Unsere Antwort. Die AfD und Wir.: Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus
By Hirnkost
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Unsere Antwort. Die AfD und Wir. - Hirnkost
Freiheit
Vorwort
Klaus Farin
Am 8. März 2018 erregte der Dresdener Autor Uwe Tellkamp viel Aufsehen, als er im Vorfeld der Leipziger Buchmesse bei einer Talkshow u. a. äußerte:
„Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent."
Eine Woche später, am 15. März 2018, taucht sein Name erneut auf – als Erstunterzeichner einer von Vera Lengsfeld initiierten „Gemeinsamen Erklärung 2018", in der es heißt:
„Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird."
Sowohl Tellkamps Statement als auch die „Erklärung 2018" lösten ein unerwartet breites Echo aus. Kaum ein relevantes Feuilleton, das nicht darüber berichtete; sowohl einzelne Persönlichkeiten als auch ganze Verbände und andere Organisationen sahen sich genötigt, sich selbst zu positionieren; in den Sozialen Netzwerken brach sowieso ein Sturm der Entrüstung aus. Dabei ging es nicht immer um Fakten, oder eigentlich sogar eher weniger. Schon Uwe Tellkamps Statement zitierte lediglich die Schlagzeile einer Boulevardzeitung und war von keinerlei Sachkenntnis getrübt (wie spiegel.de in einer Gegenrecherche belegte: www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/uwe-tellkamp-im-faktencheck-wie-ein-schriftsteller-die-wirklichkeit-ausblendet-a-1198274.html). Deshalb dringen auch kritische Stimmen, die zum Beispiel darauf hinweisen, dass 1990 – 1993 schon einmal so viele Asylanträge in Deutschland gestellt wurden wie 2015/16, ohne dass das Land spürbaren Schaden davongetragen hat, dass nicht wenige Kommunen in Deutschland sogar darum werben, mehr Geflüchtete zugewiesen zu bekommen, weil sie diese dringend für ihren Arbeitsmarkt und zur Aufrechterhaltung wichtiger Infrastrukturen (z. B. Schulen) benötigen, bei den „besorgten Bürgern" kaum durch. Es geht bei der Geflüchteten-Debatte im Kern nicht um Fakten, sondern um Emotionen: Xenophobie, Neid, Hass, Ängste, Empathie oder eben: fehlendes Empathievermögen.
Neu an der jüngsten Debatte ist allerdings, dass sie die Erkenntnis befördert, dass Rassismus und Rechtspopulismus nicht nur ein Problem marginalisierter Bevölkerungsschichten und ostdeutscher Regionen sind. Die Spuren der neoliberalen Entwertungslogik, nach der nur zählt, was sich rechnet, und alles andere „entsorgt werden muss, haben in allen Milieus der deutschen Gesellschaft fruchtbaren Boden gefunden. Nicht nur „die da unten
sind anfällig für die rechtspopulistischen Vereinfacher, sondern gerade auch die Eliten und Privilegierten.
Zu diesen gehören zweifellos auch Schriftsteller*innen, auch wenn die meisten von ihnen – entgegen dem Mythos vom schriftstellerischen Bonvivant – für ihren Lebensunterhalt einen Zweitjob benötigen oder manche sogar in der reichen Bundesrepublik Deutschland in Armut leben.
So gab es auch schon ab Februar 2018 im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) bei ver.di Diskussionen darüber, wie man mit der AfD und vor allem mit deren Mitgliedern umgehen solle, die gleichzeitig Mitglied bei ver.di sind. Bereits im Herbst 2017 hatte sich unter #verlagegegenrechts eine Initiative aus Indie-Verlagen gegründet, die versuchte, im Rahmen der Buchmessen von Frankfurt und Leipzig nicht nur die dortige Präsenz neorechter Verlage kritisch aufzugreifen, sondern vor allem auch die von den Rechtspopulisten und Neuen Rechten aufgegriffenen Themen differenziert zu diskutieren und in den Fokus des Publikums zu rücken. Im Januar 2018 formulierten der Berliner Schriftsteller Michael Wildenhain und einige Kolleg*innen schließlich einen Unvereinbarkeitsantrag für den Berliner VS-Landesverband, nach dem die Mitgliedschaft in „AfD und ähnlichen" Gruppen mit der im VS bzw. ver.di nicht kompatibel sei. Daraufhin startete in einer kleineren Gruppe von Autor*innen eine Diskussion über Unvereinbarkeiten, aber auch den generellen Umgang von Schriftsteller*innen mit Rechtspopulismus und Rassismus. Die Beiträge dieser Diskussion dokumentiert dieses Buch.
Am 29. März 2018 ging schließlich eine Antwort zur rechtspopulistischen „Erklärung 2018" online:
„Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut in unserem Land Zuflucht suchen, und wenden uns gegen jede Ausgrenzung."
Innerhalb von wenigen Tagen unterzeichneten mehrere hundert Schriftsteller*innen, Literaturübersetzer*innen, Buchhandlungen und Verlage diesen Aufruf – bis zum Redaktionsschluss dieses Buches waren es bereits weit über fünftausend. Auch dieser Gegen-Aufruf argumentiert nicht, stellt keine Ursachen dar und politischen Zusammenhänge her, will gar nicht Fakes durch Fakten widerlegen, sondern „nur positionieren, illustrieren, dass die immer aggressiver präsentierten rechtspopulistischen Behauptungen, „wir sind das Volk
und „wir sprechen nur aus, was alle denken, aber sich nicht zu sagen trauen (weil in Deutschland angeblich alles ‚Nonkonforme‘ zensiert wird), Mythen und Selbstinszenierungen von Menschen sind, die sich offenbar überwiegend in Gleichgesinnten-Kreisen und -Netzwerken bewegen. Die Realität sieht anders aus: Noch nie gab es so viele Menschen in Deutschland, die sich mit und für Geflüchtete(n) engagiert hätten, noch nie gab es auch in der Gesamtbevölkerung so hohe Zustimmungsraten zu den Statements, „Deutschland ist ein Einwanderungsland
und Geflüchteten in Not müsse geholfen werden. Die Liste der Unterzeichner*innen – siehe http://antwort2018.hirnkost.de/ – dokumentiert beispielhaft und in ihrer Vielfalt eindrucksvoll dieses ‚andere‘ Deutschland, das sich von den Neid- und Hasstiraden der radikalisierten „Wutbürger nicht hat infizieren lassen. Wann immer Rechtspopulist*innen öffentlichkeitswirksam von ihrem monokulturellen Paradies schwadronieren und dabei den Eindruck erwecken wollen, dass ihre kruden Ängste und Träume „das Volk
repräsentieren, genügt ein Blick in dieses Zeitdokument aus dem Frühjahr 2018, um die Absurdität ihrer Behauptung zu begreifen.
Dass der (ver)öffentlich(t)e Eindruck oft ein anderer ist, mag auch daran liegen, dass die Mehrheit zumeist eine schweigende ist und auch in der Medienlandschaft sehr präsente Menschen – wie Wissenschaftler*innen und Künstler*innen – sich in den letzten Jahren zu wenig offensiv zu Wort meldeten. Schon länger wird auch darüber unter Schriftsteller*innen diskutiert: Ist die Zeit, in der Wortmeldungen von Autoren wie Heinrich Böll oder Günter Grass noch in den Feuilletons und sogar in der Politik breit diskutiert wurden, endgültig vorbei? Oder müssen Autor*innen (und andere Künstler*innen) vielleicht nur wieder selbstbewusst in die Offensive gehen, sich einmischen, um gehört zu werden? Müssen wir in Zeiten immer kürzerer Themenkonjunkturen und schnelllebigerer und oberflächlicherer Mediendebatten unsere Empörung über Missstände, aber auch unsere Visionen einer besseren – gerechteren, toleranteren, friedlicheren, demokratischeren – Gesellschaft nur lauter platzieren? Dieses Buch ist auch – darin sind sich alle Beteiligten bei ansonsten sehr kontroversen Meinungen zum Thema einig – ein Schritt in diese Richtung. Wir Autor*innen werden uns auch zukünftig – wieder – stärker einmischen!
Die Mitwirkenden
Rudolph Bauer, Jahrgang 1939; 1972 bis 2002 Prof. für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen. Bildender Künstler, Autor; Mitglied im Landesvorstand des VS
Niedersachsen-Bremen. www.rudolph-bauer.de
Zoë Beck, Jahrgang 1975, Schriftstellerin, literarische Übersetzerin, Verlegerin (Culturbooks). Sie ist Mitinitiatorin von #verlagegegenrechts und dem feministischen Zusammenschluss Herland, Mitglied des PEN und der Litprom. www.zoebeck.net, www.culturbooks.de.
Carlos Collado Seidel, geb. 1966, außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg; seit 2017 Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland.
Lena Falkenhagen, 1973 geboren, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Hannover und arbeitet seitdem als freischaffende Autorin, Lektorin, Übersetzerin und Computerspiele-Autorin. Sie ist Mitgründerin und 2. Vorstandsvorsitzende des Phantastik-Autoren-Netzwerks (PAN) e.V. und stellvertretende Vorsitzende des VS Berlin. Für PAN zeichnet sie auch verantwortlich für die politische Ausrichtung und gründete u.a. mit Nina George und Eva Leipprand 2016 das Netzwerk Autorenrechte, in dem sich mittlerweile elf Autorenvereinigungen zur politischen Arbeit zusammengeschlossen haben.
Klaus Farin, geboren 1958, Begründer des Archiv der Jugendkulturen, Vorsitzender der Stiftung Respekt!, Vortragsreisender, Autor und Lektor in Berlin; seit 1981 Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen (VS); letzte Veröffentlichung: Über die Jugend und andere Krankheiten, Hirnkost 2018. http://klausfarin.de/
Nina George, internationale Bestsellerautorin, Journalistin und Wortaktivistin (*1973). George schreibt seit 1992 Romane, Thriller, Sachbücher, Kolumnen, Portraits, Reports und Essays. Ihr bisher größter Erfolg war der Roman „Das Lavendelzimmer" / The Little Paris Bookshop (70 Wochen Spiegel-Bestsellerliste Top-Ten, New York Times Bestseller, Indie-Book-Bestseller No. 1), der in 36 Sprachen erschien. Am 2. Mai 2018 erschien ihr neuer Roman „Die Schönheit der Nacht. George gründete 2011 die Initiative „JA zum Urheberrecht
, 2014 die Initiative Fairer Buchmarkt, 2016 das Netzwerk Autorenrechte mit inzwischen elf angeschlossenen Schriftstellerverbänden. George wirkt u. a. im Präsidium des PEN Deutschland, des Bundesvorstand im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) als Beirätin für Urheberrecht, digitales Leben und Diversität im Literaturbetrieb, und ist Mitglied im Verwaltungsrat der VG Wort. Sie war Initiatorin des AutorInnenprotests gegen Amazon 2014.
Werner Schlegel, geboren 1951. Autor, Journalist und Ex-Kabarettist. Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (als Bezirkssprecher Mitglied im erweiterten Landesvorstand NRW) seit 1981. Bis 2011 fast zehn Jahre Mitglied im ver.di-Bezirksvorstand Emscher-Lippe Süd. Neueste Publikation: Denken um zu leben (mit M. Rullmann), Marix 2018.
Leonhard F. Seidl, geb. 1976, Dozent für Kreatives Schreiben, Sozialarbeiter und Schriftsteller. Zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. für seine Arbeit „Beschriebene Blätter – kreatives Schreiben mit straffälligen Jugendlichen". Seidl schreibt Romane, für Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied im Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di und des PEN-Zentrums Deutschland. Sein vielbeachteter vierter Roman Fronten erschien 2017 in der Edition Nautilus. www.textartelier.de.
Sophie Sumburane, geboren 1987 in Potsdam, lebt und arbeitet auch heute wieder dort – als freie Kulturjournalistin und Autorin –