DIE LETZTE FAHRT DER ENORA TIME: elf utopische Geschichten - von Dystopie und Space Opera bis Science Fiction
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About this ebook
Erfahren Sie, was am Rande des Universums existiert und warum ein Penner mit einem Notebook am Würstelstand die Zukunft der Menschheit kennt.
Entdecken Sie ein mysteriöses Motel an der Autobahn, das gar nicht existieren dürfte, und eine seltsame Firma, die bereits seit 1939 Zeitreisen anbietet – allerdings ohne Rücktrittsklausel.
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"Wer in Grubers Science-Fiction-Welten vordringt, wird niemals mehr wieder umkehren wollen. Nehmt euch in Acht!" [Michael Marcus Thurner]
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Book preview
DIE LETZTE FAHRT DER ENORA TIME - Andreas Gruber
ECKE 57TH STREET
Von jeher haben mich so genannte Locked-Room-Szenarien fasziniert, wenn sich die Handlung in einem geschlossenen System abspielt, wie beispielsweise bei Mord im Orient-Express im Zug, Stirb Langsam in einem Wolkenkratzer, Alarmstufe Rot auf einem Schiff oder Air Force One in einem Flugzeug. Wenn die Handlung wie in einem Kammerspiel in einem Ort zusammengedampft wird, bin ich wie gefesselt. Je klaustrophobischer, desto besser.
Vermutlich ist aus dieser Faszination heraus Ecke 57th Street entstanden, das ich Ende der 90er Jahre geschrieben habe. Ich hoffe, Sie können diesem Thema etwas abgewinnen und es wird Ihnen nicht zu eng …
»Margarit Jenan?«, wiederholte der Portier nuschelnd, stützte sich mit den Ellbogen auf das Pult und blinzelte mich aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. »Die wohnt im einundzwanzigsten Stock, Zimmer 2163.« Er deutete mit einem Kopfnicken zum Lift.
Seine Stirn erstarrte zu einer Fassade aus tiefen Furchen und sah aus, als wäre ihm das Muster ins Gesicht gemeißelt worden. Es fehlte noch, dass er sein Kauderwelsch mit dem obligatorischen Yeah! beendete, doch diesen Gefallen tat er mir nicht. Er justierte sein Steckmikro im Ohr und nestelte an dem Kabel, das an seinem Hals entlang verlief und unter dem Kragen der dunkelblauen Uniform verschwand.
»Ist sie zu Hause?«, fragte ich auf Englisch. Falls sie arbeiten ging, müsste sie zu dieser Zeit eigentlich schon da sein.
Der Portier warf einen Blick auf die Digitalanzeige über dem Halleneingang. 18.35 Uhr. Er zuckte mit den Achseln und lächelte nachsichtig, als läge ihm ein schnippischer Kommentar auf den Lippen. Woher-soll-ich-das-wissen-Bursche-sehe-ich-aus-wie-der-liebe-Gott? Geringschätzig blickte er über den Rand des Pults und musterte meine Schnürschuhe, die Bauchtasche, die über den Knien abgeschnittenen Jeans, meine Ray Ban Sonnenbrille, die im Ausschnitt steckte, und mein Bill geht's-T-Shirt, dessen Wortwitz er sowieso nicht verstand.
»Name?«, murrte er.
Verständnislos starrte ich ihn an. Mein Gott, was will der von mir? »Margarit Jenan«, wiederholte ich automatisch.
Er blähte seine Nasenflügel und sog die Luft scharf ein, sodass sich sein Brustkorb hob. »Nein, dein Name, Junge!«
Ach so! »Markus Breitler«, antwortete ich.
Wie ein Habicht fixierte er mich.
»Yeah!«, murrte er schließlich und klapperte mit den Fingern auf der Tastatur des Laptops, ohne den Blick von mir zu nehmen.
Arrogantes Arschloch, dachte ich. Wahrscheinlich konnte er meinen Namen nicht richtig schreiben und würde stattdessen eine amerikanische Version, wie Marcus Brightler, erfinden. Neugierig spähte ich auf den Bildschirm. Im nächsten Augenblick stand Markus Breitler in dunkelblauen Lettern auf dem Crystaldisplay des Monitors zu lesen.
»Aha!« Ich betrachtete ihn überrascht. Schließlich fügte ich ein duckmäuserisches »Vielen Dank« hinzu, stemmte meinen Tramper-Rucksack hoch, schwang den Riemen über die Schulter und ging zur Liftanlage.
Meine Schuhsohlen quietschten über die blau gesprenkelten Marmorplatten der Eingangshalle. In der Spiegelung einer Glaswand sah ich, dass in der Lasche des Rucksacks immer noch die Handtücher hingen, heute Morgen klitschnass hinein gestopft, bevor ich die Jugendherberge verlassen hatte. Mittlerweile hatte die Sonne sie jedoch getrocknet und sie waren so steif wie Bretter.
Der Zeiger des Fahrstuhls pendelte sich soeben zwischen dem achten und neunten Stockwerk ein. Ich drückte den Sensor und wartete. Auf der blankpolierten Messingverkleidung der Kabinentür bemerkte ich die verzerrten Umrisse des Portiers, der seinen Oberkörper wie eine Marionette über das Pult beugte und mir ein Loch in den Rücken starrte. Amerikaner, dachte ich, beinahe hätte ich es laut gesagt. Neugierig, bespitzelnd und denunzierend!
Aus Angewohnheit wischte ich mir den erkalteten Schweiß aus dem Nacken und rieb die Handfläche an den Jeans trocken. Zum Glück war der Wohnblock klimatisiert. Auf der Straße knallte die Nachmittagssonne auf den Asphalt und vermischte sich mit dem Smog, der zäh zwischen den Häuserschluchten hing; typisch für New York um diese Jahreszeit. Ende August. Doch nach Quebec, Montreal, den Niagara-Fällen und Boston war hier ohnehin mein letzter Stop, wo mein Urlaub zu Ende ging – fünf Wochen, die mir das Personalbüro der Siemens AG erstmalig genehmigt hatte.
Die weite Einsamkeit Kanadas war ein Traum gewesen, die Hektik New Yorks dagegen ein Albtraum! Mit einem Bus war ich während der Rushhour durch die halbe Stadt gegondelt, von Staten Island nach Manhattan, und hatte aus dem zerknautschten Gebrabbel des Fahrers mehr über den Big Apple erfahren, als ich bei einer Sightseeing-Tour je hätte lernen können. In der Nähe des Central Parks war ich an der Kreuzung Broadway und West 57th Street aus dem Bus gesprungen, zwischen Millionen von Menschen, hupenden Yellow Cabs, flackernden Neonreklamen, Hochhäusern mit verdreckten Backsteinfassaden und Türmen aus Beton und verschmiertem Spiegelglas. Mir hatte der Atem gestockt; die Menschenmasse hatte annähernd still gestanden und war wie ein Lavastrom quälend langsam an mir vorbei geflossen. Noch drei Tage, dann hatte ich es hinter mir, und die zweistöckige Boeing 747 der KLM würde mich zurück nach Wien bringen.
Margarit lebte also im einundzwanzigsten Stock. Vielleicht wusste sie eine günstige Unterkunft oder würde mir sogar anbieten, die paar Tage in ihrer Wohnung zu übernachten, dann ersparte ich mir die Dollars für eine Jugendherberge. Margarit war zwar nie besonders hilfsbereit gewesen, doch sie würde mir bestimmt weiterhelfen, denn für eine grobe Abfuhr kannten wir uns schon zu lange.
Aufgefallen war sie mir zum ersten Mal im Einführungs-Tutorium und später während der Vorlesungen des Wintersemesters '91. Meist saß sie allein in der hintersten Reihe und stellte bereits damals, trotz ihres Sprachfehlers, die unmöglichsten Fragen, besserwisserisch und rotzfrech, wie es ihre Art war. Zweifellos war sie anders, und ihr ungewöhnlicher Charakter faszinierte mich schon zu einer Zeit, als wir uns noch nicht kannten.
Erst im dritten Semester lernte ich sie persönlich kennen, in der Mensa der Technischen Universität Wien, als sie sich mit ihrem Essentablett bis zu meinem Tisch hindurch zwängte, ihre schmächtige Figur vor mir aufbaute, die rahmenlose Kunststoffbrille zurechtrückte und mich fragte, ob diese Nische mitsamt dem Tisch meine Studentenbude sei, weil ich mich mit den Büchern und Skripten so breitmachte. Bereits als junge Studentin betonte sie ihre weiblichen Reize nicht im Geringsten; anscheinend hatte sie keine. Allerdings wirkte sie vielleicht gerade deswegen interessant in ausgebeulter Hose und schlabberigem Hemd, die ihre schlaksige Figur verhüllten, den fusseligen, schulterlangen Haaren und dem nichtssagenden Gesicht, auf dem ich niemals Rouge, Lidschatten oder Lippenstift entdeckt hatte.
Von diesem Zeitpunkt an liefen wir uns in der Mensa öfter über den Weg und saßen beim Mittagessen in jener Nische beisammen, meiner sogenannten Studentenbude. Bald paukten wir gemeinsam in nächtlichen Marathonsitzungen den Seminarstoff des vierten Semesters und hockten dabei meist in ihrem Studentenzimmer, das fast ausschließlich aus Tastaturen ohne Abdeckungen bestand, Monitoren ohne Gehäuse und Computern, deren ausgebaute Motherboards verstreut wie Treibgut auf dem Boden lagen. Stundenlang lümmelte sie vor den Geräten, die Haare mit einem Gummiband zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, während ihre blassen, dürren Hände im Zweifingersystem über die Tasten huschten. Sie knabberte gelegentlich trockenes Müsli ohne Milch, trank einen Joghurt dazu und drohte in ihrem Arbeitsfleiß magersüchtig zu werden. Jedenfalls aß sie nur dann etwas, wenn ich mit einer Tüte vom Supermarkt kam und ihr Fruchtsäfte und Thunfisch-Sandwiches mit Eiern und Käse brachte.
Viele Studienkollegen bezeichneten sie als Streberin, ich sah jedoch den besessenen Freak in ihr. Bereits im ersten Studienabschnitt kristallisierte sich Margarits Talent heraus, und binnen weniger Semester avancierte sie zur Begabtesten des Jahrgangs. Geradezu genial entwarf Margarit die erste vernetzte Datenbank, die sich mit einem integrierten KI-Chip selbst updatete und weiter entwickelte. Die Datenbank wusste, wo und wann sie welche Daten downloaden durfte, welche Informationen von Interesse waren und welche nicht. Im Grunde genommen nichts Aufregendes, doch programmierte Margarit dazu eine Hologramm-Plattform für Cyberbrillen, die an Schläfenkontakten – Scanpads, wie Margarit sie nannte – montiert wurden. Diese Pads ließen eine optische Datenverarbeitung zu, sodass der User mehrere Operationen gleichzeitig, praktisch in Nullzeit, durchführen konnte.
Zeitschriften wie Chip, PC-Intern und Computerwoche berichteten darüber, und schlagartig stand die TU-Wien im Mittelpunkt der Wissenschaft. Doch Margarit ging der Fortschritt viel zu langsam. Ständig wollte sie die Abläufe rationalisieren und schimpfte über die Hürden der veralteten Computertechnologie, bis sie schließlich an einem von Wirtschaftsgeldern gesponserten Forschungsprojekt beteiligt wurde, in dem sie einen mehrdimensionalen Maschinencode ausbrütete. Dafür wurde keine Programmiersprache mehr benötigt, die als Übersetzer fungierte und die Befehle in den binären Eins-Null-Code kompilierte, sondern nur noch ein Interface, das die Eingabe sofort als Maschinencode interpretierte. Wie das funktionieren sollte, fragten wir uns, und einige Studenten belächelten Margarit als eine spleenige Verrückte, die meisten anderen jedoch als arrogante Wichtigtuerin.
Dennoch, ihre Idee von einer neuen Technologie schien zu funktionieren – zumindest in der Theorie. Margarits Konzept basierte auf keiner simplen Strom-ein/Strom-aus-Methode, sondern nutzte das Farbenspektrum des Lichts, um komplexere Zustände gleichzeitig abzuarbeiten. Licht statt Strom! Ein revolutionärer Ansatz – offensichtlich –, und wie ich es von Margarit nicht anders erwartet hätte, arbeitete sie verbissen und fast bis zur körperlichen Selbstaufgabe daran. Es ging sogar soweit, dass sie die Welt um sich negierte, sich zu Hause einschloss, ihre sozialen Kontakte aufgab und gänzlich auf Partys, Kinobesuche und die Techno-Open-Air-Festivals auf der Donauinsel verzichtete, wo sie ohnehin nur selten zu sehen gewesen war. Auf diesem Niveau der Forschung klinkte nicht nur ich mich aus, sondern auch alle anderen Projektstudenten sowie der gesamte Lehrkörper … und Margarit blieb allein zurück mit ihren Überlegungen. Ob das Projekt eingestampft oder weitergeführt wurde, wusste ich nicht. Möglicherweise hatte das MIT die Forschung Jahre später