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Ungeplant planlos
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Ungeplant planlos

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About this ebook

Ich bin eine Spießerin. Pläne, Ordnung und Sauberkeit gehören ebenso zu mir wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Dafür bezahle ich mit Freiheit und ausgelassenem Spaß, denn das sehen Zeitpläne nicht vor.
Ich dachte immer, so bin ich eben und muss mich mit der Einsamkeit abfinden, solange sich kein Mann als Ergänzung für mein Leben findet, der meine Sorgfalt mit mir teilt.
Und dann kommt Juliana. Unpünktlich, unordentlich, chaotisch und auffällig. Alles, was ich ablehne, vereint sie in sich. Aber sie ergänzt das Negative mit dem, was ich ersehne: Lebensfreude, Spontanität und Albernheit.

Und sie reizt mich auf eine Weise, auf die ich von keiner Frau gereizt werden möchte. Anders zu sein, abnormal zu sein, sehen meine Pläne nämlich auch nicht vor.
LanguageDeutsch
Release dateJun 4, 2018
ISBN9783752838299
Ungeplant planlos
Author

Sabine Schubert

"Der Inhalt eines Buches muss nicht real sein (können), solange er in unserem Kopf Wirklichkeit wird." Sabine Schubert wurde 1984 in Leipzig geboren und war nach der Ausbildung in der Versicherungswirtschaft zu Hause. Das Aufschreiben von Träumen und Gedanken verfolgt sie schon seit der Jugend. Irgendwann wurden ganze Geschichten daraus. Wie sie hofft, bringen diese Geschichten nicht nur ihr etwas Abwechslung. Einmal für eine Weile aus dem grauen Alltag ausbrechen und mit Einhörnern spielen ... Mit den Charakteren eines Buches auch Stärke im eigenen Herzen finden, um die Realität zu bezwingen wie ein fieses Monster ... Das wünscht sie jedem Leser.

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    Book preview

    Ungeplant planlos - Sabine Schubert

    Inhaltsverzeichnis

    Erinnerungen

    Wendung

    Chaos

    Er & Sie & Ich

    Entscheidungen

    Erinnerungen

    Meine Mutter sagte mal zu mir: „Folge deinem Herzen nur so weit, wie es dein Verstand ertragen kann."

    Dieser Satz verfolgt mich seit meinem ersten Schwarm. Er war ein Idiot, aber solche Geschichten kann wohl jeder zum Besten geben. Ich war damals Zwölf und verliebt bis über beide Ohren. In meinen Träumen läuteten schon die Hochzeitsglocken, ich sah ein kleines Häuschen mit weißem Gartenzaun und eine Kinderschar. Wie sollte es anders sein ... Es betraf den Schwarm der ganzen Schule. Alle Mädchen aus meiner Klasse waren hinter ihm her. Aber wie die Jungen in dem Alter eben sind, er hasste alle Mädchen und wollte nichts mit mir zu schaffen haben. Nicht mal den Schulweg mochte er mit mir gehen, dabei wohnte er nur zwei Häuser weiter.

    Na ja, das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Wem nicht wenigstens einmal das Herz bricht, der hat keines. Ich war damals am Boden zerstört und glaubte, die Welt würde untergehen. Ich traute mich kaum noch in die Schule. Alle wussten von dem Liebesbrief, den ich ihm geschrieben hatte. Er hatte es allen vorgelesen und mich die ganze Klasse ausgelacht. Und trotz Betteln und Flehen schickten mich meine Eltern selbstverständlich in die Schule. Ich habe an dem Morgen tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, ganz weit und für immer wegzulaufen. Aber der Satz zum Abschied, den mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, hallte mit ihrer sanften Stimme immer wieder durch meinen Kopf. An dem Tag, an dem ich den Brief geschrieben habe, war mein Herz eindeutig stärker als mein Verstand. Der Kerl hatte mir deutlich genug gesagt, dass er kein Interesse hatte. Hätte ich mein Hirn benutzt, dann hätte ich gewusst, dass ein Brief rein gar nichts daran ändern würde. Na ja, eine der vielen Erfahrungen, die uns zu dem machen, was wir sind.

    Heute bin ich Zweiunddreißig und stehe kurz vor einem Wiedersehen mit eben diesem Jungen. Vor zwei Monaten kam eine Einladung zum Klassentreffen ins Haus geflattert. Ich weiß zwar nicht, ob Thomas überhaupt kommt, aber ich freue mich, ihn und die anderen wiederzusehen. Vor zwanzig Jahren habe ich ein oder zwei Tage Spott ertragen müssen und viel geweint, dann war es vergessen und der Nächste stand im spöttischen Rampenlicht. Ich habe nie wieder einen solchen Brief geschrieben.

    Vermutlich ist das der Grund, warum niemand zu Hause auf mich wartet. Mit Beuteln beladen komme ich von der Arbeit heim in eine stille und kalte Wohnung. Nirgends brennt Licht, niemand hat die Heizung für den Abend aufgedreht. Nur Henry ist da und maunzt um meine Beine herum. Ich frage mich, wieso er nicht warten kann, bis ich mich ausgezogen und die Einkäufe abgestellt habe. In umgekehrter Reihenfolge natürlich. Zuerst stelle ich die Einkäufe ab, dann ziehe ich die dicke Jacke aus und schenke Henry ein flüchtiges Streicheln.

    „Ja, mein Kleiner. Ich bin ja wieder da."

    Ich rede mit ihm, damit ich vor mir selbst rechtfertigen kann, dass ich keine Selbstgespräche führe. Das wäre erbärmlich.

    Es ist Freitag, das heißt, es gibt einen besonderen Einkauf. Auf dem Weg vom Büro nach Hause komme ich am Wochenmarkt vorbei. Ortsansässige Bauern verkaufen ihr Gemüse, Fleisch, Eier und so weiter. Mit drei überquellenden Beuteln muss ich mir wieder etwas einfallen lassen, wo ich das alles verstauen soll. Wie jede Woche habe ich mehr gekauft, als ich überhaupt unterbringen kann. Die Eier und die frische Milch wandern mit dem Fleisch und der Wurst in den Kühlschrank, aber dann ... Ich habe eindeutig zu viel Gemüse gekauft. Das meiste Obst kann ich in der schönen Schale drapieren, die meine Großmutter mir gekauft hat.

    Diese Frau ist unverbesserlich. Da mache ich mir mit ihr einen schönen Tag in der Stadt, weil ich ihr eine Freude machen will, und sie kauft mir die teuerste Schale, die man sich vorstellen kann. Wir bummelten gemütlich durch die Innenstadt, haben die Schaufenster bewundert und waren in dem ein oder anderen Laden drin. Zum Mittag habe ich sie in ihr Lieblingsrestaurant eingeladen und zum Kaffee lud sie mich zu Kuchen ein. In einem der vielen Schaufenster an diesem Tag habe ich eine wunderschöne Glasschale gesehen. Sie war nicht einfach rund und durchsichtig, sondern blau eingefärbt. Das Blau zog sich in Schleiern durch das Glas, als hätte man Lebensmittelfarbe in einen plätschernden Gebirgsbach gegossen. Die Form ist schwer zu beschreiben. Am besten drückt es das Wort unförmig aus. Der Rand endet rundherum in unregelmäßigen, tropfenförmigen Auswölbungen. Ich fand sie damals wunderschön und finde sie noch heute traumhaft.

    Bei dem Stadtbummel habe ich zu meiner Oma gesagt, ich würde nie in meinem Leben über dreihundert Euro für eine Schale bezahlen! Da kann sie noch so schön sein! Und einen Monat später bekam ich sie von meiner Oma zum Geburtstag. Ich wäre beinahe umgekippt! Ich musste ihr versprechen, sie nicht verstauben zu lassen. Ich soll sie benutzen, auch auf die Gefahr hin, dass sie kaputtgeht, und jedes Mal an meine Oma denken. Seither steht sie auf dem Tresen, der die offene Küche vom Wohnzimmer trennt. Und jeden Freitag landet das Obst darin und ich denke bei jeder Kirsche, jeder Weinbeere, jedem Apfel an meine Oma.

    Heute weiß ich, dass sie damals die Krebsdiagnose schon hatte. Drei Monate nach meinem Geburtstag starb sie. Überraschend für meine Mutter und mich, weil meine Oma niemandem davon erzählt hat. Ihr Arzt hatte uns dann nach ihrem Tod aufgeklärt.

    „Ach Omi.", seufze ich leise, als ich mir gleich eine Pflaume nehme. Sie hat die Schale noch hier stehen sehen, das beruhigt mich irgendwie. Ich hatte sie zum Kaffee in meine Wohnung eingeladen und da es Samstag war, war die Schale prall mit Obst gefüllt gewesen. Sie hat sich wahnsinnig darüber gefreut und gesagt, ich sei ihr jeden Cent wert. Und jetzt, drei Jahre später, finde ich die Schale noch genauso schön wie damals im Schaufenster.

    Neben der Schale habe ich die Post abgelegt. Als die Einkäufe mehr oder weniger gut verstaut sind, kann ich mir die Briefe vornehmen. Henry erinnert mich daran, dass die Post warten muss.

    „Ist ja gut.", lache ich und hebe ihn hinauf in meine Arme. Er schmiegt sich in meine Umarmung, als wüsste er, dass ich genau das jetzt brauche. Die Nähe zu einem Lebewesen, das mir etwas bedeutet.

    „Du hast Hunger, was?"

    Und da ich meinen Kater liebe, kann ich das natürlich nicht zulassen und gebe ihm sein Futter. Auch mein Magen sagt, es ist an der Zeit, etwas zu essen. Gemüse hab ich ja genug, also ist es die perfekte Zeit für eine Gemüse-Quiche. Positiver Nebeneffekt: Ich habe wieder Platz in meinen Schalen.

    Zum Essen sitze ich meistens am Couchtisch, der Fernseher dudelt im Hintergrund, der Laptop vor mir wartet darauf, ob ich ihn brauche, und ich öffne die Post des Tages. Henry liegt neben mir auf der Couch. Statt auf seinem Kissen, das ich ihm extra gekauft habe, liegt er neben mir, ganz dicht an meinem Bein, und putzt sich.

    Mir wird mal wieder bewusst, wie alt ich bin. Das Klassentreffen ist morgen, da kommen Erinnerungen auf. Erinnerungen an meine Pläne und Träume von früher. Erreicht habe ich nicht viel. Immer noch Single, immer noch Mieter einer Wohnung und zu alt, um noch auf viel zu hoffen. Woher sollte auch jemand kommen? Meine einzigen sozialen Kontakte beschränken sich auf meine Arbeit und sporadischen Kontakt zu Freunden in sozialen Netzwerken. Heute hab ich mal wieder eine Nachricht von einer Freundin, die ich im Urlaub kennengelernt habe. Seit zwei Jahren schreiben wir uns in langen Abständen. Ich habe keine Lust, ihr zu schreiben, dass es nichts zu schreiben gibt. Was passiert denn in meinem Leben? Ich stehe auf, gehe zur Arbeit, komme heim, schlafe allein und fahre dann wieder zur Arbeit. Mehr hat mein Leben offenbar nicht vorgesehen.

    Ich bin hundemüde und beende nach dem Essen meinen Tag. Schnell duschen und die Tasche für morgen packen, das muss genügen. Innerhalb von fünf Minuten bin ich eingeschlafen, als hätte ich einen besonders anstrengenden Tag hinter mir, dabei war es ein ganz normaler Arbeitstag.

    Ich fühle eine Müdigkeit in mir, die eher auf eine Achtzigjährige deuten lässt. Die kleinsten Anstrengungen sind mir zu viel. Es fühlt sich an, als hätte ich keine Kraft mehr. Meine Arbeit macht mir Spaß, aber sie schafft mich auch. Mehr als früher. Ich muss einsehen, ich fühle mich alt. Nicht so alt wie kurz vor der Rente, wenn Gevatter Tod schon in Sichtweite rückt. Eher wie betäubt. Der immer gleiche Ablauf und die Ödnis in meinem Leben lähmen mich. Ich finde nicht mal genug Kraft in mir, um am Wochenende auszugehen. Es ruft mich nicht wie in der Jugend in die Diskothek, sondern in eine Bar zu einem gemütlichen Drink, vielleicht ein Konzert oder irgendwas. Immer mal wieder sehe ich Anzeigen oder Werbetafeln, bei denen ich denke, da könnte ich mal hingehen. Es würde mir sicher gefallen, aber wenn es dann so weit ist, entscheide ich mich doch dagegen und gehe früh schlafen.

    Meine Samstage verbringe ich mit Haushalt, was eben sein muss, und die Sonntage meist mit Nichts auf der Couch. Ein Buch, der Fernseher, eine DVD – das ist alles, was ich in meiner freien Zeit zustande bringe.

    Wann hatte ich das letzte Mal Urlaub? Ist gar nicht so lange her, aber weggefahren bin ich nicht. Wohin auch? Allein! Ich war zu Hause, hab es immerhin mal bis in den Park zur Eisdiele geschafft, das war dann der Höhepunkt. Ich habe einfach nichts, worauf ich mich freuen könnte. Niemand, der mich erwarten und im Herzen nach Hause rufen würde, aber auch niemanden, der mit mir die Freuden des Lebens genießt. Meine Kleidung und alles, was sonst noch nötig ist, bestelle ich im Internet. Neben den Lebensmitteln, Toilettenpapier und Waschmittel kaufe ich nichts mehr im Laden. Das heißt, meine letzte Shoppingtour dürfte einige Jahre her sein. Und wieso? Weil ich mir blöd vorkomme, allein loszugehen.

    Das Gute ist, dass ich tief und fest schlafe. Und lange.

    Dass mein Wecker zum Samstagmorgen schon um acht Uhr klingelt, ist wirklich eine Seltenheit. Wieso zeitig aufstehen, wenn nichts und niemand auf einen wartet? Das macht es schwer, wenn dann doch mal etwas ansteht.

    Wie ich befürchtet hatte, löst das metallische Rasseln des zweiten Weckers in mir den Wunsch aus, das Klassentreffen sausen zu lassen. Ich hätte nichts dagegen, den Wecker auszumachen, mich umzudrehen und weiterzuschlafen bis zum Montagmorgen.

    Aber!!! Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, genau das nicht zuzulassen!

    Mein erster Wecker spielt eine leise und süße Melodie. Die baue ich manchmal unbewusst in meine Träume ein und wache nicht auf davon, deshalb war ein zweiter Wecker unumgänglich, der so penetrant und laut klingelt, dass ich auf jeden Fall davon wach werde. Henry mag den überhaupt nicht und faucht jedes Mal beim ersten Ton. Schiebe ich dann den Kopf unters Kissen und versuche, das Rasseln zu überhören, klettert Henry auf mir herum, bis ich wach bin und den Wecker ausstelle. Bisher hat das immer wunderbar funktioniert. So auch an diesem Samstag, der mich aus meiner Einsiedelei befreien soll. Wenigstens mal für ein Wochenende.

    Ein gutes Frühstück besteht für mich aus zwei Tassen Kaffee, einem Glas Fruchtsaft und der Zeitung. Marcus, der Junge aus der Wohnung nebenan, muss seinen Eltern am Wochenende immer die Zeitung hochholen und bringt meine gleich mit. Sie liegt vor meiner Wohnungstür auf der Fußmatte. Dafür helfe ich ihm, wenn er in der Schule Schwierigkeiten hat. Seit er neben mir wohnt, hat sich sein Notendurchschnitt von Vier, Tendenz zur Fünf, auf eine gute Drei verbessert. Da geht noch mehr, das weiß ich, aber es ist besser, langsam aufzuarbeiten, damit er es versteht und verinnerlicht. Das sieht auch seine Mutter ein und wollte mir Geld für die Nachhilfe andrehen. Ich habe damals abgelehnt und werde immer wieder ablehnen. Samstagnachmittags gehöre ich Marcus – der einzige soziale Kontakt abseits des Büros. Außer diese Woche, denn da bin ich schon weg.

    Zumindest habe ich vor, dann schon weg zu sein, aber wenn ich nicht bald fertigwerde, verpasse ich meinen Zug.

    Jeder, der mich kennt, weiß, dass das absoluter Unsinn ist. Mein Zug fährt zehn Minuten nach zehn Uhr. Von meiner Wohnung zur Straßenbahn sind es fünf Minuten. Die Straßenbahn fährt zehn Minuten bis zum Bahnhof. Zwischen Straßenbahn und Bahnhof liegen auch nur knapp fünf Minuten Fußweg. Daraus ergibt sich für mich, dass ich spätestens neun Uhr die Tür meiner Wohnung verschließe. Eigentlich bin ich gut in Mathematik und im allgemeinen Umgang mit Zahlen. Aber wenn ich irgendwohin will, dann runde ich sehr großzügig. Rund zehn Uhr fährt der Zug (zehn Minuten zur Sicherheit), eine Viertelstunde bis zur Straßenbahn (zehn Minuten zur Sicherheit), eine Viertelstunde Fahrt (fünf Minuten zur Sicherheit), eine Viertelstunde Fußweg zum Bahnhof (noch mal zehn Minuten zur Sicherheit). Und dann noch eine Viertelstunde als offizielle Sicherheit, falls die Straßenbahn ausfällt oder Verspätung hat oder ich noch mal auf Toilette muss oder oder oder. Ich hasse es, zu spät zu kommen. Da nehme ich lieber in Kauf, auf dem Bahnhof eine dreiviertel Stunde rumzustehen und einen Kaffee im Pappbecher zu trinken.

    Es ist kalt. Sehr kalt. Der März zeigt seine winterliche Seite. Auf den langen Bahnsteigen pfeift der eisige Wind und treibt die Menschen ins Innere des Bahnhofgebäudes. Oder in ihre Betten. Meines ruft mit kuscheligen Federkissen nach mir. Aber nun stehe ich einmal hier, die Fahrkarte ist bezahlt und ich habe keine Lust, im Nachhinein zu sagen, ich sei umsonst – für gar nichts – überhaupt erst mal aufgestanden.

    Der Zug fährt knapp zehn Minuten vor der geplanten Abfahrt ein. Die Strecke endet hier und der Zug fährt wieder zurück. Das heißt, alle Fahrgäste steigen an dieser Stelle aus, sonst würden sie ja wieder zu ihrem Startpunkt zurückfahren. Da zeigt sich dann, wie dämlich die Menschheit doch sein kann. Die neuen Passagiere drängen sich an den Türen des Zugs und lassen den Aussteigenden keine Möglichkeit, den Zug zu verlassen und sich von der Tür zu entfernen. Was für ein Unsinn. Würden die alle etwas mehr Platz lassen, würde das Aussteigen schneller gehen und demzufolge könnten wir auch eher einsteigen. Na ja, ich beobachte es, schüttele den Kopf und versuche, es zu ignorieren und zu vergessen. Ich bin nicht in der Stellung, irgendetwas an diesem Irrsinn zu ändern.

    Ich selbst gebe mich dem Gedränge aber nicht hin. Gemütlich stehe ich abseits der Türen, schlürfe den letzten Rest Kaffee aus meinem Becher und werfe ihn weg. Erst wenn alle anderen Fahrgäste eingestiegen sind, steige ich in Ruhe nach. Dann habe ich immer noch genügend Zeit, meinen Platz zu suchen und mich hinzusetzen, ehe die Fahrt beginnt.

    Ich reserviere generell einen Sitzplatz, wenn ich längere Strecken zurücklegen möchte. Die Gefahr, drei oder vier Stunden stehen zu müssen, ist mir einfach zu hoch. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann hoffe ich jedes Mal aufs Neue, dass sich jemand auf meinen reservierten Platz gesetzt hat. Die Reservierungen stehen ja an den Sitzen, damit genau das eben nicht passiert, aber über die Dummheit vieler Menschen rege ich mich nicht mehr auf. Ich versuche es wenigstens. Außerdem werden die Reservierungen der neuen Strecke erst aufgezeigt, während der Zug schon im Bahnhof steht und die Meute sich in die Abteile drängt. Wer also zu hastig einsteigt, übersieht die Reservierungen. Als ich den langen Gang entlanglaufe und meine Platznummer suche, leuchten die Reservierungen bereits auf.

    Meistens klappt es. Auf meinem Platz sitzt ein Mann, um die Fünfzig, und daneben vermutlich seine Frau. Sie richten sich gerade ein, die Jacken hängen schon an den Haken, die Frau packt ein Buch aus, der Mann ein Handy und eine kleine Flasche Wasser. Ich bleibe neben ihnen stehen, prüfe noch einmal gemächlich die Platznummer und setze dann ein äußerlich freundliches Lächeln auf. Innerlich ist es ein Triumph für mich, denn diese beiden standen ganz vorn an der Tür und sind schon eingestiegen, während noch nicht mal alle Fahrgäste ausgestiegen waren. Hätten die sich dazu hinreißen lassen, das Einsteigen mit Geduld und Rücksicht ablaufen zu lassen, hätten sie die Reservierung gesehen.

    „Entschuldigung?, bitte ich und die beiden sehen zu mir auf. Ich zeige direkt auf den Mann am Fenster. „Diesen Platz habe ich reserviert.

    „Da steht nichts dran.", bekomme ich nur knapp zur Antwort und freue mich, ihm widersprechen zu dürfen.

    „Doch. Reserviert." Mein Finger tippt genau an die leuchtende Schrift, die mich bestätigt. Das kann der Mann natürlich nicht sehen.

    „Alles andere ist voll.", stellt die Frau erschrocken fest.

    „Genau deshalb habe ich reserviert." Mir war von vornherein bewusst, dass zum Samstagvormittag der Zug überfüllt sein würde. Wer unbedingt sitzen will, wird sich die Reservierung erlauben müssen.

    Gerade schiebt sich aus der anderen Richtung eine Frau durch den Gang. Wenn die jetzt gleich hier an mir vorbei will, werde ich mich vermutlich auf den Schoß des alten Mannes auf der anderen Seite des schmalen Ganges setzen müssen, um sie durchzulassen.

    Auch die Fremde sucht an den Sitzzahlen, also hat sie ebenso reserviert, denke ich mir. Es dauert nur noch wenige Sekunden, während ich warte, dass mein Platz geräumt wird, da ist die Fremde auch schon bei mir. Sie ignoriert mich allerdings und funkelt die Frau auf dem Sitz neben meinem herausfordernd an.

    „Sie sitzen auf meinem Platz.", stellt sie fest. Nicht barsch oder kaltherzig, aber entschlossen. Ich hatte einen überfreundlichen Ton angeschlagen, um meinen Triumph auszukosten. Die Fremde macht das etwas anders und bekommt prompt die Retourkutsche.

    „Wir sind ja schon dabei!", raunzt der Mann auf meinem Platz. Die beiden müssen erst mal alles wieder einpacken.

    Als sie es endlich geschafft haben, prüft der Mann noch mal, ob die Plätze wirklich reserviert sind, doch die Leuchtschrift der Anzeigetafel bestätigt uns. Murrend und fluchend ziehen sie von dannen und ich kann es nicht vermeiden, mir liegt ein Grinsen auf den Lippen. Jetzt, da alle Passagiere eingestiegen sind und der Zug just in diesem Moment losfährt, dürfte es schwer werden, überhaupt noch Sitzplätze zu finden. Zwei nebeneinander wären ein Wunder.

    Die Fremde, die da eben gekommen ist, wirft ihre Umhängetasche auf die Ablage über den Sitzen und will sich setzen, doch ich halte sie auf.

    „Darf ich?, bitte ich immer noch sehr freundlich. „Ich habe den Fensterplatz reserviert.

    „Den will ich ihnen auch nicht streitig machen.", lächelt sie und klingt auf einmal gar nicht mehr so herausfordernd. Es ist ein freundliches und herzliches Lächeln. Sie drängelt auch nicht, als ich erst noch meine Jacke ausziehe, bevor ich mich in die engen Sitze schiebe.

    Ehe sie dann ebenfalls endlich sitzt, wir alles gerichtet haben und uns entspannt zurücklehnen, haben wir das weitläufige Bahnhofsgelände mit den dutzenden parallelen Schienenpaaren schon beinahe verlassen.

    „Ach ja ..., seufzt sie genüsslich. „Wie schön es ist, auf so langen Strecken sitzen zu können.

    Ohne es zu wollen, steigt mir ein leises Glucksen aus der Kehle. „Sehr angenehm.", bestätige ich amüsiert. Sie hat den Sieg offenbar genauso genossen wie ich, nur auf einem anderen Weg.

    Mit einem zauberhaft niedlichen Lächeln reicht sie mir die Hand. „Juliana."

    „Marlene.", erwidere ich gern. Was sich meine Eltern bei dem Namen gedacht haben, weiß ich nicht. Man spricht bei vollem Namen das letzte E nicht mit. Die meisten nennen mich allerdings Lene oder Lenchen. Und ganz viele eben auch mit vollem Namen inklusive dem letzten E. Nur meine Mutter nennt mich Marle. Ich hasse es, weil es klingt wie eine Partnerin für Henry. Aber na ja, was soll ich machen? Bei neuen Bekanntschaften, wie Juliana, stelle ich mich wenigstens mit der richtigen Aussprache vor und hoffe, sie merken es sich, solange es von Bedeutung ist. Am Ende dieser Zugfahrt ist es für Juliana sowieso egal.

    In meiner Handtasche finde ich neben dem allgemein nötigen Inhalt jeder Frauenhandtasche, auch ein Buch. Ich habe vor, dreieinhalb Stunden im Zug zu sitzen, da gehört ein Buch für mich dazu. Und auch heute Abend, wenn ich allein im Hotel sitze, habe ich die Möglichkeit, mir eine Flasche Wein aufzumachen und gemütlich das Buch zu lesen, falls sich keine bessere Alternative bietet.

    Ich hätte mir das zusätzliche Gewicht sparen können. Juliana packt eine Tüte Gummibärchen aus und bietet mir eines an. Ich greife gern zu und ehe ich es mich versehe, stecken wir in einer gemütlichen Unterhaltung. Angefangen hat es mit der gestörten Platzreservierung, gefolgt von Gummibärchen und dann ... Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Als wir dreieinhalb Stunden später anfangen, unsere Sachen zusammenzupacken, haben wir die Sinnlosigkeit von Monarchien ebenso gestreift wie die Interpretationen von Kandinskys Bildern und Megabauten wie den Eiffelturm oder die Freiheitsstatue. Warum? Wieso? Woher? Ich werde nie in der Lage sein, es zu beantworten, so sehr ich auch darüber nachdenke. Unterm Strich ist es auch egal, denn eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Ich habe die Fahrt in vollen Zügen genossen. Keine Ahnung, ob es an Juliana selbst liegt oder an der Tatsache, dass sie der erste persönliche Kontakt abseits der Arbeit seit einigen Wochen ist. Letztendlich ist es mir völlig egal. Ich habe viel gelacht während der letzten Stunden und werde mit bombastisch guter Laune zu dem Klassentreffen kommen.

    In der Einladung steht, wir werden in einem Hotel erwartet. Im großen Saal findet am frühen Abend das Klassentreffen statt. Es hat aber niemand etwas gegen Gespräche vor diesem Zeitpunkt.

    In der Rückmeldung, mit der ich mein Kommen bestätigte, habe ich auch um ein Zimmer im Hotel gebeten. Da der ganze Jahrgang anreisen soll, bekommen wir Vorzugspreise. Antje, eine ehemalige Klassenkameradin von mir, hat sich um alles gekümmert und die Preise mit dem Hotel ausgehandelt. Das Angebot dazu steht mit in der Einladung. Ich weiß jetzt schon, dass ich so spät keine Lust habe, mich noch mal über drei Stunden in den Zug zu setzen, daher habe ich um das Zimmer gebeten und es wurde eines auf meinen Namen reserviert.

    Antje hat uns in ein sehr schönes Hotel mitten im Harz eingeladen. Nach der angenehmen Zugfahrt fahre ich noch ein Stück mit einer kleinen Eisenbahn, dann wartet schon ein großes Auto auf mich. Ein Angestellter des Hotels holt die Gäste ab, die mit diesem Zug ankommen. Er hält ein großes Schild über seinen Kopf, auf dem der Name des Hotels steht. Kein handgeschriebenes Papierplakat,

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