowohl Byzanz als auch das Osmanische Reich die griechische Kultur und Gesellschaft prägten. Das heutige Griechenland birgt kulturelle Schätze und Überraschungen, ehrliche Gastfreundlichkeit und eine sagenhafte Geschichte, die nach neuen Erzählern verlangt. So wie einst Homer: "Sage mir, Muse ..."
LanguageDeutsch
Release dateDec 15, 2017
ISBN9783957711533
Griechenlands Identität: Geschichte und Menschen verstehen

Related to Griechenlands Identität

Related ebooks

European History For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Griechenlands Identität

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Griechenlands Identität - Ulrike Krasberg

    Hannah

    Vorwort

    Die Griechen sind in Europa fest verortet als »Erben der Antike«, und sie haben gelernt, als würdige Nachkommenschaft Homers und Sokrates in Europa aufzutreten. Ein offenes Geheimnis aber ist, dass sie sich selbst vielmehr dem »romäischen« Lebensgefühl aus ihrer byzantinischen Epoche hingezogen fühlen. Aber ist es nicht bemerkenswert, dass wir alle in den europäischen Staaten, nicht nur die Griechen, mit einer erlernten, ja weitgehend erfundenen nationalen Identität durchs Leben gehen? Einer Identität, die es vor dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht gab. Andererseits, wenn es historisch möglich war zu lernen »griechisch« oder »deutsch« zu sein, könnten wir ja auch lernen »europäisch« zu sein, was immer das bedeuten mag. Oder sind wir das nicht schon?

    Das Vorhaben über ein Land, eine Nation zu schreiben birgt gewisse Schwierigkeiten. Zum einen kann es nur eine Momentaufnahme im Flusse ständiger Veränderungen sein. Die eine objektive Wahrheit kann es also nicht geben. Zum anderen muss ich Begriffe wie »Kultur« oder »nationale Identität« verwenden, die auf den ersten Blick zwar klar und eindeutig erscheinen, es tatsächlich aber nicht sind. Was genau ist »Kultur«? Und was bedeutet »nationale Identität«? Diese Begriffe entsprechen zudem unserer heutigen Weltsicht, einer, die jeweils aus der Perspektive unseres nationalen Zuhauses hervorgeht. Erst wenn wir Geschichte in größeren Zeiträumen betrachten, wird deutlich, wie außergewöhnlich die seit gut zweihundert Jahren bestehende Aufteilung der Menschheit in Kulturen und Nationen in festgelegten Staatsgrenzen ist. Darauf musste man erst mal kommen! Aber in der Tat ist dieses Konzept – zumindest in Europa – eines, mit dem wir gut denken und uns die Welt vorstellen können: die Menschheit aufgeteilt auf festumgrenzte Gebiete, die wie in einem Puzzle aneinander liegen. Und die Bewohnerinnen und Bewohner eines jeden Puzzleteils haben ein eigenes Selbstbild – eine »nationale Identität« – entwickelt, die sich von allen anderen unterscheidet. In diesem Sinne werde ich Griechenland vorstellen: Was ist das Einmalige und Besondere am modernen Griechenland und der Lebensweise seiner Bewohnerinnen und Bewohner? Wie ist das heutige nationale Selbstbild entstanden und wie lebt es sich mit dieser Identität?

    Einleitung

    Als ich im Frühsommer des Jahres 2000 in der Zeitung las, Griechenland habe sein Staatsdefizit soweit in den Griff bekommen, dass die Europäische Zentralbank der Mitgliedschaft Griechenlands in die Währungsunion grünes Licht gab, war ich maßlos verblüfft. Wie konnte das denn sein!? Die Griechen waren Meister des Laisser-faire in einem Land, wo nach deutschen Maßstäben nichts ordentlich funktionierte, wo stets mit großem Können improvisiert wurde, passend gemacht wurde, was nicht passte – die hatten die Maastricht-Kriterien erfüllt? Während Deutschland in dieser Zeit seine Verschuldungsrate nicht auf das von der EU vorgeschriebene Maß bringen konnte? Mein Griechenlandbild war in seinen Grundfesten erschüttert. Selbstverständlich glaubte ich an den ökonomischen Sachverstand in Brüssel und der Europäischen Zentralbank. Wenn die verkündeten, Griechenland habe die Voraussetzungen für die Aufnahme erfüllt, musste das ja wohl stimmen – dachte ich damals. Insgeheim tat ich Abbitte bei meinen Freunden in Griechenland und versuchte sie mir als redliche Steuerzahler vorzustellen. Als ein paar Jahre später bekannt wurde, dass Griechenland seine Daten frisiert hatte, um im Club der »Großen« aufgenommen zu werden und »… nicht immer weiter in der zweiten Reihe stehen zu müssen« wie es der damalige Premier Kostas Simitis mit Blick auf die griechische Würde formulierte, war mein Weltbild wieder in Ordnung. Die griechische Regierung hatte passend gemacht, was nicht passte und ihr Ziel erreicht, ganz ohne preußische Tugenden. So oder so ähnlich mögen auch andere gedacht haben, als in Europa die Nachricht über die »schummelnden Griechen« die Runde machte. Und manch einer mag sich auch bestätigt gefühlt haben in seinem Bild von »den Griechen«. Aber woher kommen diese Bilder von den »faulen, schummelnden Griechen«? Schließlich sind sie nicht die einzigen in der EU, die die in Brüssel ausgehandelten Verträge nicht immer dem Buchstaben getreu einhalten, wie hin und wieder in der Presse zu lesen ist. Jede Nation versucht das Beste für sich herauszuholen. Der in diesem Zusammenhang schlechte Ruf der Griechen aber scheint noch andere Ursachen zu haben, und die könnten in geschichtlichen Erfahrungen liegen und dem, was ihnen als »nationale Kultur« zugeschrieben wird. Diesem nationalen Image der Griechen werde ich im Folgenden nachgehen.

    1980 hatte ich nach einer längeren ethnografischen Feldforschung in Griechenland ein kleines altes Bauernhaus in Filia, einem Dorf auf der Insel Lesbos, erworben. Was mich dazu bewog, mein erstes verdientes Geld als Kulturanthropologin in ein Häuschen in Griechenland zu investieren, war die Faszination von einem Lebensgefühl des Improvisierten im Schatten der Regeln, das »es geht nicht, aber man kann’s machen«, was mir ein Gefühl von persönlicher Freiheit vermittelte – zumindest im Vergleich mit meinem Leben in Deutschland, das ich als unangenehm reglementiert empfand. Natürlich hoffte ich, dass mein Hausprojekt nicht so enden würde wie im Roman von Nikos Kazantzakis die Seilbahn zur Mine des englischen Schulmeisters auf Kreta, die beim ersten Gebrauch zusammenfiel und Alexis Sorbas seinen Boss fragte: »Hast du jemals etwas so wunderschön zusammenkrachen sehen?« 

    Kazantzakis beschreibt in seinen Romanen eine Weltsicht und Lebenseinstellung, die auch heute noch von Westeuropäern, die jenseits des organisierten Tourismus als Reisende nach Griechenland kommen, gesucht wird. Vielleicht kann man sie so beschreiben: Im Westen – in der seit langem hochtechnisierten und verwalteten Welt – herrscht oftmals die Auffassung vor, dass, wenn man nur konsequent daran arbeitet, die meisten Gefahren des Lebens beherrscht werden können, wenn nicht sofort, dann in naher Zukunft. Kazantzakis zeigt in seinen Romanen eine andere Sicht. Die Welt ist chaotisch, voller Gefahren und Schicksalsschlägen, statt sie beherrschen zu wollen, ist es besser zu lernen, sich mit ihnen zu arrangieren, aus jedem Schicksalsschlag und jeder Situation das Beste zu machen, im Hier und Jetzt zu leben, zu genießen, auch wenn das Drumherum unvollkommen ist. Und kommt es ganz dicke, dann muss auch die Katastrophe mit allen Tiefen durchlebt werden. Das ist Leben! Und für beides, für die Höhepunkte des Lebens wie für die tiefen Dramatiken, haben Griechen die Kunst der Inszenierung. 

    In den 35 Jahren, in denen ich jährlich Wochen oder Monate in »meinem Dorf« verbrachte, lernte ich nicht nur die Bedeutung der Kunst der Inszenierung im Alltagsleben nach und nach kennen und mich entsprechend zu verhalten, sondern auch all die anderen – aus meinem deutschen Blickwinkel oft überraschenden – kulturellen Selbstverständlichkeiten griechischen Lebens. So hat es lange gedauert, bis ich das erste Mal zu einem sonntäglichen Gottesdienst in die Kirche ging, und noch einmal lange, bis ich verstand, welche enge Beziehung zwischen griechisch-orthodoxem Christentum und der Weltsicht und Gestaltung des alltäglichen Lebens besteht. Als ich das erste Mal an einer Beerdigung teilnahm, klopfte mir jemand auf die Schulter und sagte: »Jetzt gehörst du zu uns!« Überraschend waren für mich auch viele Aspekte des Familienlebens. Nicht nur, dass in der Regel die Frauen zur Hochzeit ein Haus übereignet bekamen, in dem das Familienleben seinen Anfang nehmen konnte, sondern auch, dass sie, was die Ökonomie der Familie anbelangte, eine tragende Rolle innehatten, was durch die nach außen öffentlich zur Schau gestellte Dominanz der Männer nicht zu ahnen war. Kurzum, mein Integrationsprozess ins Dorf hat viele Jahre gedauert und ist bis heute nicht abgeschlossen.

    Irgendwann fiel mir auch auf, wie sehr die offizielle griechisch-nationale Ideologie »das Moderne Griechenland ist die Erbin des antiken Hellas« mit den Selbstverständlichkeiten des Lebens und der Weltsicht der Griechen auseinanderklaffte. Nun gut, ich teilte das Leben mit Dorfbewohnern auf einer griechischen Insel vor der türkischen Küste, einer Insel, die in ihrer Geschichte stets enger mit dem nahen türkischen Festland und Smyrna/Izmir verbunden war als mit dem fernen Athen. Und die Athener als Städter lebten früher wie heute unter anderen Lebensumständen als die Menschen in einem Dorf auf Lesbos. Aber das übergreifende Thema »Wie stehen das Moderne Griechenland und die Antike zueinander?« war und ist immer noch sowohl im städtischen als auch im ländlichen Milieu präsent. Was mich jedoch stets irritierte, war die Kühnheit, mit der das moderne Griechenland behauptete, die Wiedergeburt des antiken Hellas zu sein. Schließlich ist die Antike vor rund 2000 Jahren untergegangen! Danach gehörten Griechen mehr als tausend Jahre lang zum byzantinischen Reich und schließlich war das heutige Griechenland über 500 Jahre Teil des Osmanischen Reichs. Dass die griechische Antike eine überragende kulturelle Leistung hervorgebracht hat, von der auch heutige Generationen noch zehren und inspiriert werden, sei nicht in Frage gestellt. Aber warum muss sich der moderne Nationalstaat als »kulturell verwandt« mit der griechischen Antike darstellen? Weil die Akropolis, Delphi, Olympia und viele andere Tempel und Altertümer von der Präsenz der Antike auf seinem Staatsgebiet zeugen? Könnte das mit der historischen Situation bei der Entstehung des modernen griechischen Nationalstaats zusammenhängen? Genauer mit der Schwierigkeit, eine nationale Identität zu kreieren, in einem Land, in dem sowohl die Kultur des Okzidents als auch die des Orients unübersehbare Spuren hinterlassen hatten und das noch dazu von den Wünschen und Vorstellungen des übrigen Europa, besonders der der »Philhellenen«, beeinflusst war. 

    Das Thema »Nationalstaat« begann mich erneut zu beschäftigen, als nach der Jahrtausendwende der Euro eingeführt wurde und die Vielfalt der europäischen Nationen stärker ins Bewusstsein rückte. Einige Jahre später, als bekannt wurde, dass Griechenland im Zusammenhang mit der Euro- und Finanzkrise kurz vor dem Staatsbankrott stand und vom Scheinwerferlicht medialer europäischer Aufmerksamkeit erfasst wurde, trat zutage, wie wenig Europa vom modernen Griechenland weiß. Kommentare in den Medien fußten entweder auf allgemeinen Floskeln über die Antike – »Griechenland als Wiege der Demokratie« – oder ergingen sich in Polemiken über die »faulen unzuverlässigen Griechen«. So wurde durch die Finanzkrise deutlich, dass die Nationen Europas zwar wirtschaftlich miteinander verflochten waren, dass es aber – und wohl nicht nur in Bezug auf Griechenland – ein Defizit gab, was die Vertrautheit mit den heutigen europäisch-nationalen Gesellschaften und den nachbarschaftlichen Umgang miteinander anbelangte. 

    Das war der Moment, in dem ich beschloss, mich diesem Buchprojekt über das heutige Griechenland zu widmen. Ausgangspunkt sollte die Geschichte des griechischen Nationalstaats sein unter der Frage: Welche historischen Erfahrungen hatten die Griechen im Gepäck als sie ihre Nation gründeten? Dass mit der Erschaffung eines nationalen Selbstbilds die historischen Lebensbedingungen, unter denen Griechen in der Spätzeit des Osmanischen Reichs gelebt hatten, mit der Gründung eines eigenen Nationalstaats überwunden werden sollten, war nachvollziehbar. Aber auch das Lebensgefühl der byzantinischen Epoche spielte bei der Erschaffung des nationalen Selbstbilds sichtbar keine große Rolle. War es doch eingehegt in eine religiöse Lebensführung unter der Obhut der orthodoxen Kirche, die das Projekt zur Gründung einer griechischen Nation zumindest zu Beginn nur sehr zögerlich unterstützte. Ein griechisches nationales Selbstbild als »Erbe der Hellenen« musste also von Grund auf neu geschaffen werden. Ich fragte mich, welche Vorstellungen von einer griechischen Nation dabei in der spezifischen historischen Situation vor zweihundert Jahren zum tragen kamen und welche Rolle dabei das übrige Europa spielte? – Um es gleich vorweg zu nehmen: Es waren vor allem die humanistischen Vorstellungen im bayerischen Deutschland von einer zu schaffenden griechischen Nation, die wesentlich das Selbstbild der griechischen Nation prägen sollten. – Und wie wurde die neue, überall in Europa sich verbreitende nationale Ideologie mit den tradierten, kulturellen Weltsichten des griechischen Alltagslebens verbunden – haben sie sich überhaupt verbunden? Wie werden aktuelle Ereignisse, gesellschaftliche und politische Entwicklungen mit dem Fundus an tradierten Weltanschauungen in Griechenland interpretiert und bewältigt? Und schließlich fragte ich mich auch, wie es sein kann, dass Griechenland noch immer unter den gleichen finanziellen Schwierigkeiten leidet wie zu Beginn seiner Staatsgründung. Mit anderen Worten: Welche historischen Erfahrungen und welches kulturelle Selbstverständnis machen den modernen Greek way of life aus?

    Wenn ich im Folgenden nun historische Ereignisse, nationale Selbstbilder und die Strategien der alltäglichen Lebensbewältigung in Griechenland miteinander in Bezug setze, ist unumgänglich, dass mein Blick dabei als in Deutschland sozialisiert erkennbar sein wird. Denn das kulturell Andere kann nur auf dem Hintergrund des Eigenen wahrgenommen werden.

    Ich werde immer mal wieder als »Philhellenin« bezeichnet, was ich tatsächlich nicht bin. »Philhellene« ist ein schöner alter Begriff für Menschen, die sich vor allem mit dem antiken Griechenland verbunden fühlen. Der Philhellenismus entstand außerhalb Griechenlands in der Zeit, als die Ideen zur Gründung von Nationen das fortschrittliche Europa beschäftigten. Die Staats- und Gesellschaftsstruktur der griechischen Antike wurde als Vorbild für die Nation gesehen, hatte Symbolcharakter für die aufkommende Bewegung für Freiheit und Selbstbestimmung eines Volks. Das erstarkende und immer selbst-bewusster werdende Bürgertum sah darüber hinaus in der kulturell überragenden Epoche der griechischen Antike – in ihrer Ästhetik und Geisteswelt – einen adäquaten Ausdruck der eigenen Bedeutung, um sich selbst und anderen Völkern gegenüber, seine zivilisatorische Überlegenheit zu demonstrieren. Ganz in diesem Sinne – als Teil der europäischen Zivilisation – übernahm Griechenland bei seiner Staatsgründung das nationale Label als »Erbe des antiken Hellas« und »Wiege der europäischen Kultur«. 

    Diese intellektuelle Aneignung der antiken griechischen Geisteswelt im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Humanismus, hatte wenig zu tun mit der Tradierung der Antike durch die Griechen selbst. Die auf die Antike folgende byzantinische Epoche entwickelte zwar das Christentum auf der Grundlage der Kultur der Antike, mit der hellenischen Kultur direkt aber beschäftigte sich nur ein kleiner Kreis von Gebildeten. Das waren keineswegs nur Griechen. Kopten in Nordägypten und Juden zählten dazu und auch die römische Elite.¹ Es waren die, die sich den Luxus erlauben konnten und die Muße hatten, Texte der griechischen Philosophen zu lesen und Kommentare dazu zu verfassen. Die Masse der griechisch sprechenden Seefahrer und Bauern lebte in einer völlig anderen Welt. – So sahen die christianisierten Bauern nach dem Ende des Byzantinischen Reichs die antiken Skulpturen nur noch als Furcht einflößende steinerne Riesen an, als Abbildungen des Teufels. – Zur Zeit der Nationbildungen, der philhellenischen Freundschaftsbünde und des griechischen Freiheitskriegs waren es nicht mehr die ursprünglichen antiken Originaltexte, mit denen sich die gebildete Elite in Europa beschäftigte. Nunmehr war es die »schulhuma-nistisch« geprägte Sicht Europas auf die Antike, die, auch übernommen von den gebildeten Griechen im In- und Ausland, Grundlage des nationalen Selbstbilds der Griechen wurde. Und diese »schul-humanistisch« verformte Sichtweise auf die »Kultur Griechenlands« dominiert noch heute das Bild, das in Europa und besonders in Deutschland von Griechenland existiert. 

    Als Nationalstaat ist Griechenland heute zweifellos Teil der Europäischen Union. Historisch aber waren die Griechen bis zu ihrer Nationgründung vor knapp zweihundert Jahren keineswegs nur dem Westen, so wie wir ihn heute verstehen, kulturell zuzurechnen. Das Osmanische Reich – und damit die dort lebenden Griechen – gehörte der damals sogenannten »orientalischen Welt« an, aus Sicht Europas und der vieler Griechen, die sich sogar noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts keineswegs als Teil Europas empfanden. Nur über den Umweg der Antike konnte die heutige griechisch-nationale Identität als Europäer geschaffen werden. Im Zuge der Herausbildung einer »hellenischen« Identität musste die osmanische Epoche – definiert als Turkokratía, als Zeit der Unterdrückung durch die Türken – ausgeblendet werden. Trotzdem finden sich auch heute noch Spuren von Traditionen und Weltanschauungen aus der osmanischen Zeit im griechischen Alltagsleben, die die offizielle »hellenische Identität« des Staates stets wie ein Schatten begleiten. So hatten sich die Griechen im Entstehungsprozess des modernen Griechenlands als Nationalstaat zwar ein Selbstbild als »Erben der Antike« zugelegt, die Erfahrungen und Lebensstrategien aus dieser vorhergehenden Epoche aber waren weiterhin präsent, und dienen oft noch heute als eine Art welterklärende Orientierungshilfe. 

    In der zeitgenössischen griechischen Gesellschaft breiten sich globale Lebensweisen, die zur Uniformierung kultureller Ausdrucksformen führen, immer weiter aus. In einer Gegenbewegung zu McDonalds, IKEA und Co fragt sich die jüngere kritische Generation, was ihre ureigene griechische Identität ausmacht, jenseits der mittlerweile für den Tourismus disneysierten Antike. Diese Bewegung hat Vorbilder in griechischen Intellektuellenkreisen. Künstler und Schriftsteller, wie Kazantzakis, Seferis oder Theodorakis und viele andere, waren schon ab den 1950er Jahren auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln und entdeckten dabei die Bedeutung ihrer byzantinisch-griechischen Vergangenheit neu. Aber auch im übrigen Europa blitzt heute hier und da der Gedanke auf, dass die griechische Geschichte mehr sein müsse als ein Replikat des humanistischen Verständnisses der griechischen Antike.

    Nation: Ein Volk, eine Sprache, eine Geschichte

    Aus der Vogelperspektive auf die Geschichte stellt sich die Idee der Nation als etwas unerhört Neues dar. Hatten doch zuvor in Europa in den 2000 Jahren seit der griechischen Antike Völker und Volksgruppen »lose« nebeneinander gelebt in zum Teil riesigen Reichen, die als Ordnungsmächte mehr oder weniger erfolgreich waren. Die regionalen Potentaten betrachteten ihre Untertanen allerdings einzig als Quelle zur Beschaffung von Reichtum und hatten untereinander mehr Gemeinsamkeiten als mit den Menschen, die in ihren Einflussbereichen lebten. Die Vorstellung einer Nation, die von jeweils einem Volk, mit einer definierbaren Kultur gebildet wird, das eine Sprache spricht und dem ein festumrissenes Territorium gehört, ist historisch gesehen eine das Leben so radikal verändernde Idee, dass deren Auftauchen eine lange Vorgeschichte brauchte und nicht erst mit der Französischen Revolution entstand. Diese historischen Voraussetzungen wurden in den 1980er Jahren besonders von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm untersucht. Das heute so natürlich anmutende Nebeneinander nationaler Staaten bedurfte zu seiner Entstehung bestimmte historische Entwicklungen. Anderson zum Beispiel sieht einen Vorläufer der Idee zur Entstehung unabhängiger nationaler Staaten in den europäischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. Dort entstand die Vorstellung anders zu sein als die europäischen Mutterländer, und dies führte dazu, dass sich die Kolonien als eigenständige Staaten von Europa lösten. Das betraf vor allem Frankreich, Spanien und England.

    Der Nationalstaat als schützender Raum auf der Grundlage der Souveränität eines Volkes ist in der »westlichen Welt« eine Selbstverständlichkeit, auch wenn er bislang nicht überall auf der Welt verwirklicht werden konnte und es aktuell so scheint, als würde er zunehmend mehr infrage gestellt werden. Während Staatsmodelle eine eher überschaubare Vielfalt aufweisen, sind Nationen jeweils einzigartig durch ihre Geschichte vor der Nationwerdung und wie sie mit Elementen ihrer Tradition und kulturellen Weltanschauung ihre jeweilige Nation gestalten. Diese Einzigartigkeit hat sich aber nicht nur von innen heraus entwickelt, sondern auch im Gegenüber und in Abgrenzung zu anderen Nationen. In diesem Zusammenhang wird oft von nationaler Identität gesprochen, ein Begriff, der jedoch bis heute seiner wissenschaftlichen Definition harrt. Der Historiker Dieter Langewiesche schlägt vor, statt von nationaler Identität besser von nationalen Selbstbildern zu sprechen. Es sind Bilder – Imaginationen –, die aus der Erfahrung und Deutung historischer Entwicklungen hervorgegangen sind, die verbreitet werden durch die obligatorische Schulbildung und heute immer mehr durch die Medien. Sie postulieren bestimmte Werte, die für die gesamte Nation als verbindlich und ewig gültig erklärt werden, auch wenn bei genauerem Hinsehen diese Werte durchaus heterogen und widersprüchlich sind. Im Zusammenhang mit aktuellen außen- und innenpolitischen Ereignissen werden sie immer wieder kontrovers diskutiert zwischen Konservativen und sogenannten fortschrittlichen Gruppierungen.² Das nationale Selbstbild ist also nicht die Summe der kulturellen Identitäten seiner Staatsbürger, gedacht als immer schon so gewesen, als »Ausdruck einer Volksseele«, sondern wurde und wird immer weiter entwickelt im  andauernden Veränderungsprozess des nationalen Selbstverständnisses. Wie Gellner betont, war es aber immer die Ideologie des Nationalismus, die die Nationen hervorgebracht hat und nicht umgekehrt.³

    Der Kulturgeograph Wilfried Heller betont, dass heutige Staatsgrenzen auch immer Abgrenzungen kultureller Art sind.⁴ Die geografische Festlegung eines Staatsgebiets ist zwar für alle Aufgaben der »öffentlichen Hand« von Bedeutung, weil damit die Teilhabe der Bevölkerung an den Ressourcen der Gemeinschaft geregelt wird – wer gehört dazu und wer nicht? Diese räumliche Bestimmung eines Staatsgebiets aber ist nicht unproblematisch. Die im Laufe der Geschichte immer wieder unterschiedlich festgelegten Grenzverläufe führten dazu, dass sich nicht jede Bevölkerungsgruppe zu dem Land, in dem sie heute lebt, auch zugehörig fühlt. Es gibt wohl keinen Nationalstaat, der dieses Problem nicht kennt und stets darauf bedacht sein muss, daraus resultierende Konflikte im Zaum zu halten. Besonders den europäischen Grenzen nach Osten und Südosten mangelt es an historischer Eindeutigkeit. Kann Griechenland geografisch und kulturell als Teil Europas angesehen werden, wenn sein kulturelles und politisches Zentrum über 1500 Jahre lang das heutige Istanbul war? Die nationalistische Idee »ein Volk – ein Land« praktisch umzusetzen birgt bis heute politischen und sozialen Sprengstoff.

    Gerade in Bezug auf die östlichen Grenzen Europas spielt die kulturelle Abgrenzung und in ihrer Folge die politische eine bedeutende Rolle. Europa grenzte sich stets vom Osten ab – verstanden als Asien oder Orient – und dazu gehörte auch Griechenland. Der Orient galt als »barbarisch, tyrannisch, unaufgeklärt, antidemokratisch, autoritätshörig, grausam, irrational, hysterisch und so weiter«, kurz als das Gegenteil des Westens.⁵ Der Westen dagegen reklamierte für sich die Aufklärung, wissenschaftliche Rationalisierung, ein modernes Staatswesen und eine gut funktionierende Administration, dazu den durch die Aufklärung geprägten Katholizismus. So wurde nicht nur der Islam, sondern auch das orthodoxe Christentum als nicht zum Westen gehörig angesehen. Damit war das christlich-orthodoxe Griechenland, das zudem 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehört hatte, vom Westen ausgeschlossen – obwohl Europa Griechenland als Erbin des antiken Hellas ideologisch vereinnahmt hatte! Dieser Widerspruch wurde dahingehend aufgelöst, dass – ganz im Sinne der Ideologie des Nationalismus – die Epoche Griechenlands als Teil des Osmanischen Reichs als beherrscht und fremdbestimmt durch die Türken definiert wurde. Diese geschichtliche Einordnung ließ den Griechen bei ihrer Nationgründung letztlich keine andere Wahl als sich und den übrigen Europäern zu beweisen, dass sie die wahren Nachkommen der antiken Hellenen sind. Es scheint so, als ob Griechenland nur aus dem Grund zu Europa gehörig anerkannt wurde, weil dort »die Wiege der Demokratie« stand und die Urväter der europäischen Aufklärung Griechen waren. So gehört Griechenland zwar heute zur europäischen Familie, aber – bildlich gesprochen – es wird gern wie ein alter Großvater auf den Stuhl vor die Haustür gesetzt und soll nicht weiter stören.

    Kulturelle Abgrenzungen sind untrennbar mit der Ideologie des Nationalismus und den Selbstbildern der Nationen verbunden, denn sie waren die Voraussetzung dafür, ein europäisches Selbstbild im Gegenüber des ganz Anderen zu kreieren. Erst mit der Bestimmung des Anderen wurde das Eigene deutlich, wobei nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb Europas jede Nation sich selbst als den Gipfel der Zivilisiertheit ansah (die jeweils anderen westeuropäischen Nationen wurden als bestenfalls auf dem Weg dorthin gesehen). »Das dichotomi-sierende Konstruieren wirkt (heute) in gleicher Weise weiter. Die anderen sind das wirkliche, schlechte Gegenteil des eigenen Ideals. Das eigene Ideal erscheint als Wirklichkeit, weil die fremde schlechte Welt wirklich ist«, schreibt der Soziologe Erhard Stölting dazu.⁶

    Die weiter zurückliegende Geschichte eines jeden Landes stimmt zwar meist nicht mit seinen heutigen Grenzen überein, aber jede Nation hat für sein Territorium eine eigene Geschichte, eigene Traditionen und eine kulturelle Identität entwickelt, denn der Idealfall – ein Volk, eine Sprache, ein Land – war zur Zeit der Nationgründungen nirgendwo vorhanden. Wie erfolgreich das Erlernen einer gemeinsamen nationalen Identität war, zeigt sich auch daran, dass zumindest im Zusammenhang mit dem Tourismus mittlerweile fast jedes Land auf der Welt eine »einzigartige nationale Kultur« vorweisen kann. Dabei sind die unterschiedlichen Kulturen der Nationalstaaten zu einer Art Markenzeichen, einem Corporate Design, erhoben worden, an deren Erschaffung sowohl Tourismusmanager als auch die Einwohner selbst arbeiten. So ist im Tourismusgeschäft die Nation eine Art Ware geworden, mit der gut Geld verdient werden kann – viel von den Reiseunternehmen und internationalen Hotelkonzernen, aber auch die Einheimischen profitieren von den Ausgaben der Touristen. Die UNESCO unterstützt mit der Vergabe ihrer Kulturerbe-Titel für Landschaften, Tiere, Architektur, Folklore, Musik und Speisen die nationalen Identitäten und ebenfalls den Tourismus, auch wenn die Kulturerbe-Titel zeigen sollen, dass (nationale) kulturelle Leistungen für die ganze Menschheit erhalten bleiben müssen. 

    Nationale Identitäten wurden also konstruiert – aber nicht aus dem Blauen heraus. Jede Nation hat sich ihre nationale Einmaligkeit und Besonderheit aus ihrer vornationalen Geschichte geschaffen. Die Erfahrungen der Französischen Revolution, dass das Volk der Souverän ist und das in der Verfassung verankerte Recht bekommen muss, zu bestimmen, wie es leben will, wurde im Entstehungsprozess der Nation in Frankreich stärker betont als in Deutschland. Hier wurde der Begriff des Volkes, wie er in der Romantik noch ganz unpolitisch gesehen wurde, stärker in den Vordergrund gestellt. Das Volk war die Masse, die armen Leute, im Gegensatz zur der als »dekadent« empfundenen reichen Aristokratie und der Obrigkeit. Das Volk gab es »schon immer«, und daraus wurde das Recht abgeleitet, seine Lebenszusammenhänge selbst zu bestimmen. Die Prämissen der Nation aber waren letztendlich in beiden Staaten gleich: Nation = ein Volk, eine Sprache, ein Territorium.

    Die griechische Nation jedoch ist ideologisch keineswegs aus der Weiterentwicklung seiner unmittelbar vorhergehenden Epochen entstanden. Nach der erfolgreichen Loslösung aus dem Osmanischen Reich lag die Antwort auf die Frage, wie es mit dem Land weitergehen soll, auf der Hand: Griechenland sollte eine eigenständige Nation werden. Zum einen waren Nationbildungen in Europa an der geschichtlichen Tagesordnung, zum anderen wollte Griechenland ganz pragmatisch weg vom heruntergewirtschafteten Osmanischen Reich hin zum modernen fortschrittlichen Europa. Das Land wurde von den übrigen europäischen Nationen mit offenen Armen empfangen, und seine Eintrittskarte war sein Status als Erbe der griechischen Antike.

    Das heutige Griechenland aber war als Teil des Osmanischen Reichs in seiner Geschichte von einer ganz anderen Weltsicht geprägt als Westeuropa zur Zeit der Nation-gründungen. Da war zum einen die geografisch weit gestreute Beheimatung der Griechen, die sich bis ins 20. Jahrhundert zog und erst mit der »Kleinasiatischen Katastrophe« 1922 ein Ende fand. Die Schulweisheit »Griechen saßen um das Mittelmeer wie Frösche um den Teich« (bezogen auf einen Ausspruch des antiken Philosophen Sokrates im 5. Jahrhundert v. Chr.) bringt diese Situation

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1