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Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016
Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016
Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016
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Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016

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Die Publikation "Friedenskonzepte im Wandel. Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016" untersucht die Entwicklung der Vergabe des Friedensnobelpreises seit Beginn und fragt nach den jeweiligen zugrunde liegenden Friedenskonzepten des Nobelkomitees bei seiner jährlichen Entscheidung. Neben der systematischen Analyse aller Preisverleihungen wird in zwölf repräsentativen Fallstudien im Detail auf die entsprechenden wissenschaftlichen sowie geopolitischen Kontexte der Friedenskonzepte bzw. der Friedensarbeit der PreisträgerInnen eingegangen.
Der Wandel des Friedensbegriffs von der "bloßen" Abwesenheit zwischenstaatlicher Kriege hin zu einem breiten Friedensbegriff, der innerstaatliche Faktoren wie Demokratie, sozioökonomische Gleichheit und Einhaltung von Menschenrechten berücksichtigt, zeigt, dass das Nobelkomitee im Lauf der Zeit eine große Bandbreite von Friedenskonzepten mit dem Friedensnobelpreis auszeichnete, wobei auch eine klare politische Agenda des Komitees in der Auswahl der PreisträgerInnen – zu verstehen in den jeweiligen geopolitischen Kontexten – herausgearbeitet werden konnte.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateDec 1, 2017
ISBN9783706558945
Friedenskonzepte im Wandel: Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2016

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    Friedenskonzepte im Wandel - StudienVerlag

    Herausgeberinnen

    1.  Gesamtanalyse der Vergabe der Friedensnobelpreise – Längsschnitt

    1.1  Methodische Vorgehensweise

    Diese Studie untersucht die Forschungsfrage, inwiefern sich die Friedenskonzepte, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, im Laufe der Zeit (1901–2016) verändert haben. Die Analyse zielt auf die Ableitung unterschiedlicher Friedenskonzepte aus den verwendeten Quellen. Als Arbeitshypothese wurde formuliert, dass sich das Friedensverständnis von Nobelkomitee und PreisträgerInnen seit 1901 schrittweise von einem engen negativen Friedensbegriff (Frieden bedeutet Abwesenheit von Krieg) hin zu einem positiven Friedensbegriff, der die Qualität des Friedens einbezieht (Freiheit von Not, Freiheit von Furcht), entwickelt hat. Es wird davon ausgegangen, dass diese Öffnung und Erweiterung des Friedensbegriffs weitgehend linear verläuft, sodass etwa ab den 1970er Jahren ein immer umfassenderes Verständnis von Frieden vorherrscht, indem etwa die Regierungsform eines Staates, die sozioökonomische Entwicklung und vor allem die Verteilung von Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft, Bildung, Einhaltung der Menschenrechte etc. als wichtige Elemente nachhaltigen Friedens verstanden werden.

    Als Quellen für diese Untersuchung wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises am 10. Dezember jedes Jahres analysiert. Ebenso wurden Acceptance Speeches und Nobel Lectures der PreisträgerInnen verwendet. Diese Texte beziehen sich ausführlich auf die Errungenschaften, für die jemand ausgezeichnet wird. Es wird von Nobelkomitee und PreisträgerIn argumentiert, welche Ziele das jeweilige Engagement verfolgt und warum diese Arbeit als Friedensarbeit verstanden wird, was wiederum auf das dahinterstehende Friedenskonzept schließen lässt. Besonders in späterer Zeit benennt das Nobelkomitee explizit den eigenen Friedensbegriff und argumentiert diesen. Die Wortwahl lässt dabei darauf schließen, dass es (wiederkehrende) Kritik an der Vergabe der Preise und/oder dem dahinterstehenden Konzept von Frieden bzw. an der Interpretation von Alfred Nobels Testament durch das Komitee gibt.

    Diese Texte sind fast alle online auf der Homepage des Nobel Instituts in englischer Sprache verfügbar. Für die frühen Jahre ist die Quellenlage nicht vollständig. Es fehlen die Dankesreden von 1901 (Jean Henry Dunant und Frederic Passy), 1909 (Auguste Marie Francois Beernaert und Paul Henri Benjamin Balluet d’Estournelles de Constant), 1910 (Permanent International Peace Bureau), 1911 (Tobias Michael Carel Asser und Alfred Hermann Fried), 1913 (Henri La Fontaine) und 1917 (International Committee of the Red Cross). 1925 (Joseph Austen Chamberlain und Charles Gates Dawes) wurden nur Telegramme der Preisträger mit Danksagungen verlesen, sie waren aber beide nicht persönlich anwesend und hielten keine Reden, ebenso Gustavo Stresemann und Aristide Briand (1926). 1931 konnte Jane Addams nicht an der Verleihung teilnehmen, ihr Co-Preisträger Nicholas Murray Butler war jedoch anwesend und hielt auch eine Rede. 1935 wurde Carl von Ossietzky vom NS-Regime, dessen Gefangener er war, daran gehindert, den Preis entgegenzunehmen und zu sprechen. Dag Hammarskjöld war zum Zeitpunkt der Preisverleihung bereits verstorben, weshalb der schwedische Botschafter Rolf Edberg eine Rede (über Hammarskjöld und seine Überzeugungen) hielt. 1973 lehnte der vietnamesische Politiker Le Duc Tho den Preis ab, dementsprechend war er nicht bei der Verleihung anwesend und es gibt keine Rede. Sein Co-Preisträger Henry Kissinger ließ nur ein Telegramm verlesen. 1975 war der Preisträger Andrei Sacharow bei der Zeremonie verhindert, da er nicht aus der Sowjetunion ausreisen durfte, seine Frau verlas seine Rede. Für den Preis 1976 an Betty Williams und Mairead Corrigan gibt es nur eine Rede (obwohl beide anwesend waren), vorgetragen von Betty Williams. Liu Xiaobo konnte 2010 nicht zur Preisverleihung aus China ausreisen, da er gerade im Gefängnis saß und seinen Prozess erwartete. Es wurde ein Statement von ihm verlesen, das er bereits 2009 veröffentlicht hatte, in dem er seine Arbeit erläuterte und gleichzeitig, wohl in Richtung der chinesischen Behörden, betonte, dass er „keine Feinde habe".

    Laut Statuten des Nobel Instituts kann das Nobelkomitee in einem Jahr auch entscheiden, dass keine/r der Nominierten die von Alfred Nobel vorgegebenen Kriterien für den Friedensnobelpreis erfüllt und die Vergabe aussetzen. Es kann dann im darauffolgenden Jahr der Preis für das vergangene und das aktuelle Jahr vergeben werden. Davon wurde mehrmals Gebrauch gemacht: Elihu Root erhielt den Friedensnobelpreis für 1912, dieser wurde aber erst 1913 vergeben (in diesem Jahr wurde Henri La Fontaine ausgezeichnet). Auch die Preise 1919 (Woodrow Wilson), 1925 (an Chamberlain und Dawes), 1929 (Frank Billings Kellogg), 1933 (Sir Norman Angell), 1935 (Carl von Ossietzky), 1944 (Internationales Komitee vom Roten Kreuz), 1952 (Albert Schweitzer), 1954 (UN-Flüchtlingshochkommissariat), 1960 (Albert John Lutuli), 1962 (Linus Carl Pauling) und 1976 (Mairead Corrigan und Betty Williams) wurden jeweils erst im darauffolgenden Jahr verliehen. Davon zu unterscheiden sind Jahre, in denen das Nobelkomitee verkündete, dass es keinen Preis geben würde, weil es keine bedeutenden Fortschritte hin zum Frieden gegeben habe – darauf wird später eingegangen.

    In frühen Jahren waren einige PreisträgerInnen aufgrund von Krankheit, Reisen oder Ähnlichem verhindert – sodass die Zeremonie mit der Rede, die hier analysiert wird, erst später stattfand. Dies mag auch darin begründet sein, dass anfangs das Prestige des Preises nicht so groß war; darüber hinaus waren die Reisemöglichkeiten noch beschwerlicher und die Verleihung auch weniger „institutionalisiert". Es kam also mehrmals vor, dass Reden nur von VertreterInnen (meist den BotschafterInnen der jeweiligen Länder) verlesen bzw. Jahre später bei einer Veranstaltung gehalten wurden. Dadurch konnten sich die PreisträgerInnen dann auf Entwicklungen nach ihrer Auszeichnung beziehen.

    Das Nobelkomitee verliest seine Entscheidung in englischer Sprache. Viele PreisträgerInnen halten ihre Dankesreden in ihrer jeweiligen Muttersprache. Das bedeutet, dass die Texte, die hier als Quellen verwendet wurden, meist Übersetzungen aus der Originalsprache ins Englische sind und die vorliegende Analyse wiederum auf Deutsch durchgeführt wird. Bei manchen Begriffen, die für das Konzept des Friedens oder die Konzeptualisierung von AkteurInnen bedeutend sind, werden daher hier die englischen Begriffe, die im Quellentext verwendet wurden, in Klammern ergänzt. Aus diesen Texten sowie aus (online zugänglichen) Kurzbiografien wurden die Kodierungen für die quantitativen sowie für die qualitativen Variablen, die im Folgenden vorgestellt werden, abgeleitet. Das Gerüst aus Variablen und Ausprägungen wurde im Laufe der Quellenarbeit weiterentwickelt.

    Allgemein lässt sich feststellen, dass diese Reden mit der Zeit immer länger, programmatischer und kritischer werden. Das kann als Ausdruck der steigenden Bedeutung des Friedensnobelpreises gesehen werden: Die „Institution" des Preises und die große Plattform der Verleihung mit der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die damit einhergeht, werden zunehmend genützt, um eigene Interessen und Anliegen vorzubringen, öffentlich auf Missstände oder auch auf Fortschritte hinzuweisen und mehr Engagement für den Frieden einzufordern – dies gilt sowohl für das Nobelkomitee als auch für die PreisträgerInnen.

    Kodierung der quantitativen Variablen

    Für die Erstellung eines quantitativen Überblicks und chronologischen Längsschnitts wurde eine Datenbank angelegt, die kodierte Informationen zu allen PreisträgerInnen enthält. Diese Kodierungen lauten:

    Zur formalen Einordnung eines Preisträgers/einer Preisträgerin wurde zunächst die AkteurInnenebene definiert. Dazu wurden drei Kategorien verwendet, nämlich staatlich, nichtstaatlich sowie supranational. Unter staatlichen AkteurInnen werden sowohl Personen als auch Organisationen verstanden, welche im Auftrag eines Staates bzw. in einer politischen Funktion handeln. Sie sind mit formeller (Entscheidungs-)Macht und Handlungsspielräumen ausgestattet, die nichtstaatlichen AkteurInnen in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Das bedeutet, sie handeln für einen Staat und können für diesen Staat verbindliche Entscheidungen treffen, Abmachungen eingehen usw. Prozesse, die von staatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach top-down organisiert.

    Nichtstaatliche AkteurInnen werden als Personen oder Organisationen definiert, die in ihrer Funktionsfähigkeit, Organisationsstruktur und Handlungsweise außerhalb des formellen politischen Systems operieren. Nichtstaatliche AkteurInnen haben weder formelle Entscheidungsbefugnis noch ein Mandat von einem Staat und können keinen Friedensvertrag unterzeichnen. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft und versuchen, politische oder gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen, z.B. durch den Aufbau öffentlichen Drucks, Meinungsbildung, Kampagnen, durch Kontakte zu EntscheidungsträgerInnen, Lobbyarbeit usw. Prozesse, die von nichtstaatlichen AkteurInnen angestoßen oder dominiert werden, sind demnach bottom-up organisiert.

    Die Unterscheidung in staatliche oder nichtstaatliche AkteurInnen sollte eigentlich eindeutig sein. Jedoch verbinden vor allem vor dem Ersten Weltkrieg die Biographien der Preisträger (Preisträgerinnen finden sich abgesehen von Bertha von Suttner nicht) die staatliche sowie die nichtstaatliche Sphäre auf vielfältige Weise, sodass eine klare Einordnung, für welche Aktivität der Preis vergeben wurde, oft schwer vorzunehmen war bzw. vom Nobelkomitee nicht eindeutig benannt wurde. So wurde einer der beiden Preisträger des Jahres 1902 (Charles Albert Gobat) für Aktivitäten bzw. Funktionen sowohl der staatlichen wie auch der nichtstaatlichen Sphäre ausgezeichnet. Er war ehrenamtlicher Generalsekretär des Internationalen Friedensbüros in Bern, organisierte Konferenzen in dieser Funktion, engagierte sich Zeit seines Lebens in der Friedensbewegung und war auch publizistisch aktiv – scheinbar eindeutig ein nichtstaatlicher Akteur. Jedoch nennt das Nobelkomitee auch sein Engagement für die Interparlamentarische Union, in der sich VertreterInnen aus den Parlamenten der Mitgliedsländer trafen und für eine friedliche Verständigung und Zusammenarbeit ihrer Länder arbeiteten. Parlamente und ihre Abgeordneten sind eindeutig der staatlichen Sphäre zuzuordnen. Letztlich haben wir uns dafür entschieden, Gobat als staatlichen Akteur zu kodieren, da er über lange Jahre hinweg als Abgeordneter tätig war und davon ausgegangen werden muss, dass seine politische Laufbahn (und damit einhergehend sein sozioökonomischer Status) ihm einerseits das private Engagement erst ermöglichten und diesem „nichtstaatlichen Engagement" andererseits mehr Gewicht verliehen. Besonders vor dem Ersten Weltkrieg waren die meisten PreisträgerInnen in einem Netzwerk verbunden, das die europäischen Friedensbewegungen, das Internationale Friedensbüro und die Interparlamentarische Union personell und inhaltlich eng miteinander verknüpfte. Dieses Netzwerk wird bei der Fallstudie zum Internationalen Friedensbüro näher analysiert.

    Unter supranationalen AkteurInnen werden Organisationen oder Personen verstanden, die international oder „überstaatlich" handeln oder zusammengesetzt sind. Diese AkteurInnen zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass ihnen politische wie rechtliche Zuständigkeiten zukommen, die nicht (mehr) bzw. nicht zur Gänze auf nationalstaatlicher Ebene wahrgenommen werden. AkteurInnen auf der supranationalen Ebene wurden von souveränen Staaten geschaffen und handeln im Rahmen eines staatlich definierten Mandats. Sie sind für die Überprüfung und Implementierung internationaler Verträge und Regime verantwortlich, sollen also Staaten und deren Handeln koordinieren und kontrollieren. Dennoch sind sie nicht mit einer vergleichbaren Entscheidungsbefugnis ausgestattet – sie können Staaten nicht zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen von Handlungen zwingen und können keine effektiven Sanktionen verhängen. Diese Kategorie betrifft vor allem UN-assoziierte Organisationen und deren VertreterInnen sowie die EU.

    Als weitere Variable wurde Person oder Organisation eingeführt, wobei beide jeweils der staatlichen, der nichtstaatlichen oder der supranationalen Sphäre zugeordnet werden können. Auch das Geschlecht der PreisträgerInnen wurde erhoben.

    Die Variable Wirkungsbereich ist in insgesamt zehn verschiedene Ausprägungen gegliedert und versucht ein „Oberthema" der jeweiligen Friedensarbeit zu benennen. Die Reihung der Merkmalsausprägungen im Text entspricht dem erstmaligen Auftreten bei der Preisvergabe.

    Humanitäre Hilfe bezeichnet „Nothilfe" in akuten Krisen- oder Kriegssituationen, wie sie bspw. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz leistet, das insgesamt dreimal den Friedensnobelpreis erhielt. Darüber hinaus wird auch die Arbeit für und mit Flüchtlingen in dieser Kategorie erfasst.

    Die Kategorie Verrechtlichung internationaler Beziehungen verweist auf Bemühungen, die internationale Anarchie zu beenden oder zumindest einzuschränken. Es sollen Verträge zwischen Staaten erarbeitet werden, die entweder konkrete Konflikte oder Themen betreffen, bspw. Schlichtungsverträge zwischen Staaten; andererseits wird häufig die Notwendigkeit eines umfassenden Völkerrechts analog zum innerstaatlichen (Straf-)Recht eingefordert, sodass Krieg ebenso verboten sein soll wie Mord. Es geht hier um die Beschränkung staatlichen Handelns gegenüber anderen Staaten auf Basis eines allgemein gültigen Rechts sowie dessen Institutionalisierung und Sanktionierung.

    Hierbei wurde unterschieden, ob sich ein/e AkteurIn aus der staatlichen oder der nichtstaatlichen Sphäre heraus für die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einsetzte. Diese Unterscheidung ist notwendig, da es für den konkreten Handlungsspielraum einen großen Unterschied macht, ob man z.B. als Staatspräsident oder Minister einen Schlichtungsvertrag unterzeichnet, oder ob man juristische Expertise zur möglichen künftigen Ausgestaltung von Verträgen zur Verfügung stellt bzw. über die Friedensbewegung versucht, öffentlichen Druck auf staatliche Akteure aufzubauen, damit diese die Verrechtlichung vertiefen. Supranationale AkteurInnen wurden hier mit dem Code belegt, der für staatliche AkteurInnen gewählt wurde (bspw. UNO).

    Abrüstung bedeutet, dass die Reduktion bestehender Waffenarsenale, die Regulierung des Einsatzes oder das Verbot bestimmter Waffen als wichtigstes Themenfeld gesehen wurde, um den Frieden zu fördern. 1905 wurde erstmals der Nobelpreis für den Einsatz für Abrüstung vergeben – an Bertha von Suttner, die damit die erste Frau (und Österreicherin) war.

    Diplomatie oder Politik wurde bei PreisträgerInnen kodiert, die sich langfristig für friedliche Lösungen von Konflikten eingesetzt haben, allerdings nicht explizit für eine konkrete Errungenschaft, z.B. ein bestimmtes Friedensabkommen, ausgezeichnet wurden, sondern eher für ihr Lebenswerk.

    Im Gegensatz dazu wurde die Ausprägung Verhandlungen kodiert. Dies meint die Beilegung eines konkreten Konflikts zwischen zwei oder mehreren Parteien durch Verhandlung oder Vermittlung.

    Die Merkmalsausprägung Entwicklung kann in gewisser Weise als inhaltliche Weiterentwicklung der Ausprägung humanitäre Hilfe verstanden werden. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg – auch mit dem Aufkommen der Begriffe Entwicklungsländer, Dritte Welt und Entwicklungshilfe – gehen AkteurInnen, die für humanitäre Hilfe ausgezeichnet wurden, bspw. das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, sowohl in ihrer praktischen Arbeit als auch in ihren dahinter stehenden Konzepten über die Idee des unmittelbaren Helfens hinaus und wenden sich einem „Hilfe zur Selbsthilfe"-Ansatz zu. Bei einigen AkteurInnen geht damit auch eine ausdrückliche Kritik an strukturellen Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern, welche Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten der armen Staaten haben, einher. Der erste entsprechende Preis wurde 1949 an Lord John Boyd Orr, einen Ernährungswissenschaftler und ersten Direktor der Food and Agriculture Organization (FAO), vergeben.

    Der Wirkungsbereich Menschenrechte wurde einerseits kodiert, wenn die Kodifizierung der Menschenrechte im Mittelpunkt der Friedensarbeit stand, wie etwa die Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte, z.B. Kinderrechte, Frauenrechte, das Recht auf Asyl oder soziale Rechte. Ein weiterer Aspekt der Menschenrechtsarbeit bezieht sich auf die Durchsetzung der Menschenrechte in einem konkreten politischen System. Hier stehen meist die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen und die Implementierung der Grundrechte innerhalb eines Staates im Vordergrund, wie etwa im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika, der Bürgerrechtsbewegung in den USA oder Rigoberta Menchús in Guatemala. In jedem Fall geht es um das Verhältnis zwischen Staaten und ihren BürgerInnen. Der erste Preis für diesen Themenbereich wurde im Jahr 1951 an Léon Jouhaux vergeben.

    Versöhnung als übergeordnetes Thema der Friedensarbeit widmet sich der innergesellschaftlichen Aussöhnung verschiedener ethnischer, religiöser oder sozialer Gruppen. Diese Friedensarbeit ist also auf einen konkreten gesellschaftlichen Kontext gerichtet und versucht bottom-up, alte Konflikte und Gräben zu überwinden und Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen zu finden bzw. gleiche Rechte für diese Gruppen einzufordern. Der Präsident des African National Congress, der Südafrikaner Albert John Lutuli, wurde 1960 als Erster in diesem Bereich ausgezeichnet.

    Der Wirkungsbereich Umwelt bezeichnet Friedensarbeit, die die Problematik Klimawandel, Umweltschutz und Ökologie ins Zentrum rückt. Dies ist das jüngste Themenfeld beim Friedensnobelpreis. Erst 2004 wurde Wangari Muta Maathai für ihren Einsatz für Umweltschutz und gegen Klimawandel ausgezeichnet. Dies verdeutlicht, dass Umwelt- und Klimathemen durchaus Konfliktpotenzial in sich tragen, etwa indem sich Verteilungsfragen verschärft stellen.

    Die Variable Arbeitsweise hat insgesamt sechs verschiedene Ausprägungen und dient als Überbegriff für die gewählte Strategie oder das Instrumentarium des Preisträgers/der Preisträgerin.

    Organisation/Koordination meint, dass Friede durch die Etablierung einer Organisation mit entsprechenden Verfahrensweisen und Prinzipien gefördert werden soll. Durch Institutionalisierung können Normen geschaffen und gestärkt werden, die in weiterer Folge Staaten oder andere AkteurInnen in ihrem Handeln begrenzen. Handlungen im Rahmen dieser Normen oder mit dem Rückhalt und der Reputation dieser Organisation haben die Friedensarbeit ermöglicht oder erleichtert.

    Eine politische Arbeitsweise entspricht und verstärkt in gewisser Weise die in der Rubrik Wirkungsfeld vorgenommene Kodierung Politik/Diplomatie. Es geht wiederum um den langfristigen Einsatz für Frieden im Rahmen einer politischen oder diplomatischen Tätigkeit. In Abgrenzung dazu bezieht sich Friedensvertrag/-konferenz auf konkrete Abkommen, Verträge oder Ereignisse.

    Wissenschaftlich ist die Arbeitsweise dann, wenn die ausgezeichnete Person oder Institution auf Basis ihrer fundierten Kenntnisse in einem bestimmten Fachgebiet zu Sicherung oder Erhalt des Friedens beiträgt. Ihre Forschungstätigkeit ermöglichte bspw. die Schaffung von Abrüstungsregimen oder den Kampf gegen Mangelernährung.

    Unter Meinungsbildung wurde eine Arbeitsweise dann kodiert, wenn etwa auf künstlerischer, literarischer oder journalistischer Ebene sowie durch Bildungsarbeit die öffentliche oder veröffentlichte Meinung im Sinne des Friedens beeinflusst werden sollte. Die Bedeutung der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, die in weiterer Folge Druck auf staatliche Akteure aufbauen können, wird in den Quellen immer wieder als zentral herausgearbeitet. Als erstes Beispiel ist hier Bertha von Suttner (1905) zu nennen, die wesentlich über ihre literarischen Werke, vor allem mit ihrem Roman „Die Waffen nieder!", Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen konnte.

    Religion wurde bei religiösen Würdenträgern oder Organisationen kodiert, die vorwiegend aus ihrer religiösen Lehre und Überzeugung heraus handelten. Sie sahen ihre Friedensarbeit als Teil ihrer religiösen Pflicht oder argumentierten damit und motivierten dadurch andere Menschen zu (gewaltfreien) Handlungen.

    Als Nächstes wurde versucht, die PreisträgerInnen bzw. ihre Friedensarbeit geografisch zu verorten, wobei die Herkunft von Personen bzw. der Sitz von Organisationen einerseits und die Verortung des Wirkungsbereichs andererseits unterschieden wurden. Es wurden Regionen bzw. Kontinente als Codes vergeben: Afrika, Asien, Australien/Ozeanien, Europa, Nord- und Südamerika, Naher Osten sowie international. International wurde dann gewählt, wenn eine Friedensarbeit nicht geografisch zuzuordnen war bzw. vom Preisträger/der Preisträgerin als genuin international und – zumindest potenziell – die ganze Welt betreffend verstanden wurde. Darüber hinaus wurden Friedensbemühungen, die zwei oder mehr Kontinente betrafen, als „international eingestuft. So wurden Bemühungen um die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verständlicherweise nicht auf einen bestimmten geografischen Raum eingeengt, sondern sollten – zumindest dem Anspruch nach – die ganze Welt betreffen. Allerdings muss dabei im Auge behalten werden, dass das Verständnis von „international oder „weltweit" sich von 1901 bis 2016 erheblich verändert – nämlich erweitert – hat.

    Um die teils sehr vielfältigen Wirkungsbereiche und Arbeitsweisen, die die einzelnen PreisträgerInnen bearbeiteten bzw. verwendeten, nicht zu stark zu simplifizieren und damit zu verfälschen, wurden bei diesen Mehrfachkodierungen vorgenommen. Es wurden allerdings maximal zwei Codes pro PreisträgerIn vergeben.

    Qualitative Operationalisierung der verschiedenen Friedenskonzepte

    Neben der Kodierung der oben genannten Variablen wurde auch herausgearbeitet, welche AkteurInnen vom jeweiligen Preisträger/der Preisträgerin als besonders wichtig für die Schaffung von Frieden angesehen wurden (z.B. Staat, Zivilgesellschaft, Internationale Organisation). Daneben wurden die Instrumente und Strategien benannt, die zu Frieden führen sollen, wie etwa Verhandlungen, Verrechtlichung, sozioökonomische Entwicklung etc. Aus der Kombination der quantitativen und qualitativen Variablen konnte das konkrete Friedensmodell des/der jeweiligen Preisträgers/in inhaltlich definiert und daraus verschiedene Konzepte abgeleitet werden.

    1.2  Der Datensatz im Überblick – Was erzählt uns die Quelle?

    Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 vergeben. Laut den Statuten des für die Vergabe gegründeten Nobel Instituts können pro Jahr maximal drei Personen oder Organisationen ausgezeichnet werden. Wenn in einem Jahr niemand einen entscheidenden Beitrag für den Frieden geleistet hat, so kann die Vergabe ausgesetzt werden, und das Preisgeld verbleibt im Fonds. Das Komitee kann auch entscheiden, dass es den Preis erst ein Jahr später vergibt, wie oben bereits beschrieben wurde. Das bedeutet, dass der Preis zwar seit 116 Jahren vergeben wird, durch Mehrfachvergaben einerseits und mehrere Jahre ohne Vergabe andererseits unterscheidet sich die Anzahl der vergebenen Preise aber deutlich von der Anzahl der Jahre. 19-mal wurde kein Friedensnobelpreis vergeben, dagegen gab es in 29 Jahren jeweils zwei PreisträgerInnen. Zweimal wurden sogar drei Preise vergeben. Insgesamt wurden bis 2016 demnach 130 AkteurInnen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

    In den Jahren 1914 bis 1916 sowie 1918, 1923 und 1924, 1932, 1939 bis 1943 sowie 1948, 1955 und 1956 sowie 1966, 1967 und 1972 wurden keine Friedensnobelpreise vergeben. Ab 1973 wurde jedes Jahr mindestens ein Preis vergeben.

    Vom ersten Jahr an gab es Mehrfachvergaben, also mehr als eine/n PreisträgerIn pro Jahr. Besonders bis Anfang der 1930er Jahre wurden oft zwei Preise vergeben, wobei die beiden PreisträgerInnen häufig für inhaltlich verwandte Tätigkeiten oder Errungenschaften ausgezeichnet wurden bzw. auch zusammengearbeitet haben, etwa Gustav Stresemann und Aristide Briand 1926 für ihren Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg.

    Ein erster Blick auf die Problematiken oder Konflikte, zu deren Beilegung es Auszeichnungen gab, zeigt, dass einige so intensiv waren, dass Versuche zu deren Schlichtung sogar mehrmals mit dem Friedensnobelpreis bedacht wurden. Fortschritte in der Beilegung des Nordirland-Konflikts fanden bspw. zweimal Anerkennung, mit der Preisvergabe an jeweils zwei Personen: 1976 erhielten Betty Williams und Mairead Corrigan als zivilgesellschaftliche Akteurinnen den Preis für die Gründung und Mobilisierung der Friedensbewegung Peace People in Nordirland. Im Jahr 1998 wurden politische Vertreter der Konfliktparteien, nämlich John Hume und David Trimble, geehrt. In diesem Fall konnte der Konflikt so weit entschärft werden, dass er sich dauerhaft auf die politische, gewaltfreie Ebene verlagerte. Dies ist auch im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika letztlich gelungen: Für den Kampf gegen dieses Unrechtsregime wurde der Friedensnobelpreis insgesamt dreimal vergeben, nämlich bereits 1960 an den damaligen Vorsitzenden des African National Congress, Albert John Lutuli, 1984 an Bischof Desmond Mpilo Tutu und 1993 der bekannteste Preis für die friedliche Beendigung des Regimes und den weitgehend gewaltfreien Übergang zu einem demokratischen System an Nelson Mandela und Frederik W. de Klerk.

    Nicht immer aber konnten Konflikte, deren Bearbeitung vom Nobelkomitee ausgezeichnet wurden, letztlich beigelegt werden: Der Nahost-Konflikt etwa erhielt ebenfalls dreimal eine Auszeichnung, weil es mehrmals danach aussah, als wären wichtige Schritte zu einem endgültigen Frieden errungen worden. Jedoch wissen wir, dass dieser Konflikt bis heute mit erheblicher Gewalt auf allen beteiligten Seiten ausgetragen wird.

    Ebenso wurde mehrmals Arbeit für die Entspannung des schwierigen deutschfranzösischen Verhältnisses ausgezeichnet. Besonders in der Zwischenkriegszeit wurde dieser Konflikt als eine Art Schlüssel für den dauerhaften Frieden in Europa bzw. weltweit gesehen und daher ein Fokus darauf gelegt: 1925 wurden Sir Austen Chamberlain und Charles Gates Dawes für ihre Beiträge zur Entschärfung der Auswirkungen des Versailler Vertrags vor allem auf Deutschland ausgezeichnet, 1926 Aristide Briand und Gustav Stresemann für ihre Verdienste um die Aussöhnung und Annäherung Deutschlands und Frankreichs, und 1927 wurden Ludwig Quidde und Ferdinand Buisson ebenfalls für ihre Verdienste um die Aussöhnung zwischen den beiden Ländern geehrt – allerdings arbeiteten sie auf der zivilgesellschaftlichen Ebene. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Politik ebenfalls das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich als zentral für eine friedliche Nachkriegsordnung angesehen, allerdings wählte man nun einen anderen Weg: Die europäische Integration sollte sich auf immer mehr Staaten und immer mehr Politikfelder ausdehnen und somit letztlich Krieg zwischen den europäischen Staaten unmöglich machen. 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis.

    1.3  Quantitative Auswertung

    Zuerst soll nun ein quantitativer Überblick über den Untersuchungszeitraum gegeben werden, wobei vereinzelt bereits Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Friedenskonzepte und Zugänge zu Friedensarbeit gezogen werden können.

    Personen oder Organisationen?

    Von 1901 bis 2016 wurden insgesamt 130 Preise vergeben. Davon gingen 104 Preise bzw. 80 Prozent an Einzelpersonen und 26 Preise bzw. 20 Prozent an Organisationen. Wenn man die Verteilung Person – Organisation im Laufe der Zeit betrachtet, so ergibt sich keine auffällige Clusterung der Organisationen in einem gewissen Zeitraum. Die 1920er Jahre sind die einzige Dekade, in der keine Organisation ausgezeichnet wurde. Die regelmäßigen und häufigen Vergaben von Friedensnobelpreisen an Organisationen zeigen, dass diese von Beginn des Friedensnobelpreises an als relevant für Friedensarbeit betrachtet wurden, und zwar vorwiegend zivilgesellschaftliche Vereinigungen: Von den insgesamt 26 Organisationen sind 16 der nichtstaatlichen Sphäre zuzuordnen, die übrigen zehn arbeiten auf supranationaler Ebene, wobei als früheste supranationale Organisation 1938 das Nansen International Office for Refugees geehrt wurde.

    Sechsmal wurde eine Organisation gemeinsam mit einer Einzelperson, meist ein/e RepräsentantIn der Organisation, ausgezeichnet: 1995 wurde gemeinsam mit den Pugwash Conferences auch deren Begründer und Leiter Joseph Rotblat geehrt; 1997 gemeinsam mit der International Campaign to Ban Landmines deren, laut Nobelkomitee, bekannteste und aktivste Sprecherin Jody Williams; 2001 gemeinsam mit der UNO deren damaliger Generalsekretär Kofi Annan; 2005 gemeinsam mit der International Atomic Energy Agency (IAEA) deren damaliger Generalsekretär Mohamed El Baradei; ebenso wie 2006 gemeinsam mit der Grameen Bank deren Gründer Muhammad Yunus. 2007 wurde neben dem Intergovernmental Panel on Climate Change auch Al Gore mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Er ist zwar kein Vertreter des Panels, wurde jedoch vom Nobelkomitee als „der Kommunikator" in Sachen Klimawandel bezeichnet.

    Die Wirkungsfelder der Organisationen sind recht breit gestreut. Wie bereits angeführt, wurden in den Kategorien Wirkungsbereich und Arbeitsweise öfters zwei Merkmalsausprägungen kodiert, sodass es 31 „Wirkungsfelder" gibt, die für die 26 Organisationen kodiert wurden: fünfmal Abrüstung, dreimal Entwicklung, elfmal humanitäre Hilfe, je dreimal Menschenrechte, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus nichtstaatlicher Position sowie aus staatlicher Position, und je einmal standen Umwelt, Politik/Diplomatie und Verhandlungen im Mittelpunkt der Friedensarbeit. Es ist auffällig, dass das Wirkungsfeld Menschenrechte zwar insgesamt bei 29 PreisträgerInnen zentral war, aber nur drei davon Organisationen waren (UNHCR 1954, ILO 1969, Amnesty International 1977).

    Als Arbeitsweisen wurden 34 Codes für die 26 Organisationen vergeben, wobei wenig überraschend die Ausprägung Organisation/Koordination mit 21 Vergaben dominiert. Zwei Preise wurden an Organisationen für konkrete Friedensverträge oder -konferenzen vergeben (International Campaign to Ban Landmines, IAEA), zwei für religiös begründete Friedensarbeit (Quäker), fünf für wissenschaftliche und vier für langfristige politische oder diplomatische Arbeit. Man kann daraus den ersten vorläufigen Schluss ziehen, dass aus Sicht des Nobelkomitees vor allem durch Institutionalisierung und Verrechtlichung von Zusammenarbeit verschiedener AkteurInnen zu unterschiedlichen Themen Frieden erreicht oder gesichert werden kann.

    Frieden als Männersache?

    Von den 104 Personen, die insgesamt den Friedensnobelpreis bekamen, waren 88 Männer und nur 16 Frauen, was 88 bzw. 15 Prozent entspricht. Die sehr niedrige Frauenquote unter den PreisträgerInnen wurde selbst vom Nobelkomitee einmal kritisch angemerkt, wobei jedoch keine Erklärung versucht, sondern lediglich erwähnt wurde, dass das Nobelkomitee in der Vergangenheit zu wenige Frauen ausgezeichnet habe (Award Ceremony Speech 1997). 1905 erhielt Bertha von Suttner als erste Frau den Friedensnobelpreis. Sie war eine persönliche Freundin von Alfred Nobel, und es wird vermutet, dass er unter anderem aufgrund ihres Einflusses eine Auszeichnung für Frieden als fünfte Preiskategorie stiftete. Suttner wurde für ihre Rolle in der europäischen Friedensbewegung sowie ihre Publikation „Die Waffen nieder! ausgezeichnet. In der (etwas martialischen) Sprache der damaligen Friedensbewegung wurde sie als „Generalissimo der europäischen Friedensbewegung bezeichnet (Award Ceremony Speech 1905). Die nächste Frau, die den Friedensnobelpreis bekam, war Jane Addams im Jahr 1931 (gemeinsam mit Nicholas Murray Butler). Sie wurde zwar hauptsächlich für ihren Einsatz für Abrüstung und ihre Rolle in der internationalen Frauenfriedensbewegung ausgezeichnet. Dennoch werden in der Begründung des Komitees vor allem ihre Rolle als Frau und die jeder Frau inhärente Friedensliebe und soziale Wärme hervorgehoben, die auch ihr soziales Engagement im sogenannten Hull House in Chicago inspiriert hätten. Wir erkennen eine deterministische, biologistische Sprache: Friedensliebe sei jeder Frau inhärent; eine größere Machtposition der Frauen in der Politik würde automatisch Kriege beenden (Award Ceremony Speech 1931). Emily Greene Balch hat 1946 als dritte Frau den Friedensnobelpreis bekommen. Sie und Jane Addams hatten lange zusammengearbeitet. Auch hier standen Abrüstung sowie Balchs Engagement in der Frauen- und Friedensbewegung im Vordergrund. Die Reden des Nobelkomitees zeigen deutlich, dass das damals vorherrschende gesellschaftliche Frauenbild diese eher auf „weiche" Arbeitsbereiche wie soziales Engagement und karitative Arbeit festlegte, weshalb diese Aspekte in der Arbeit der beiden Frauen stark betont wurden, obwohl die Preise eigentlich für Errungenschaften im Feld der Abrüstung vergeben wurden. Die Fallstudie zu Jane Addams zeigt auf, wie das Nobelkomitee ihre umfassende Arbeit auf einige Aspekte reduzierte, um die Vergabe des Preises an sie zu begründen.

    Erst 1976 wurden dann die nächsten Frauen ausgezeichnet, nämlich Betty Williams und Mairead Corrigan für die Gründung der Friedensbewegung Peace People, die sich für ein Ende der Gewalt im Nordirlandkonflikt einsetzte. 1979 wurde Mutter Theresa für ihre humanitäre Hilfe ausgezeichnet, die sie aufgrund ihrer Lesart des Evangeliums ausführte. 1982 folgte mit Alva Myrdal die einzige Frau aus der staatlichen Sphäre. Sie war als Ministerin mit Abrüstungsfragen betraut und setzte sich vor allem für atomare Abrüstung ein. Ihr Ziel war eine „nuklearwaffenfreie Zone Europa". In den 1990er Jahren finden sich dann gleich drei Frauen: Aung San Suu Kyi 1991, Rigoberta Menchú 1992 und Jody Williams 1997. Erstmals waren nun auch Frauen dabei, die außerhalb Europas oder der USA beheimatet waren bzw. arbeiteten, ebenso wie 2003 Shirin Ebadi aus dem Iran und 2004 Wangari Muta Maathai aus Kenia. 2011 wurden in einem Jahr drei Frauen geehrt, nämlich Ellen Johnson Sirleaf und Leymah Gbowee aus Liberia, die für ihren gewaltfreien Einsatz für ein Ende der (sexualisierten) Gewalt in diesem Land eintraten sowie Tawakkol Karman als Journalistin und Aktivistin im Jemen im Rahmen des Arabischen Frühlings. Malala Yousafzai ist die bisher letzte und gleichzeitig auch jüngste Frau bzw. Preisträgerin überhaupt, die 2014 für ihren gewaltfreien Kampf für das Recht auf Bildung für alle Kinder ausgezeichnet wurde.

    Wenn man den Wirkungsbereich der 16 Frauen betrachtet, so wurde ihre Friedensarbeit siebenmal im Bereich Menschenrechte, fünfmal für Abrüstung, dreimal für (innergesellschaftliche) Versöhnung und jeweils einmal für Entwicklung, humanitäre Hilfe, Umwelt sowie Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus nichtstaatlicher Position verortet. Die Kategorien Politik/Diplomatie, Verhandlungen sowie Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus staatlicher Position trafen auf keine Nobelpreisträgerin zu. Als Arbeitsweise wurden insgesamt 22 Merkmalsausprägungen identifiziert, von denen 15 Organisation/Koordination betreffen, drei Meinungsbildung und je eine Politik, Wissenschaft, Friedensvertrag/-konferenz und Religion.

    Insgesamt ist auffallend, dass es so wenige weibliche Preisträgerinnen gibt. Dies mag die tatsächlichen gesellschaftlichen und vor allem politischen Machtpositionen der Frauen widerspiegeln: Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Frauen nur selten in der Öffentlichkeit bzw. in politischen Ämtern oder prominenten Positionen vertreten – dementsprechend war auch ihr Beitrag zum Frieden in der Welt(-politik) wenig sichtbar, was dann auch zu wenigen Auszeichnungen führte. Besonders bei dem frühen Preis für Bertha von Suttner wird in der Rede des Nobelkomitees betont, wie außergewöhnlich ihre führende Rolle als Frau in der europäischen Friedensbewegung sei (Award Ceremony Speech 1905). Als weitere Faktoren, die für dieses Missverhältnis der Geschlechter verantwortlich sein könnten, kann unter anderem das Verfahren zur Auswahl der FriedensnobelpreisträgerInnen genannt werden. Der Modus von Vorschlag und Auswahl der PreisträgerInnen wurde bereits oben erklärt. Je mehr Männer im Personenkreis sind, der PreisträgerInnen nominieren kann, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sie wiederum Männer vorschlagen.

    Aus welcher Machtposition heraus arbeiten die PreisträgerInnen?

    Wenn man die Variable Akteursebene betrachtet, also die Verteilung zwischen staatlichen, nichtstaatlichen und supranationalen AkteurInnen, so ergibt sich folgendes Bild: Insgesamt wurden 40 staatliche AkteurInnen (31 Prozent) ausgezeichnet, 71 PreisträgerInnen (55 Prozent) waren nichtstaatliche AkteurInnen und 19 (15 Prozent) supranationale AkteurInnen. Das Zahlenverhältnis zeigt, dass die nichtstaatlichen AkteurInnen insgesamtüberwiegen. Dies wird allerdings relativiert, wenn man die staatlichen und supranationalen AkteurInnen als „staatsnahe" Bereiche zusammendenkt: Dann stehen 45 Prozent staatliche bzw. suprastaatliche AkteurInnen 55 Prozent zivilgesellschaftlichen PreisträgerInnen gegenüber. Daraus kann abgeleitet werden, dass das Nobelkomitee insgesamt dem Staat als Akteur auf der internationalen Ebene sowie internationalen Regimen, internationaler Zusammenarbeit oder Verrechtlichung (supranationale AkteurInnen) eine wichtige Rolle bei der Friedensschaffung beimisst, obwohl die zivilgesellschaftliche Ebene (Friedensbewegungen) von Beginn der Preisvergabe an als sehr bedeutend eingeschätzt wurde und sich der Friedensbegriff im Laufe der Zeit deutlich erweiterte, wie wir später noch sehen werden: weg von zwischenstaatlichen hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen.

    Abb. 1: Akteursebene der FriedensnobelpreisträgerInnen, 1901–2016

    Wirkungsbereiche der FriedensnobelpreisträgerInnen

    Wie im Kapitel zur Methodik erläutert, wurden bei der Variable Wirkungsbereich Mehrfachkodierungen vorgenommen, wobei maximal zwei Codes vergeben wurden. Einzig bei Nelson Mandela und Fredrik de Klerk 1993 wurden drei Wirkungsbereiche (Verhandlungen, Menschenrechte und Versöhnung) kodiert. Insgesamt wurden somit für die 130 Friedensnobelpreise 165 verschiedene Merkmalsausprägungen „Wirkungsbereich" vergeben.

    Abb. 2: Wirkungsbereiche der FriedensnobelpreisträgerInnen, 1901–2016

    Ein sehr wichtiges Themenfeld ist die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Insgesamt wurden 41 PreisträgerInnen (25 Prozent) für Verdienste in diesem Bereich ausgezeichnet. Dabei wurde jedoch weiter zwischen staatlichen AkteurInnen, die für Verrechtlichung eintraten (22 bzw. 13,3 Prozent) und nichtstaatlichen AkteurInnen (19 bzw. 11,5 Prozent) differenziert. Wie bereits erläutert, wurden supranationale AkteurInnen hierbei als staatliche AkteurInnen kodiert. Ausschlaggebend für diese Festlegung waren die relative Machtposition und der Handlungsspielraum, der AkteurInnen real zur Verfügung steht. Betrachtet man also den Wirkungsbereich Verrechtlichung insgesamt, so wurden die meisten Preise hierfür vergeben.

    Ebenfalls häufige Wirkungsbereiche waren Verhandlungen (30 Preise) und Menschenrechte (29 Preise). Abrüstung (vorwiegend atomare Abrüstung) wurde bei 22 PreisträgerInnen als zentrales Handlungsfeld herausgearbeitet (13,3 Prozent). Humanitäre Hilfe war bei 16 AkteurInnen ausschlaggebend für die Auszeichnung (9,7 Prozent), Entwicklung und innergesellschaftliche Versöhnung je neunmal (5,5 Prozent). Hingegen wurde nur sechsmal Politik oder Diplomatie ausgezeichnet (3,6 Prozent). Als jüngstes Themenfeld kam 2004 Umwelt (bzw. Klimawandel) auf die Agenda des Nobelkomitees. Insgesamt wurden nur drei Friedensnobelpreise (1,8 Prozent) dafür vergeben, zwei davon im gleichen Jahr (Al Gore und IPCC 2007).

    Aus rein quantitativer Sicht ist erkennbar, dass sich das Nobelkomitee stark auf AkteurInnen konzentriert hat, die das Völkerrecht und dessen Vertiefung und Stärkung als zentrales Thema und Instrument zur Erlangung oder Sicherung des Friedens sahen. Dementsprechend sind auch Verhandlungen zur Lösung eines konkreten Konflikts, die dann in ein konkretes Abkommen, also ein völkerrechtliches Instrument, mündeten, häufig mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Das deutet auf ein stark verankertes Verständnis von Frieden als Rechtssicherheit hin, was auch in den Reden seit Beginn des Preises sowohl vom Nobelkomitee als auch von den PreisträgerInnen immer wieder betont wurde: Friede brauche Sicherheit und Sicherheit bedeute vorwiegend Rechtssicherheit. Es wurde häufig mit einer Analogie zum innerstaatlichen Rechtssystem argumentiert: Innerstaatlich sei Gewalt verboten bzw. Regeln unterworfen und es gebe Sanktionen für Verstöße. Die Menschen leben in diesen Staaten weitgehend friedlich, daher müsse man dieses System von klaren Regeln und Sanktionen auf die internationale Ebene übertragen, um somit die Anarchie zu beenden und Gewalt als legitimes Mittel der Politik zu verbieten.

    Darüber hinaus wurde Verrechtlichung neben Abrüstung von Beginn an als geeignetes Mittel gesehen, um das Sicherheitsdilemma der Staaten zu überwinden: Staaten rüsten auf, da sie sich von der Bewaffnung der jeweils anderen Staaten bedroht fühlen. Dies wird wiederum von den anderen Staaten als Bedrohung empfunden und führt zu weiterer Rüstung. Durch die Schaffung internationaler Verträge werden die Beziehungen der Staaten zueinander geordnet und der Aufbau von Vertrauen bewirkt. Dementsprechend sinkt das Misstrauen und Unsicherheitsgefühl der Staaten, was eine schrittweise allgemeine Abrüstung ermöglicht bzw. erleichtert. Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen spielte also auch für die Abrüstung eine wichtige Rolle, wie in zahlreichen Reden von PreisträgerInnen erläutert wurde.

    Eine wichtige Anmerkung zu diesem ersten vorläufigen Ergebnis ist, dass der Begriff „Sicherheit zwar in fast allen Reden seit 1901 vorkam – sowohl seitens des Komitees als auch seitens der PreisträgerInnen –, allerdings muss davon ausgegangen werden, dass sich das dahinterstehende Konzept stark verändert hat. Um nur zwei „Pole von unterschiedlichen Sicherheitsbegriffen aufzuzeigen: In den ersten Jahren des Friedensnobelpreises wurde Friede eindeutig mit Rechtssicherheit gleichgesetzt. In den jüngsten Jahren der Vergabe des Nobelpreises tauchte als Gegenpol das Konzept der human security auf, das alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst und weit über das bloße materielle „Überleben" der Menschen hinausgeht.

    Die ebenfalls häufige Auszeichnung von Arbeit im Bereich der Menschenrechte zeigt außerdem, dass das Komitee zahlreiche AkteurInnen auswählte, die ein breites Friedenskonzept teilten: Nicht die Abwesenheit von Krieg sei ausschlaggebend, sondern die Qualität dieses Friedens, wobei unter anderem die Achtung der Menschenrechte als Indikator für diese Qualität verwendet wurde. Da die Menschenrechte erst 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als universell deklariert

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